Zygmunt Bauman

Dialektik der Ordnung


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in der Lage sind, falsches Handeln und schreiende Ungerechtigkeit als solche zu erkennen. Was bestürzt, ist, wie es dazu kommen konnte, wenn jeder einzelne eigentlich nur harmlose Dinge tat … Es fällt schwer zu akzeptieren, daß es häufig weder einen einzelnen noch eine Gruppe gibt, die verantwortlich sind. Noch schwerer fällt es zu akzeptieren, daß das eigene Handeln an anderer Stelle Leiden verursacht hat.33

      Die wachsende physische und psychische Distanz zwischen dem eigenen Handeln und dessen Folgen bewirkt nicht nur, daß moralische Hemmungen wegfallen, sondern verschleiert auch die moralische Tragweite des Handelns und verhindert auf diese Weise das Auseinanderbrechen von individuellen ethischen Grundsätzen und den sozialen Konsequenzen der Handlung. Indem die meisten sozial signifikanten Handlungen durch eine lange Kette komplexer Kausal- und Funktionszusammenhänge vermittelt sind, rücken moralische Probleme aus dem Blickfeld, denn es bietet sich nur selten die Gelegenheit zu Überprüfung und bewußter moralischer Entscheidung.

      Die technisch-administrative Effizienz des Holocaust erklärt sich zum Teil auch aus der geschickten Verwendung »moralischer Beruhigungsmittel«, wie sie die moderne Bürokratie und Technokratie bereithalten. Die mangelnde Transparenz von Kausalzusammenhängen in komplexen Interaktionsnetzen und die »Distanzierung« abstoßender und moralisch verwerflicher Konsequenzen bis hin zur Nichtsichtbarkeit für die Täter spielten dabei eine entscheidende Rolle. Die Nazis entwickelten eine dritte, vielleicht noch raffiniertere Methode, die sie zwar ebenfalls nicht selbst erfunden hatten, die sie jedoch zu einem bis dahin unbekannten Grad perfektionierten: die Dehumanisierung der Opfer. Die sozio-psychologischen Faktoren, die für die furchtbare Effizienz dieser Methode ausschlaggebend waren, sind weitgehend in Helen Feins Konzept eines »Bezugssystems von Verpflichtungen« (universe of obligation) enthalten. Fein definiert dieses als »Kreis von Personen, die eine wechselseitige Schutzverpflichtung haben, hergeleitet aus der speziellen Beziehung zu einer Gottheit oder geheiligten Quelle der Macht«35. Dieses »Bezugssystem« ist ein soziales Terrain, innerhalb dessen moralische Regeln Gültigkeit haben, die außerhalb dieser Grenzen jedoch ebenso ihre Verbindlichkeit verlieren wie Gewissensentscheidungen ihre Legitimation. Um die Menschlichkeit der Opfer zu zerstören, genügt es, diese aus dem »Bezugssystem« auszugrenzen.

       Die moralischen Konsequenzen des Zivilisationsprozesses

      Es gibt in der Soziologie verschiedene Konzepte für den Zivilisationsprozeß, doch das geläufigste nennt zwei Kernpunkte: Der Zivilisationsprozeß unterdrückt irrationale und im wesentliche antisoziale Triebe und drängt die Gewalt unwiderruflich, wenn auch nur allmählich aus dem sozialen Leben (genauer: der Zivilisationsprozeß konzentriert die Gewalt unter der Kontrolle des Staates, der das Machtmonopol zur Sicherung der Außengrenzen der nationalen Gemeinschaft und der sozialen Ordnung nutzt). Die beiden Kernpunkte werden in einer zivilisierten Gesellschaft – zumindest nach westlich-moderner Auffassung – durch eine moralische Kraft zusammengehalten. Institutionen kooperieren und ergänzen einander bei der Durchsetzung einer normativen und durch Gesetze geregelten Ordnung, die ein in vor-zivilisierten Gesellschaften unbekanntes Maß an sozialem Frieden und Sicherheit des einzelnen garantieren.

      Diese Vorstellung ist nicht grundsätzlich falsch, wirkt in Kenntnis des Holocaust jedoch naiv und einseitig. Zwar sind in diesem Zusammenhang wichtige historische Entwicklungslinien offenbar geworden, die Untersuchung nicht minder folgenreicher Tendenzen wurde aber vernachlässigt. Man konzentrierte sich auf einen einzigen Aspekt des historischen Zivilisationsprozesses und zog eine willkürliche Trennungslinie zwischen Normalität und Anomalie. Verstörende Aspekte der Zivilisation wurden kriminalisiert und mit ihrem zufälligen, vorübergehenden Charakter erklärt; gleichzeitig überging man die auffallende Kongruenz zwischen einigen konstitutiven Merkmalen dieser ausgegrenzten Phänomene und den normativen Annahmen der Moderne. Die Kontinuität des alternativen, destruktiven Potentials des Zivilisationsprozesses blieb weitgehend unbeachtet, Theoretiker, die auf die Doppelgesichtigkeit moderner sozialer Ordnungen hinwiesen, wurden ignoriert und ins Abseits gerückt.

      Die wichtigste Lehre aus dem Holocaust muß sein, diese Kritik ernst zu nehmen und das Modell des Zivilisationsprozesses derart zu erweitern, daß dessen Tendenz zur Entkräftung ethischer Motive für soziales Handeln deutlich wird. Man muß der Tatsache Rechnung tragen, daß der Zivilisationsprozeß unter anderem den Einsatz von Gewalt aus dem Bereich moralischen Entscheidens herausgelöst und die Anforderungen der Rationalität von ethischen Normen und moralischen Skrupeln befreit hat. Das Vordringen der Rationalität auf Kosten anderer möglicher Handlungskriterien und insbesondere die Tendenz, rational begründbare Gewaltanwendung zuzulassen, ist schon früh als konstitutives Merkmal der modernen Zivilisation erkannt worden. Phänomene