Karim El Souessi

Die Angst vor dem Tod überwinden


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Ohne irgendein Ende gäbe es keinen Anfang und keine Mitte, gäbe es keinen Rhythmus, keine Melodie, kein Motiv, weder Durchführung noch Finale. Ohne Tod wird der Sensenmann zahnlos. Dabei brauchen wir den Zahn der Zeit, der an uns nagt, mal fies an den Gelenken, aber wenn wir hinhören, auch mal liebevoll am Ohrläppchen. … Anstatt sich um lebensverlängernde Zusatzstoffe zu kümmern, ist das Radikalste, was wir tun können, es nicht in der Apotheke zu finden. Wir finden es in der Freude am Leben selbst.“36 Vom Radikalenfänger-Fresser zum bewussten Genießer zu werden, wie Eckard von Hirschhausen vorschlägt, wäre heute wirklich radikal.

      Aber der Tod ist allgegenwärtig. Fast 80 Millionen Menschen sterben jährlich auf der Welt. 75 Prozent der Bevölkerung atmen ihren letzten Atemzug in einem Pflegeheim oder Krankenhaus. Alle 45 Minuten bringt sich in Deutschland ein Mensch um.37

      Joan Halifax forderte in ihren Hospizkursen die Teilnehmer auf, sich zu überlegen, was das schlimmste Szenario ihres Todes wäre. Vielleicht nehmen Sie sich einmal die Zeit, sich ein solches Szenario im Detail vorzustellen, aufzuschreiben und mit anderen zu besprechen? Wenn Sie damit fertig sind, fragen Sie sich, wie Sie sich jetzt fühlen, wie sich Ihr Körper anfühlt. Was sagt Ihnen Ihr Körper bei einer solchen Vorstellung?

      Und dann nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit dafür, sich zu fragen, wie Sie sterben wollen, und spüren nach, wie sich dabei Ihr Körper anfühlt. Vielleicht finden andere Menschen Ihre persönlichen Vorstellungen gar nicht so schrecklich wie Sie selbst, vielleicht haben andere ganz unterschiedliche Wünsche und Vorstellungen? Vielleicht haben sich aber auch Ihre eigenen Vorstellungen nach der Lektüre dieses Buchs verändert?38

5Altern beginnt früher, als man denkt

      Für die meisten Menschen verläuft das Leben auf einer Zielgeraden. Je länger die Linie, desto mehr, glauben sie, haben sie gelebt und desto weniger schrecklich stellen sie sich den Endpunkt vor. Der Tod junger Menschen erfüllt uns daher mit besonderem Schrecken.

      In der indianischen Kultur dagegen wird das Leben als Kreis verstanden, der sich in der Pubertät schließt. Indianer sehen einen jungen Menschen bereits als Ganzheit an, die sich nach außen hin entfaltet. Wenn sich der Ring einmal geschlossen hat, stirbt man immer im Zustand der Vollkommenheit, egal wann der Tod eintreten mag. Ganzheit sehen sie nicht in der Dauer der gelebten Zeit, sondern in der Fülle, in der man die Ganzheit eines jeden Augenblicks erlebt. Der Indianer Crazy Horse sagte einmal: „Heute ist ein guter Tag zum Sterben, denn es gibt nichts, was meinem Leben noch fehlt.“39

      Haftet man nicht am Leben, macht es keinen Unterschied, ob das Leben kurz oder lang ist (Dschuang Zse, taoistischer Philosoph), denn das Schicksal wendet sich so schnell, wie ein Pferdeschweif wedelt (Buddha).

      Der in den 50er Jahren bekannte katholische Religionsphilosoph und Priester Romano Guardini (1885-1968) beklagte schon zu seiner Zeit, dass die Gewichtung unserer Existenz zu sehr „nur im jugendkräftigen Zustand“ liege, dass der Tod ausgeblendet und nur noch als „ein bloßes Negativum“ gesehen werde … Dadurch habe der Tod keinen positiven Wertakzent mehr. Man betrachte ihn nur noch als bloßes „Aufhören“, das dazu noch unter furchterregenden Umständen vor sich geht und, aus dem Blickfeld verdrängt, uns unvorbereitet trifft. Zwischen dem Tod und dem vorausgehenden Leben bestehe keine Verbindung mehr. Der Tod komme also von außen auf den Menschen zu und die Symptome, mit denen er sich in der Phase des hohen Alters ankündigt, würden nicht in den Zusammenhang des Daseins einbezogen, sondern nur erduldet.40

      Die Beobachtungen Guardinis sind aktueller denn je, denn die Ignoranz des Sterbens und des Todes begegnet uns in der heutigen Zeit in noch stärkerem Umfang. Eine Gesellschaft, die den Tod verdrängt, so Eckhart Tolle41, muss in die Oberflächlichkeit absinken. Und das ist mittlerweile nicht nur im Westen, sondern zunehmend auf der ganzen Welt der Fall.

      Wie aber sollte man das Leben sehen? Eine Geschichte gibt uns die folgende Antwort:

      „Ein alter Chinese soll einmal auf seinem Weg ein junges, hübsches Mädchen getroffen haben. Er blieb stehen, schaute es an, verbeugte sich und fragte: ‚Wie alt bist du, mein schönes Kind?’ ‚Ich bin 17 Jahre, mein Herr.’ ‚Du bist schön und du wirst viel Freude im Leben haben. Aber sei nicht traurig, dass die Jahre schnell vergehen und mit ihnen deine Jugendschönheit. Wenn du aus der Güte lebst, wirst du im Alter schön sein in der Reife und in der Würde deiner weißen Haare.’ Das Mädchen verstand, verbeugte sich noch tiefer vor dem Alten und ein jeder ging seines Weges.

      Ein anderes Mal traf der Alte eine schöne Frau, die ein Kind an der Hand führte. Er begrüßte sie und sagte: ‚Es ist ein schöner Tag heute, so schön wie dein freundliches Antlitz. Du stehst auf dem Gipfel deiner körperlichen Reife. Sicherlich hast du die 30 überschritten. Es sind nur noch so viele oder wenige Jahre und du wirst das Ziel deiner Wanderung erreicht haben. Lebe jeden Tag bewusst und dankbar und mit dem Willen, über dich selbst hinauszuwachsen zur vollen Reife und Beglückung des Alters. Dann werden deine Kinder und Kindeskinder und die Nachbarn in Ehrfurcht zu dir aufblicken und deinen Worten lauschen.’

      Dann begegnete der weise, alte Mann einer weißhaarigen Frau, die auf einer Bank saß und in die untergehende Sonne schaute. Ihr Gesicht war von Runzeln durchfurcht, der Mund zahnlos. Der alte Mann blieb stehen und verbeugte sich vor der Greisin, so tief er konnte. ‚Ich beglückwünsche euch. Ihr seid am Ende eures Weges und habt das Ziel erreicht. Ihr tragt die Fülle des in 80 Jahren Erlebten in euch. Von euch strahlt Ruhe, Gelassenheit, Güte, Duldsamkeit, Weisheit und Würde aus. Weil ihr über euch hinausgewachsen seid, sind jetzt eure geringen Handlungen und eure wenigen Worte ähnlich den Zeichen des Himmels.’ Er setzte sich zu ihr auf die Bank und schaute mit ihr in die untergehende Sonne.“42

      Pater AMA Samy erzählte in einem seiner Vorträge von einem chinesischen Kaiser, der alle Philosophen des Landes gefragt haben soll, was das Leben sei. Nachdem viel Zeit verstrichen war, brachten sie unzählige Bücher auf sechs Kamelen, die der Kaiser las und las, bis er ein hohes Alter erreicht hatte und feststellen musste, dass noch immer die Bücher von drei Kamelen nicht gelesen waren. Er bat die Philosophen, eine Zusammenfassung zu machen, damit er sie zu Ende lesen konnte. Doch auch die Zusammenfassung war noch so umfangreich, dass er, auf dem Sterbebett liegend, noch immer nicht alles gelesen hatte. In den letzten Tagen seines Lebens bat er um eine noch kürzere Zusammenfassung, worauf die Philosophen empfahlen, einen Zen-Meister zu Rate zu ziehen. Dieser eilte schließlich gerade noch rechtzeitig herbei. Auf die Frage des Kaisers: „Was ist das Leben?“ antwortete er: „Geburt, Alter und Tod“. Nach diesen Worten soll der Kaiser still eingeschlafen sein.43

      „Wir glauben und halten fest an unserem Leben, weil wir davon ausgehen, dass sich unser Leben zwischen Geburt und Tod erstreckt. Wir glauben, dass wir während dieser Zeit leben und danach nicht mehr oder in anderer Form. Aber es wäre eine falsche Auffassung zu meinen, unser Leben beginne mit dem Augenblick unserer Geburt und es ende im Augenblick unseres Todes. Während einer sogenannten Lebensspanne gibt es Millionen Geburten und Millionen Tode. Tagtäglich sterben in unserem Körper Zellen – Gehirnzellen, Hautzellen, Blutzellen und viele, viele andere mehr und neue bilden sich. Selbst wenn Sie den Austausch Ihrer Zellen kaum mitbekommen, sind Sie nach kurzer Zeit nicht mehr der, der Sie einmal waren. Auch die Sonnensysteme, unser Sonnensystem, unser Planet sind Körper, die sich unaufhörlich wandeln. Wir und unsere Körperzellen sind nur Zellen dieses Ganzen. Müssen wir jedes Mal weinen, wenn eine Zelle unseres Körpers stirbt? Der Tod ist notwendig, damit Leben in anderer Form sein kann. … Wir lieben dieses eine Leben und wollen es ganz festhalten. Wir fürchten den Tod und wollen uns vor ihm verstecken. Dadurch schaffen wir uns großen Kummer und große Sorgen, doch dies rührt einzig und allein von unserer Auffassung von einer [festen und begrenzten] Lebensspanne“, schrieb der Zen-Mönch Thich Nhat Hanh.44

      Der Missionar St. Bonifaz wurde bei einer Unterredung mit dem englischen König, die bis spät in die Nacht dauerte, gefragt, was das Christentum über die Zeit nach dem Tod zu sagen habe. In diesem Augenblick flog ein Vogel durch ein Fenster des Saales, setzte sich kurz auf den Leuchter in der Mitte des Raumes und flog zu einem anderen Fenster wieder hinaus. Bonifaz sagte daraufhin, dass es sich mit der Lebensspanne ebenso verhalte. Sie sei nur ein kurzer Abschnitt in der Zeit, das große