Zygmunt Bauman

Dialektik der Ordnung


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seiner Vorgesetzten so auszuführen, als beruhten sie auf eigener Überzeugung. Das gilt auch dann, wenn der Befehl ihm falsch erscheint und der Vorgesetzte trotz der Einwände des Beamten daran festhält.« Diese Verhaltensweise erfordere vom Beamten »moralische Disziplin und hochgradige Selbstverleugnung«29. Im Begriff der Ehre wird moralische Verantwortung durch Disziplin ersetzt. Die Legitimierung allein durch Geist und Buchstaben der Regeln des Apparates und, verbunden damit, die Entmachtung der autoritativen Kraft des Gewissens gelten als höchste Tugend. Unbehagen bei der praktischen Umsetzung ist nicht grundsätzlich auszuschließen, kann aber durch die Zusicherung des Vorgesetzten im Lot gehalten werden, er allein trage die Verantwortung für das Handeln des Untergebenen (solange der Befehl genau ausgeführt wird). Max Weber hob in seiner umfassenden Darstellung der Beamtenehre die »ausschließliche persönliche Verantwortung« des Vorgesetzten hervor, die dieser »nicht verweigern oder übertragen kann und darf«. Als Ohlendorf während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse gefragt wurde, warum er von seinem Posten als Leiter der Einsatzgruppe*, deren Aktionen er persönlich mißbilligte, nicht zurückgetreten sei, berief er sich auf dieses Verantwortungsprinzip: Um sich der verhaßten Verantwortung entziehen zu können, hätte er die Taten seiner Einheiten aufdecken und seine Männer »falschen Anschuldigungen« aussetzen müssen. Ohlendorf zählte andererseits auf die gleiche fürsorgliche Einstellung seitens seiner eigenen Vorgesetzten, so daß er sich entsprechend von moralischen Skrupeln entlastet fühlte – diese überließ er getrost den eigenen Befehlsgebern – »Ich glaube, ich bin nicht in der Lage zu beurteilen, ob die mir befohlenen Maßnahmen … moralisch einwandfrei waren. Gewissensfragen konnte ich mir als Soldat mit niedrigem Dienstgrad und daher als Rad in einer großen Maschinerie nicht erlauben.«30

      So wie alles, was Midas berührte, zu Gold wurde, so verwandelte die SS-Verwaltung alles, was in ihren Machtbereich geriet – einschließlich der Opfer – ihren hierarchischen Befehlsstrukturen an, in denen strenge Disziplin und moralisch gesehen ein Vakuum herrschte. Der Genozid war eine Kollektivproduktion; wie Hilberg gezeigt hat, gehörten dazu die von Deutschen begangenen Taten und die – auf deutschen Befehl, aber mit an Selbstaufgabe grenzendem Gehorsam geleistete – Mitwirkung der jüdischen Opfer. Besonders darin erweist sich die technische Überlegenheit einer zielgerichteten, rationell organisierten Massenvernichtung gegenüber ungeordnet gewalttätigen Ausschreitungen. Die Mitwirkung der Opfer eines Pogroms ist schlechterdings nicht vorstellbar. Die Unterstützung der SS-Bürokratie im Holocaust durch die Opfer war vorausgeplant und sogar eine entscheidende Voraussetzung für dessen Gelingen. »Der gesamte Prozeß hing in großem Maße von der jüdischen Mitwirkung ab – sowohl in individueller Form als auch organisiert seitens der Judenräte … die deutschen Behörden verlangten von den Judenräten Informationen, Geld, Arbeits- oder Ordnungskräfte, und diese wurden zur Verfügung gestellt.« Die Ausweitung der bürokratischen Regeln, bei der gleichzeitig jedes andere Loyalitätsverhältnis und jedes moralische Motiv zum Schaden der Opfer dieser Bürokratie kriminalisiert wurde, um sie schließlich mit deren eigener Intelligenz und Arbeitskraft zu vernichten, entsetzt. Entsprechende Mechanismen lassen sich aber in jeder Form von Bürokratie, ob nun bösartig oder mildtätig, entdecken. Im Fall des Holocaust gelang dies zum einen durch die Organisation der Ghettos, die die Judenräte und die Ghettobewohner in jeder Hinsicht den »funktionalen« Zwecken der Deutschen unterwarf. »Was die Lebensfähigkeit [des Ghettos] aufrechterhielt, diente automatisch deutschen Zielen… das jüdische Geschick bei der Zuteilung von Wohnraum oder der Verteilung der Lebensmittelrationen erhöhte die deutsche Effizienz. Jüdische Rigorosität in der Steuereintreibung oder bei der Arbeitseinteilung diente der Durchsetzung deutscher Härte, selbst die Unbestechlichkeit konnte der deutschen Verwaltung noch nützlich sein.« Zum zweiten wurde in jeder Etappe der Vernichtung Wert darauf gelegt, den Opfern eine Wahlmöglichkeit nach Maßgabe rationaler Kriterien zu bieten, wobei die rational sinnvolle Entscheidung automatisch dem »geplanten Ziel« diente. »Die phasenweise Deportation der Juden war raffiniert, weil diejenigen, die zunächst verschont geblieben waren, sich damit trösten konnten, manchmal müßten einige Wenige für die Gesamtheit geopfert werden.« Selbst den Deportierten ließ man bis zu ihrem Ende zum Schein die Möglichkeit rationaler Entscheidung. Die Gaskammern wurden als »Waschräume« bezeichnet – nach Tagen in überfüllten, verdreckten Viehwaggons eine willkommene Vorstellung. Und selbst diejenigen, die sich keiner Illusion mehr hingaben, konnten entscheiden zwischen dem »schnellen und schmerzlosen« Tod oder dem zusätzlichen unsäglichen Leiden, das die Widerspenstigen erwartete. Nicht nur die von den Opfern unbeeinflußte Einbindung der Ghettos in die Vernichtungsmaschinerie war bis ins Detail durchgeplant; man machte sich auch die rationalen Fähigkeiten der »Funktionsträger« zunutze, um Verhalten zu erzeugen, das von Pflichterfüllung und Kooperation im Sinne des bürokratisch definierten Zwecks erfüllt war.

       Soziale Erzeugung moralischer Unsichtbarkeit

      Bisher haben wir uns um die Rekonstruktion jener sozialen Mechanismen bemüht, die »animalisches Mitleid ausschalten«; um die soziale Erzeugung seines Verhaltens, das angeborenen moralischen Hemmungen entgegenwirkt und das Individuen, die im Sinne der »Normalität« keineswegs »moralisch degeneriert« sind, in Mörder oder vorsätzlich handelnde Komplizen zu verwandeln vermag. Die Erfahrung des Holocaust deckt nun noch einen weiteren sozialen Mechanismus auf; dieser ist in seinen Möglichkeiten noch weit gefährlicher, da er eine viel größere Anzahl von Menschen als Täter in den Genozid einbezieht, ohne daß diese dabei bewußt mit schwierigen moralischen Entscheidungen oder quälenden Gewissensfragen konfrontiert würden. An moralischen Fragen entzünden sich immer dann keine Kontroversen, wenn die moralische Dimension des Handelns nicht erkennbar ist oder deren Aufdeckung oder Diskussion bewußt vermieden wird. Anders formuliert: Die moralische Dimension des Handelns kann unsichtbar sein oder bewußt verschleiert werden.

      In diesem Zusammenhang ein weiteres Zitat von Hilberg: »Man muß sich bewußt machen, daß die meisten Mittäter [des Holocaust] keine Gewehre auf jüdische Kinder abfeuerten oder Gas in die Gaskammern leiteten … es waren Bürokraten, die Schriftsätze formulierten, Zeichnungen anfertigen, die telefonierten und an Besprechungen teilnahmen. Sie betrieben die Vernichtung eines ganzen Volkes von ihren Schreibtischen aus.«32 Das wenige, was man von den Konsequenzen oder vermeintlich harmlosen Geschäftigkeit wußte, war schnell verdrängt. Kausale Zusammenhänge zwischen bürokratischem Handeln und dem Massenmord ließen sich nur schwer entdecken. Es galt moralisch nicht als verwerflich, einer vermeintlich natürlichen Neigung nachzugeben und sich nicht über Gebühr Gedanken zu machen, die Konsequenzen des eigenen Tuns nicht bis zum Ende weiterzudenken. Wer nicht verstehen kann, wie derartige moralische Blindheit überhaupt möglich ist, denke nur an unsere Zeit: Die Beschäftigten einer Waffenfabrik feiern einen »arbeitsplatzsichernden« Rüstungsauftrag, um abends vor dem Fernsehschirm ehrlich erschüttert über die Massaker zwischen Äthiopiern und Eriträern zu sein; oder man denke daran, daß »fallende Rohstoffpreise« als gute Nachricht begrüßt werden, während man über »hungernde Kinder in Afrika« tief bestürzt ist.

      Vor einigen Jahren prägte John Lachs den Begriff der Mediatisierung, der Vermittlung des Handelns, für eines der herausragendsten und folgenreichsten Merkmale der modernen Gesellschaft: Handlungen werden von einem Dritten ausgeführt, der »zwischen mir und den Folgen meines Tuns steht, so daß diese mir verborgen bleiben«. Zwischen Plan und Ausführung entsteht eine Distanz, die mit einer Unzahl minutiöser Handlungen von Befehlsempfängern ausgefüllt ist, die jeder Verantwortung enthoben sind. Die »Mittelsmänner« schirmen die Folgen der Handlungen vor den Handelnden selbst ab.

      Das Resultat ist, daß es viele Handlungen gibt, für die niemand mit vollem Bewußtsein Verantwortung übernimmt. Für den Auftraggeber existieren sie nur als Wort oder in der Vorstellung; er betrachtet sie nicht als die eigenen, weil er ihre Ausführung nicht miterlebt. Der Mann, der sie tatsächlich ausführt, identifiziert sich andererseits nicht damit, weil er glaubt, selbst nur das schuldlose Instrument fremden Willens zu sein…

      Ohne die unmittelbare Erfahrung der Konsequenzen eigenen Handelns agiert auch der Untadeligste in einem moralischen Vakuum: die abstrakte Kenntnis des Bösen ist weder ein zuverlässiger Leitfaden noch ein hinreichendes Motiv … wir sollten über das Ausmaß