allmählich und nahm in jedem Stadium Richtungswechsel vor, dabei auf Krisen reagierend und vorangetrieben von der »Entschlossenheit, jedes sich bietende Hindernis zu überwinden«. Schleuners Konzept faßt anschaulich die Erkenntnisse der »Funktionalisten« unter den Historikern des Holocaust zusammen, die sich in den letzten Jahren zunehmend gegen die »Intentionalisten« durchsetzten, deren Kausalerklärung des Holocaust, das heißt die Vorstellung einer dem Genozid an den Juden eigenen Motivationslogik oder Konsistenz, kaum noch haltbar ist.
Die Funktionalisten sehen die Dinge so: Hitler benannte das Ziel des Nazismus: »Entfernung der Juden, das heißt ein judenfreies* deutsches Reich* – legte jedoch nicht fest, wie dieses Ziel zu verwirklichen sei.21 In dem Augenblick, als Klarheit über das Ziel herrschte, folgte alles dem von Max Weber hellsichtig beschriebenen Schema: »Der ›politische Führer‹ sieht sich in der Rolle des ›Dilettanten‹, konfrontiert mit dem ›Fachmann‹, einem ausgebildeten Technokraten aus den Reihen der Verwaltungshierarchie.«22 Der Befehl lautete, das Ziel zu verwirklichen, das »Wie« richtete sich nach den Umständen, nach der »fachmännischen« Beurteilung von Durchführbarkeit, nach Kostengesichtspunkten sowie alternativen Lösungsmodellen. So entschied man sich zunächst für die Emigration als praktische Umsetzung der Wünsche des Führers; hätten sich andere Länder aufnahmebereiter gegenüber den jüdischen Flüchtlingen gezeigt, wäre das judenfreie* Deutschland vielleicht auf diese Weise zu verwirklichen gewesen. Nach dem »Anschluß« Österreichs verdiente sich Eichmann erste Lorbeeren mit der Forcierung der jüdischen Massenemigration. Aber das von den Nazis beherrschte Territorium wuchs. Zunächst schwebte der Nazi-Bürokratie die Eroberung und Verwendung semikolonialer Territorien als Wunschlösung im Sinne des Führers vor: Generalgouvernements* schienen die geeigneten Auffangräume für die Juden aus dem rassisch zu säubernden Reichsgebiet. Als künftiges »Judenreservat« war Nisko in Mittelpolen (Westgalizien) im Gespräch. Die deutsche Bürokratie in den eroberten polnischen Gebieten stellte sich jedoch quer. Man hatte zu viele Probleme mit den »eigenen« Juden. Eichmann beschäftigte sich nun ein ganzes Jahr mit dem Madagaskar-Projekt: Warum nicht jetzt, da Frankreich besiegt war, die ferne Kolonie in einen Judenstaat verwandeln, der in Europa nicht realisierbar war? Dieses Projekt wurde jedoch für undurchführbar erklärt, zu groß waren die Entfernung und die damit verbundenen logistischen Probleme, zumal angesichts britischer Präsenz auf den Weltmeeren. Unterdessen vergrößerte sich das okkupierte Gebiet und damit die Zahl der unter Naziherrschaft geratenden Juden weiter. Ein von den Nazis beherrschtes Gesamteuropa (nicht nur ein neuerliches »Großdeutschland«) zeichnete sich ab, das »Tausendjährige Reich«* nahm allmählich aber unaufhaltsam die Gestalt des deutsch beherschten Europa an. Die Forderung eines judenfreien Deutschlands geriet in diesen Sog und wandelte sich fast unmerklich zur Vision eines judenfreien* Europa. Für ein derartig monumentales Projekt reichte eine »Überseelösung« nicht aus. (Eberhard Jäckel verweist jedoch darauf, daß es noch im Juli 1941, als Hitler mit der Bezwingung der Sowjetunion binnen weniger Wochen rechnete, Pläne gab, alle europäischen Juden in die russischen Weiten jenseits der Linie Archangelsk-Astrachan zu deportieren.) Als sich der Zusammenbruch Rußlands hinauszögerte und alternative Lösungen mit der wachsenden Dringlichkeit des Problems nicht Schritt hielten, ordnete Himmler am 1. Oktober 1941 die Beendigung sämtlicher Emigrationsmaßnahmen an. Die »Entfernung der Juden« wurde auf andere Weise angestrebt: Die Massenvernichtung wurde als einzig praktikables und effizientes Mittel für die ursprüngliche, inzwischen aber erweiterte Zielsetzung erkoren. Alles andere war nur noch eine Frage der Kooperation der beteiligten bürokratischen Abteilungen; eine Frage der minutiösen Planung, der Entwicklung geeigneter Technologien und Geräte, der finanziellen Etats und Bereitstellung notwendiger Ressourcen – das heißt also, eine bürokratische Routineangelegenheit.
Das ist die erschütterndste Lehre aus der Analyse des »komplexen Phänomens Auschwitz«, die Tatsache, daß die Wahl physischer Vernichtung als des richtigen Mittels zur Entfernung* der Juden das Ergebnis eines bürokratischen Entscheidungsprozesses war, bei dem Kosten-Nutzen-Überlegungen, Finanzfragen und einheitliche Regelauslegung eine Rolle spielten. Um es noch deutlicher zu formulieren: Die Entscheidung wurde im ernsthaften Bemühen um möglichst rationelle Lösungen für sich verändernde Problemstellungen getroffen. Auch die vielzitierte Tendenz der Bürokratie zur Erweiterung von Zielsetzungen – so normal wie bürokratische Routine – hatte daran wesentlichen Anteil. Allein die Tatsache, daß es Funktionäre mit speziellen Aufgaben gab, hatte zur Folge, daß immer neue Initiativen ergriffen und die ursprünglichen Ziele ständig höher gesteckt wurden. Das Expertenwissen – das eigentlich nur instrumentellen Charakter hatte – bewies wieder einmal seine Eigendynamik und eine ausgeprägte Neigung, die ursprünglich gesetzten Ziele zu übertreffen und umzudefinieren.
Allein die Tatsache, daß es eine Gruppe von Fachleuten für Judenfragen gab, verlieh der nazistischen Judenpolitik eine bürokratische Eigendynamik. Noch 1942, als Deportationen und Massenmord bereits begonnen hatten, wurde es den Juden gesetzlich untersagt, Haustiere zu halten, arische Friseure aufzusuchen oder das Reichssportabzeichen zu erwerben. Es bedurfte keiner besonderen Weisungen von oben – das Aufgabengebiet eines »Fachmannes« für Judenfragen bot die Gewähr, daß die Kontinuität der diskriminierenden Gesetzgebung nicht abriß.23
Zu keinem Zeitpunkt ihrer langen, qualvollen Vollstreckung geriet die Endlösung in Widerspruch zu den Grundsätzen der Rationalität. In keiner Phase kollidierte die »Endlösung« mit dem rationalistischen Credo effizienter, optimaler Zielverwirklichung. Im Gegenteil, der Holocaust entsprang genuin rationalistischen Überlegungen und wurde von einer Bürokratie in Reinkultur produziert. Die Menschheit hat Massaker, Pogrome und Massenmorde in der Nähe des Genozids erlebt, die ohne moderne bürokratische Unterstützung, ohne deren administrativ-technische Möglichkeiten und rational begründete Organisationsstrukturen vollzogen wurden. Der Holocaust war ohne eine solche Bürokratie jedoch undenkbar. Er ist keineswegs das irrationale Hervorbrechen nicht überwundener Relikte prämoderner Barbarei. Der Holocaust ist ein legitimer Bewohner im Haus der Moderne, er könnte in der Tat in keinem anderen je zu Hause sein.
Das soll nicht heißen, der Holocaust sei durch die moderne Bürokratie oder die in ihr verkörperte Kultur des instrumentellen Rationalismus determiniert gewesen; die moderne Bürokatie bringt nicht notwendig holocaustartige Phänomene hervor. Dennoch, so lautet meine These, sind die Grundsätze eines instrumentellen Rationalismus eindeutig ungeeignet, derartige Phänomene zu verhindern; auf der Ebene dieser Grundsätze lassen sich die Methoden des Holocaust nicht von »sauberem Social Engineering« trennen, weil nämlich deren irrationaler Charakter unerkannt bleibt. Ich gehe noch weiter: Gerade die bürokratische Kultur, die Gesellschaft ja als administratives Objekt und Konglomerat von »Problemen« begreift, die einer Lösung harren, schuf die Atmosphäre, in welcher der Gedanke des Holocaust langsam, aber kontinuierlich reifen und zur Vollstreckung gebracht werden konnte. Die Problemstellungen, deren Lösung das »Social Engineering« in Angriff nimmt, entsprechen einer »Natur«, die »beherrscht«, »gebändigt«, und »gebessert« oder »umgestaltet« werden muß wie ein Garten, dessen Planung notfalls gewaltsam durchzusetzen und zu sichern ist (in der Terminologie des Gärtners besteht eine strenge Trennung zwischen »Kulturpflanzen« und »Unkraut», das ausgemerzt werden muß). Ich behaupte schließlich, daß der Geist des instrumentellen Rationalismus und seine moderne bürokratisch-institutionalisierte Ausprägung die Lösungmöglichkeiten in der Art des Holocaust nicht nur ermöglichte, sondern »rational« begründbar machte – und damit die Wahrscheinlichkeit erhöhte, daß man sich für sie entschied. Unterstützt wurde diese Tendenz nicht zuletzt durch die Fähigkeit moderner bürokratischer Systeme, das Handeln vieler, an sich ethisch eingestellter Individuen derart zu koordinieren, daß am Ende jedes noch so unethische Ziel zu verwirklichen ist.