nach sollte der Holocaust, inzwischen zum Gegenstand ernsthafter historischer Forschung aufgerückt, als gewissermaßen soziologischer »Versuchsaufbau« aufgefaßt werden: Er hat Merkmale unserer Gesellschaft freigelegt, die sich unter »nicht-experimentellen« Bedingungen nicht hätten beobachten und empirisch nachweisen lassen, um den Holocaust als einzigartigen, aber signifikanten und zuverlässigen Test des latenten Potentials der modernen Gesellschaft zu betrachten.
Die Bedeutung des Zivilisationsprozesses
Die Vorstellung, Humanität sei aus präsozialer Barbarei erwachsen, wirkt moralisch aufbauend und ist als diagnostischer Mythos tief in das Bewußtsein unserer westlichen Kultur eingegraben. Dieser Mythos macht den Reiz und die Popularität mancher einflußreichen soziologischen Theorie und mancher historischen Abhandlung aus, wurde von diesen umgekehrt aber auch wissenschaftlich-intellektuell untermauert; jüngstes Beispiel ist Berühmtheit und überraschender Erfolg des von Elias beschriebenen »Zivilisationsprozesses«. Abweichlerische Sozialforscher wie etwa Michael Mann oder Anthony Giddens, die sich aus historisch-vergleichender beziehungsweise analytisch-theoretischer Sicht gründlich mit dem vielschichtigen Zivilisationsprozeß befaßt haben und im Gegensatz dazu die Zunahme militärischer Gewalt und staatlicher Repressalien als entscheidende Attribute einer sich entwickelnden Zivilisation sehen, haben es entsprechend schwer, diesen Mythos aus dem Handbuchwissen der wissenschaftlichen Zunft oder gar dem öffentlichen Bewußtsein zu verdrängen. Der Volksglaube ist von jeher nahezu immun gegen die Anfechtung seiner Mythen. Der traditionelle Zivilisationsbegriff wird getragen von einer großen Koalition wissenschaftlich-intellektueller Lehrmeinungen, zu der die liberalkonservative Vorstellung vom glorreichen Ringen zwischen Vernunft und Aberglauben zählt; Max Webers Konzept von der Zweckrationalität, die immer mehr mit immer weniger Aufwand erreicht; das psychoanalytische Versprechen, das Animalische im Menschen zu entlarven, zu packen und zu bändigen; die Marxsche Prophezeiung, Leben und Geschichte würden schließlich, seien die Beschränkungen der Produktivkräfte nur erst abgeworfen, vom Menschen beherrscht; die Zivilisationstheorie von Norbert Elias, die eine Verdrängung der Gewalt aus dem Alltagsleben annimmt; und nicht zuletzt die zahllosen Fachleute, die versichern, soziale Probleme könnten durch vernünftige Politik behoben werden. Im Kern stützt sich diese Allianz auf eine Vorstellung vom »Gartenstaat«, die die regierte Gesellschaft als Feld der Planung, Veredelung und Unkrautvernichtung begreift.
Wie sollte man unter dem Einfluß dieses im modernen Alltagsbewußtsein tief verwurzelten Mythos den Holocaust anders beschreiben denn als Entgleisung der Zivilisation (und damit des zweckrationalen, vernunftgeleiteten menschlichen Handelns) bei der Bändigung aggressiver Triebreste? Mit anderen Worten: Die Hobbessche Vision gilt nach wie vor, das Hobbessche Dilemma ist noch immer nicht bewältigt. Oder: Wir haben noch nicht genug Zivilisation, der Zivilisationsprozeß harrt noch seiner Vollendung. Die wichtigste Lehre aus dem organisierten Massenmord wäre demnach: Größere zivilisatorische Anstrengungen sind vonnöten, sollen derartige Rückfälle in die Barbarei vermieden werden. Zweifel an der Wirksamkeit solcher Bemühungen und deren Ergebnis sind selten. Wir wähnen uns auf dem richtigen Kurs, alles andere ist eine Frage des Tempos.
In dem Maße, wie die historische Forschung die Fakten freilegt, gewinnt eine alternative, womöglich glaubwürdigere Interpretation des Holocaust an Kontur: Der Holocaust habe gezeigt, wie schwach und zerbrechlich die menschliche Natur (das heißt die natürliche Abscheu und Abneigung gegenüber Mord und Gewalt, die Angst vor Schuldbewußtsein und immanentes Verantwortungsgefühl) sich erwiesen habe, konfrontiert mit der nüchtern-sachlichen Effizienz der gepriesenen Produkte der Zivilisation: der Technologie, den rationalen Entscheidungskriterien und der Tendenz, Denken und Handeln rational zu begründen und berechenbar zu machen. Die Hobbessche Dimension des Holocaust erhob sich nicht aus einem zu flach geratenen Grab und kam nicht in einem Tumult irrationaler Gefühle über die Menschen. Der Holocaust kam in einer Gestalt, die Hobbes ganz und gar fremd gewesen wäre, auf einem fabrikneuen Vehikel, mit Waffen, die fortschrittlichste Wissenschaft erst ermöglicht hatte, und nach einem wissenschaftlicher Präzision folgenden Schlachtplan. Die moderne Zivilisation war gewiß nicht die einzige, mit größter Wahrscheinlichkeit aber eine notwendige Voraussetzung des Holocaust. Ohne die Zivilisation ist der Holocaust undenkbar. Erst die rational bestimmte Welt der modernen Zivilisation macht den Holocaust möglich. »Der von den Nazis verübte Massenmord an den europäischen Juden stützte sich nicht nur auf die technologischen Errungenschaften der Industriegesellschaft, sondern auch auf die organisatorische Effizienz ihrer Bürokratie.«17 Man führe sich vor Augen, wodurch der Holocaust einzigartig in der Zivilisationsgeschichte wird, die an Beispielen von Massenmord nicht gerade arm ist:
Aus der Beamtenschaft gewann das hierarchische System das Organisationstalent und die bürokratische Gründlichkeit. Vom Militär übernahm die Vernichtungsmaschinerie Präzision, Disziplin und die Affektlosigkeit. Der Einfluß der Industrie machte sich in der Betonung von genauer Buchführung, Wirtschaftlichkeit und optimaler Verwertung sowie in der industriellen Effizienz der Todeslager bemerkbar. Die Partei schließlich durchtränkte den gesamten Apparat mit ›Idealismus‹, ›Sendungsbewußtsein‹ und einem Gefühl historischer Bedeutung …
Wir haben es hier in der Tat mit gesellschaftlichen Organisationsstrukturen in einer ganz spezifischen Variante zu tun. Obwohl es um einen Massenmord ungeheuren Ausmaßes ging, kümmerte sich der riesige Beamtenapparat um die korrekten bürokratischen Verfahren, feilte an präzisen Begriffsbestimmungen und regulativen Details und sorgte sich um die Einhaltung bestehender Gesetze und Verordnungen.18
Die Abteilung der SS-Führung, die mit der Vernichtung der europäischen Juden befaßt war, hieß offiziell Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA) – das war nur zum Teil als Deckname gedacht und nur zum Teil erklärbar als »Sprachregelung« mit dem Zweck, zufällige Beobachter von außen zu täuschen, oder um die weniger Hartgesottenen in den eigenen Reihen zu beruhigen. Die Bezeichnung spiegelt auch getreu den organisatorischen Charakter der Abteilung wider und ist daher um so beunruhigender. Von der Abscheulichkeit ihrer Aufgabe (oder genaugenommen der moralischen Größenordnung) abgesehen, ähnelten die Maßnahmen der Abteilung in formaler Hinsicht (der einzigen bürokratisch legitimen Form von Sinngebung) denen »normaler«, geplanter und durchorganisierter Maßnahmen in Verwaltung oder Wirtschaft. Denn für jede Handlung, die einer bürokratischen Rationalisierung unterzogen werden kann, ist Max Webers nüchterne Charakterisierung der modernen Verwaltung zutreffend:
Genauigkeit, Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Kenntnis der Akten, Kontinuität, Diskretion, Einmütigkeit, strenger Gehorsam, reduzierte Reibungsverluste sowie Material- und Personalkosten – all das erreicht in einer streng bürokratischen Verwaltung einen Kulminationspunkt … Die Bürokratisierung bietet zuallererst die Möglichkeit der Spezialisierung von Verwaltungsfunktionen auf der Basis völlig objektiver Kriterien. … ›Objektive‹ Amtsausübung richtet sich nach berechenbaren Regeln und wird ›ohne Ansehen der Person‹ vollzogen.19
Die Übertragung dieser Definition von Bürokratie auf den Holocaust mag vielen als furchterregende Travestie oder als Zynismus besonderer Grausamkeit erscheinen.
Und doch: Der Holocaust liefert eine wichtige Hilfe zum Verständnis der modernen bürokratischen Rationalisierung, und zwar nicht nur, weil daran erkennbar wird, was ohnehin jedermann weiß, daß nämlich bürokratisches Streben nach Effizienz mit formaler und ethischer Blindheit erkauft wird. Die Bedeutung des Holocaust erschöpft sich ebensowenig darin, daß wir erkennen, in welchem Maße dieser beispiellose Massenmord hochentwikkelte Qualifikation und präzise Arbeitsteilung voraussetzte, den reibungslosen Fluß von Anweisung und Information ebenso wie die unpersönliche und perfekt synchronisierte Einzelaktion – mit einem Wort all jene Qualifikationen und Fähigkeiten, die in einer Büro- und Verwaltungsatmosphäre kultiviert werden. Nein, der Holocaust rückt unser Wissen von der bürokratischen Rationalität in ein viel grelleres Licht, sobald wir uns bewußt werden, daß das Konzept der Endlösung* geradezu als Ergebnis der bürokratischen Kultur zu betrachten ist.
Karl Schleuner20 verdanken wir die Einsicht, daß die physische Vernichtung der europäischen Juden einen sehr komplexen Verlauf nahm. Die Endlösung