in der Lage sind, falsches Handeln und schreiende Ungerechtigkeit als solche zu erkennen. Was bestürzt, ist, wie es dazu kommen konnte, wenn jeder einzelne eigentlich nur harmlose Dinge tat … Es fällt schwer zu akzeptieren, daß es häufig weder einen einzelnen noch eine Gruppe gibt, die verantwortlich sind. Noch schwerer fällt es zu akzeptieren, daß das eigene Handeln an anderer Stelle Leiden verursacht hat.33
Die wachsende physische und psychische Distanz zwischen dem eigenen Handeln und dessen Folgen bewirkt nicht nur, daß moralische Hemmungen wegfallen, sondern verschleiert auch die moralische Tragweite des Handelns und verhindert auf diese Weise das Auseinanderbrechen von individuellen ethischen Grundsätzen und den sozialen Konsequenzen der Handlung. Indem die meisten sozial signifikanten Handlungen durch eine lange Kette komplexer Kausal- und Funktionszusammenhänge vermittelt sind, rücken moralische Probleme aus dem Blickfeld, denn es bietet sich nur selten die Gelegenheit zu Überprüfung und bewußter moralischer Entscheidung.
Ein psychologischer Effekt von noch größerer Tragweite wird dadurch erzielt, daß die Opfer selbst unsichtbar sind. Es handelt sich hier um einen der wichtigsten Faktoren für die Eskalation menschlichen Leidens in der modernen Kriegsführung. Nach Ansicht von Philip Caputo entwickelt sich das Ethos des Krieges »mit zunehmender Distanz und Technologie. Wer andere mit hochentwickelten Waffen über große Entfernung tötet, macht sich nicht schuldig«34. Töten »auf Distanz« beläßt den Zusammenhang zwischen Blutvergießen und den dafür nötigen harmlosen Handgriffen – wie etwa das Bestätigen eines Auslösers, eines Stromschalters oder einer Computertastatur – auf einer rein theoretischen Ebene, nicht zuletzt weil die Diskrepanz von Resultat und direkter Ursache schon von der Größenordnung her das normale Vorstellungsvermögen übersteigt. Wie sonst hätten Piloten Bomben über Hiroshima und Dresden abwerfen können, wie sonst kann man gewissenhaft Dienst in einer Raketenbasis tun oder immer umfassendere atomare Sprengköpfe entwickeln – ohne daß darüber die ethische Grundauffassung ins Wanken (oder gar zum Zusammenbruch) käme (die Unsichtbarkeit der Opfer war sicherlich auch für Milgrams berühmte Experimente eine wichtige Voraussetzung). Bedenkt man die Unsichtbarkeit der Opfer, begreift man besser, wie es zu der schrittweisen Vervollkommnung der Vernichtungsethik des Holocaust kommen konnte. Die Einsatzgruppen* trieben die Opfer vor den Maschinengewehren zusammen und erschossen sie aus relativ kurzer Entfernung; der Abstand zu den Gräben, in die die Ermordeten dann fielen, wurde zwar relativ groß gehalten, die Schützen konnten jedoch die Folgen ihres Tuns nicht übersehen. Die Organisatoren der Vernichtung hielten diese Methode daher auch für primitiv, ineffizient und potentiell schädlich für die Moral der Ausführenden. Andere Mordmittel wurden gesucht, bei denen der Sichtkontakt zwischen Mörder und Ermordeten unterbrochen war: zunächst die Gaswagen, dann die Gaskammern. Die Gaskammer reduzierte – in der von den Nazis prefektionierten Form – die Rolle des Mörders auf die eines »Sanitätsoffiziers«, der lediglich einen Sack »Desinfektionsmittel« in einen dafür vorgesehenen Schacht auf dem Dach des Gebäudes schüttete, ohne es jemals selbst betreten zu müssen.
Die technisch-administrative Effizienz des Holocaust erklärt sich zum Teil auch aus der geschickten Verwendung »moralischer Beruhigungsmittel«, wie sie die moderne Bürokratie und Technokratie bereithalten. Die mangelnde Transparenz von Kausalzusammenhängen in komplexen Interaktionsnetzen und die »Distanzierung« abstoßender und moralisch verwerflicher Konsequenzen bis hin zur Nichtsichtbarkeit für die Täter spielten dabei eine entscheidende Rolle. Die Nazis entwickelten eine dritte, vielleicht noch raffiniertere Methode, die sie zwar ebenfalls nicht selbst erfunden hatten, die sie jedoch zu einem bis dahin unbekannten Grad perfektionierten: die Dehumanisierung der Opfer. Die sozio-psychologischen Faktoren, die für die furchtbare Effizienz dieser Methode ausschlaggebend waren, sind weitgehend in Helen Feins Konzept eines »Bezugssystems von Verpflichtungen« (universe of obligation) enthalten. Fein definiert dieses als »Kreis von Personen, die eine wechselseitige Schutzverpflichtung haben, hergeleitet aus der speziellen Beziehung zu einer Gottheit oder geheiligten Quelle der Macht«35. Dieses »Bezugssystem« ist ein soziales Terrain, innerhalb dessen moralische Regeln Gültigkeit haben, die außerhalb dieser Grenzen jedoch ebenso ihre Verbindlichkeit verlieren wie Gewissensentscheidungen ihre Legitimation. Um die Menschlichkeit der Opfer zu zerstören, genügt es, diese aus dem »Bezugssystem« auszugrenzen.
Nach den Maßstäben des alles überragenden Wertes der nationalsozialistischen Weltanschauung, des Rechts auf Deutschsein, ließen sich die Juden aus dem »universe of obligation« ausgrenzen, indem man ihnen die Zugehörigkeit zur Volksgemeinschaft aberkannte. Hilberg formuliert schneidend: »In dem Augenblick, als Anfang 1933 ein Beamter erstmalig die Definition für ›Nicht-Arier‹ in einer Verordnung niederlegte, war das Schicksal der europäischen Juden besiegelt.«36 Um aber die Kooperation (oder auch nur Passivität oder Gleichgültigkeit) der europäischen Staaten zu erlangen, bedurfte es anderer Mittel. Der Ausstoß der Juden aus der deutschen Volksgemeinschaft mochte für die SS hinreichen, weckte jedoch selbst bei den Nationen, die insgeheim mit den Zielen der neuen Beherrscher Europas sympathisierten, Furcht und Mißtrauen. Als nicht mehr Deutschland allein, sondern ganz Europa judenfrei* werden sollte, mußte der Ausstoß aus der Volksgemeinschaft ersetzt werden durch die Entmenschlichung an sich. Franks Vorliebe für das Bild vom »jüdischen Ungeziefer« und der Wandel in der rhetorischen Behandlung der »Judenfrage« vom »Schutz der Rasse» zur »Säuberung» und »politischen Hygiene« gehörten ebenso dazu wie die vor Typhus warnenden Plakate an den Mauern der Ghettos und der Name der Firma, die das Gift für die Massenvernichtung lieferte: Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung*.
Die moralischen Konsequenzen des Zivilisationsprozesses
Es gibt in der Soziologie verschiedene Konzepte für den Zivilisationsprozeß, doch das geläufigste nennt zwei Kernpunkte: Der Zivilisationsprozeß unterdrückt irrationale und im wesentliche antisoziale Triebe und drängt die Gewalt unwiderruflich, wenn auch nur allmählich aus dem sozialen Leben (genauer: der Zivilisationsprozeß konzentriert die Gewalt unter der Kontrolle des Staates, der das Machtmonopol zur Sicherung der Außengrenzen der nationalen Gemeinschaft und der sozialen Ordnung nutzt). Die beiden Kernpunkte werden in einer zivilisierten Gesellschaft – zumindest nach westlich-moderner Auffassung – durch eine moralische Kraft zusammengehalten. Institutionen kooperieren und ergänzen einander bei der Durchsetzung einer normativen und durch Gesetze geregelten Ordnung, die ein in vor-zivilisierten Gesellschaften unbekanntes Maß an sozialem Frieden und Sicherheit des einzelnen garantieren.
Diese Vorstellung ist nicht grundsätzlich falsch, wirkt in Kenntnis des Holocaust jedoch naiv und einseitig. Zwar sind in diesem Zusammenhang wichtige historische Entwicklungslinien offenbar geworden, die Untersuchung nicht minder folgenreicher Tendenzen wurde aber vernachlässigt. Man konzentrierte sich auf einen einzigen Aspekt des historischen Zivilisationsprozesses und zog eine willkürliche Trennungslinie zwischen Normalität und Anomalie. Verstörende Aspekte der Zivilisation wurden kriminalisiert und mit ihrem zufälligen, vorübergehenden Charakter erklärt; gleichzeitig überging man die auffallende Kongruenz zwischen einigen konstitutiven Merkmalen dieser ausgegrenzten Phänomene und den normativen Annahmen der Moderne. Die Kontinuität des alternativen, destruktiven Potentials des Zivilisationsprozesses blieb weitgehend unbeachtet, Theoretiker, die auf die Doppelgesichtigkeit moderner sozialer Ordnungen hinwiesen, wurden ignoriert und ins Abseits gerückt.
Die wichtigste Lehre aus dem Holocaust muß sein, diese Kritik ernst zu nehmen und das Modell des Zivilisationsprozesses derart zu erweitern, daß dessen Tendenz zur Entkräftung ethischer Motive für soziales Handeln deutlich wird. Man muß der Tatsache Rechnung tragen, daß der Zivilisationsprozeß unter anderem den Einsatz von Gewalt aus dem Bereich moralischen Entscheidens herausgelöst und die Anforderungen der Rationalität von ethischen Normen und moralischen Skrupeln befreit hat. Das Vordringen der Rationalität auf Kosten anderer möglicher Handlungskriterien und insbesondere die Tendenz, rational begründbare Gewaltanwendung zuzulassen, ist schon früh als konstitutives Merkmal der modernen Zivilisation erkannt worden. Phänomene