flog ich bei meiner Suche nach Japan. Dort brachte mich ein Esperanto-Freund einmal in ein Zen-Kloster in die Berge. Ich verbrachte dort knapp einen Monat. Die ersten drei Tage musste ich in einem von Bambusstangen umfassten Feld von etwa drei Quadratmetern essen und schlafen. Von drei Uhr morgens bis zehn Uhr abends verbrachte ich die Zeit zwischen Meditationskissen im Vorraum der Meditationshalle und in meinem Bambusviereck. Neuankömmlingen war es nicht gestattet, gemeinsam mit den Mönchen zu üben. Deren innere Unruhe sollte die Mönche nicht stören. Voller Frustration und wütend ging ich nach Ablauf der Zeit zum Abt und klagte darüber, dass ich nicht wüsste, warum ich seit Jahren in diese Übung meine ganze Freizeit steckte. Der Abt, sein Name war Ekai San, meinte nur: „Dieser Moment jetzt ist wirklich alles“, und forderte mich auf, meine Arbeit zu machen. Dieser Satz war für mich völlig unerwartet und traf mich mitten ins Herz. Ich ging weg, um die Petroleumlampen zu reinigen, denn es gab dort keinen Strom. Beim Reinigen erlebte ich erstmals in meinem Leben, dass nicht ich, sondern das ‚Eine Ganze‘ die Lampen putzte. Als ich aufschaute erstrahlte der Wald um mich herum in einer eigenartig zu Herzen gehenden Schönheit. Ich hatte nie gesehen, wie die Natur so aus sich heraus leuchtete, und ich erlebte mich darin so eingebettet. Wie lange ich mit der Lampe in der Hand gebannt dastand, weiß ich nicht. Tränen liefen mir über das Gesicht, als ich zum Abt ging und reden wollte. Aber ich brachte keinen Satz heraus. Der Abt schmunzelte nur und meinte: „Es braucht nichts, damit alles erscheint.“
Heute weiß ich, dass es kein Ende von spiritueller Entwicklung gibt und dass diese Erfahrung nur der Anfang war, der mir die Zweifel daran, warum ich meditiere, nahm.
Unentwegt in Bewegung bleiben
Immer wieder das so Nahe
Aber auch so Unfassbare suchen
Damit es aufleuchten kann
In einem Staubkorn
Während du den Boden wischst68
Oft aber kommt es anders. Fast das ganze Leben vergeht, bis erst eine Krankheit im Angesicht des Todes dazu aufruft, zu entdecken und zu leben, was man ist:
„Unter den niedrigen, schattenspendenden Tamarindenbäumen liegt Christel auf einer einfachen Liege mit einer leichten Wolldecke bedeckt und einem bequemen Kissen im Nacken. Sie hält die Augen geschlossen und scheint dem vielfältigen Gezwitscher der Vögel in den Bäumen zu lauschen. Christel ist 42 Jahre alt. Sie ist unter schwierigsten Umständen hierher auf eine der Kanarischen Inseln geflogen. Es gab Schwierigkeiten, da es lange niemanden gab, der sich zutraute, als Begleitperson mitzugehen. … Ihr Zustand? Christel hat Krebs im Endstadium. Die Arme und Beine sind so mager, dass sie Mühe hat, zu gehen und das Gleichgewicht zu halten. Der Bauch wölbt sich zu einer erschreckenden Dimension … ‚ die Metastasen, wie Christel weiß. Das Gesicht ist quittegelb und an manchen Tagen, den schlechteren Tagen, ist es auch das Weiß der Augen. … Menschen, die es wagen, sie genauer zu betrachten, sehen vielleicht eine große Schönheit und Klarheit in ihren abgezehrten Zügen. … Christel hat ihren Mann mit den drei kleinen Kindern verlassen. Wenn sie von ihnen erzählt, hat sie Tränen in den Augen. Sie sagt von sich: ‚Ich musste das tun. Ich weiß, dass das kaum jemand versteht. Ich fühle mich auch schuldig. Und trotzdem, ich hatte das Gefühl, noch mein ganz eigenes Leben leben zu müssen.’ – Wenn Christel redet, spricht sie knapp und genau, und man hat das Gefühl, dass jedes Wort aus einer vertieften Wahrhaftigkeit kommt. Wenn es nichts Besonderes zu sagen gibt, schweigt sie. Oft sitzt sie bis tief in die Nacht hinein in eine Wolldecke gekuschelt auf ihrem Balkon und hört Musik von Mozart. Die Töne klingen einzigartig schön und unwirklich unter dem südlichen Sternenhimmel.
Zurückgekehrt von ihrem letzten Urlaub, mietet Christel sich eine leerstehende schöne Wohnung. Sie denkt nicht ans Geld, und nur wenige, einfache Möbel reichen aus. Sie ist nicht zu ihrer Familie zurückgekehrt. ‚Ich muss das tun’, sagt sie ganz klar. ‚Ich möchte noch ganz zu mir kommen und ganz ich selber werden, und dazu brauche ich viel Ruhe.’ Hin und wieder kommen die Kinder zu Besuch. – An Weihnachten will die Familie für ein bis zwei Stunden beisammen sein. Christel ist aber so erschöpft, dass der gemeinsame Abend sich auf eine knappe Stunde reduzieren muss. ‚Ich wollte Weihnachten so gerne noch erleben’, sagt sie. Dann kommen zwei Tage lang sehr starke Schmerzen. Christel kämpft, ohne Schmerzmittel auszukommen, dann nimmt sie doch Morphin. Sie ist nun ruhig und gelassen wie jemand, der alles erledigt hat. Am 28. Dezember stirbt Christel. Es ist ein schneller und leichter Übergang.“69
Für einen leichten Übergang empfiehlt Karlfried Graf Dürckheim die Beschäftigung mit fünf Bereichen:
1. Die eigenen Erfahrungen wertschätzen, weitergeben, aufschreiben
2. Die Einfachheit entdecken: spielen, ruhen, Leistung loslassen, dabei aber die Form wahren
3. Das innere Gleichgewicht finden: Konflikte klären, Kummer von der Seele reden, schreiben, malen, aber nicht jammern. Freude erleben, erinnern und wertschätzen, den Körper spüren
4. Beziehungen und Kontakte pflegen: Gemeinsam Nichtverbales tun, wie singen, Karten spielen, wandern; altersgemäße Funktion und Rolle übernehmen, wie Ruhepol sein und aus dem Leben erzählen
5. Transzendenz erleben: sich einstimmen auf die Unendlichkeit, auf Sinn und Sterben70
Genügt es also, wie im ersten Beispiel gezeigt, sich aufgerüttelt vom Tod eines Menschen darauf zu besinnen, was man vom Leben haben möchte?
Der Philosoph, Politiker und Essayist Michel Eyquem de Montaigne (1533-1592), der durch die Pestepidemien den Tod vieler vor Augen geführt bekam, hielt es für ratsam, sich durch wiederholtes Bedenken des Todes, der ohnehin unausweichlich ist, an ihn zu ‚gewöhnen’ und ihm seine Fremdheit zu nehmen:
„Man muss sich früher darauf [auf den Tod] gefasst machen. … Wär’s ein Feind, dem man ausweichen könnte, ich würde anraten, einer alten Memme ihre Waffen abzuborgen. Weil das aber nicht tunlich ist, weil er euch erhascht, ihr möget feig sein oder fliehn oder tapfer sein und Fuß halten, … so lasst uns lernen, ihm Fuß zu halten, und nicht Reißaus geben. Und, um damit anzufangen, ihm seinen großen Vorteil über uns abzugewinnen, müssen wir eine der gewöhnlichen ganz entgegengesetzten Methode einschlagen. Nehmen wir ihm das Fremde, machen wir seine Bekanntschaft, halten wir mit ihm Umgang und lassen uns nichts so oft vor den Gedanken vorbeieilen als den Tod. Halten wir ihn alle Augenblicke unserer Einbildung vor, und zwar unter allen seinen Gestalten … Sinnen auf den Tod ist Sinnen auf Freiheit.“71
Auf den Tod musste man in den Zeiten des katastrophalen epidemischen Auftretens der Pest in Europa ab Mitte des 14. Jahrhunderts immer gefasst sein. Diese Umstände führten zu einer erneuten Blüte des Memento-mori-Gedankens (lat. Memento mori – ‚Denke daran, dass du stirbst‘), der bereits Ende des 10. Jahrhunderts entstanden war. Zentral war dabei vor allem der Gedanke der Vanitas (der Vergänglichkeit), aus dem gefolgert wurde, es sei im Leben am wichtigsten, sich auf den Tod vorzubereiten. Diese Idee findet man in der bildenden Kunst jener Zeit dargestellt, aber auch in der Literatur.72
Sich mit dem Tod anzufreunden, gelingt jedoch möglicherweise erst dann, wenn das Kreisen um die Erfüllung eigener Bedürfnisse eine Erweiterung erfährt und man vor dem Angesicht der Schöpfung erkennt, so der indische Guru Nishigardata Maharaj (gest. 1981) sinngemäß, dass man ein Nichts ist. Mit dieser Erkenntnis kann sich der Geist für die Erfahrung öffnen, dass man gleichsam alles ist. Daraus können Weisheit und wahre Liebe entstehen. Erst dann hat man in der „Liebe gelebt und nicht in der Zeit.“73 Erst dann hat man richtig gelebt und den Wert des Lebens in seiner Ganzheit erfasst. Es ist die Überschreitung ichbezogener Grenzen und die tiefe Einsicht in die Vergänglichkeit allen Seins, die Einsicht, dass man irgendwann vergessen sein wird. Daher plädiert Nishigardata dafür, im Fluss des Lebens sein Leben zu leben; Selbstfürsorge, die Raum lässt für intuitive Weisheit und das Erkennen, wo die eigene Geschichte hingehen soll. Es ist der ‚alltägliche Geist‘, so der bekannte Zen-Meister Nansen auf die Frage des Mönches Jōshū nach dem richtigen Weg74. Er wird beschritten, indem wir eins nach dem anderen tun, mit Frische, mit einer Art ‚Anfänger-Geist‘, der jede Handlung neu erfährt. Sieht die Schöpfung sich selbst durch meine Augen, ist immer alles neu.
Shunryu