„Na super! Mein Sohn ist mir davongelaufen. Die Polizei jagt ihn nun und das Jugendamt macht mir die Hölle heiß. Ich bin überfallen und ausgeraubt worden. Nicht nur mein Geld ist weg, sondern auch meine sämtlichen Papiere, einschließlich Kreditkarte. Ganz zu schweigen davon, ob mein Wagen noch da steht, wo ich ihn geparkt habe. Und ich habe nur drei Tage Zeit, um dich nach Pine Ridge zu bringen.”
Frank sprach ohne Punkt und Komma und holte tief Luft. „Und mein Brillengestell ist verbogen”, fügte er abschließend hinzu, während er die Brille absetzte und versuchte, sie gerade zu biegen.
Blue schwieg. Nach einer Weile sagte er leise: „Du hättest in der oberen Etage bleiben sollen. Hier unten hast du nichts verloren.” „Du auch, denke ich.” Frank hatte sich beruhigt, seine Brille notdürftig gerichtet und wieder aufgesetzt. Sein Sohn, der genauso groß war wie er, hielt ihm mit einem Grinsen eine schwarze Brieftasche entgegen.
„Meine Brieftasche! Wo hast du sie her?”
„Ich habe sie ihnen wieder abgejagt. Sie sind groß und stark, aber dumm.” Auf dem Gesicht des Jungen machte sich ein Grinsen breit. Spöttisch und verachtend zugleich. „Bist du wegen mir gekommen, Frank? Dann vergiss es. Ich bleibe”, fügte er hinzu.
„Bis vor zwei Tagen war mein Leben noch völlig in Ordnung und …”, Frank schnippte mit den Fingern in die Luft, „ … von einer Stunde auf die andere habe ich nicht nur ein Problem, sondern hunderte und das Ende ist noch nicht abzusehen. Es wäre für mich wesentlich einfacher, du würdest deine Flucht auf später verschieben, wenn du bei deinen Großeltern bist. Dann geht mich das nichts mehr an. Warum gehst du eigentlich nicht zur Schule?”
„Ich bin kein Analphabet, falls du das meinst. Ich kann lesen, schreiben und rechnen und habe Dinge gelernt, von denen du nicht die geringste Ahnung hast.”
Frank musterte Walter, der sich Blue nannte und sein Sohn war, eindringlich, als würde er ihn gerade jetzt zum ersten Mal sehen. Er erschien ihm viel zu erwachsen zu sein für sein Alter und kindliche Züge an ihm suchte er vergebens.
„Du willst mir nicht helfen?”, fragte Frank.
„Das habe ich gerade getan. Wir sind quitt.”
„Dann hilf dir wenigstens selbst.”
Blue grinste wieder, noch spöttischer, wenn das überhaupt noch möglich war. „Das mit Sicherheit. Leb wohl.” Mit diesen Worten wandte er sich um.
„Warte! Mrs Cooper sagte, sie haben Bonnie zu ihren Großeltern gebracht. Sie wartet auf dich.”
Blue fuhr herum. Den messerscharfen Blick durch die schwarzen Strähnen, die ihm über die Augen fielen, kannte Frank schon.
„Mit Speck fängt man Mäuse”, meinte Blue bitter.
„Es ist wahr!”, beteuerte Frank.
Blue blieb misstrauisch. „Gestern Abend hast du das noch nicht gewusst? Oder heute früh?”
„Nein. Als du weg warst, habe ich die Polizei angerufen. Der Officer hat sich mit Mrs Cooper in Verbindung gesetzt. Sie hat mir die Hölle heiß gemacht wegen deiner Flucht und so. Kurz darauf rief sie mich zurück und erzählte mir, dass Bonnie vorgestern bereits mit einer Betreuerin aus dem Heim nach Pine Ridge zu ihren Großeltern gefahren sei. Ich habe nicht einmal gewagt zu fragen, wer Bonnie ist.”
„Hm!” Blues Gedanken arbeiteten.
Frank wartete schweigend auf eine Entscheidung.
„Ich traue euch nicht. Ihr wollt mich reinlegen”, entgegnete Blue schließlich kühl.
„Wenn du nicht mit mir kommst, wirst du es nie erfahren. Was hast du zu verlieren?”
„Meine Freiheit.”
„Die wird dir niemand nehmen. Bonnie nicht und deine Großeltern am wenigsten. Du kannst nur etwas gewinnen.”
Frank holte tief Luft, bevor er weitersprach: „Sollte Bonnie nicht dort sein, überlasse ich dir die Entscheidung.”
Frank reichte Blue seine Hand, als galt es einen Vertrag zu besiegeln. Blue überlegte einige Augenblicke, dann schlug er ein. Trotzdem verschwand das Misstrauen nicht aus seinem Gesicht.
„Wir werden sehen!“, murmelte er zögernd.
Kapitel 3
Die Farben der Sonne
Walter McKanzie, genannt Blue Light Shadow, stand hinter den Glasfenstern des Gary Chicago International Airport. Er starrte abwesend hinaus. Die Lichter verblassten in der Morgendämmerung. Walter hatte die Hände tief in den Hosentaschen vergraben und schien angespannt. Schweigend beobachtete er die startenden und landenden Maschinen. Es gab kein Zurück mehr. Frank hatte noch vor Mitternacht zwei Plätze in einem Hawker 4000 Business-Jet reservieren können. Als geschäftstüchtiger Anwalt war er sehr oft mit verschiedenen Firmenflugzeugen unterwegs und pflegte seine Beziehungen. Die Beleuchtung wich dem Tageslicht. Der neue Tag war unweigerlich angebrochen. Die Nacht war viel zu kurz gewesen. Blue war noch müde und ihm fröstelte. Frank kam mit zwei Kaffeebechern zurück und gab seinem Sohn einen davon. Der heiße Kaffee tat gut. Er wärmte nicht nur die Hände. Als sie ihn ausgetrunken hatten, sah Frank schließlich auf die Uhr.
„Komm, Blue. Es wird langsam Zeit. Wir müssen zum Business Terminal. Unsere Maschine steht bereit.”
Blue folgte Frank. Etwa eine halbe Stunde später betraten sie den Asphalt. Eine weiße Hawker mit rot-schwarzem Seitenstreifen parkte vor der Glastür wie ein Taxi. Die Tür öffnete sich automatisch und die frische Morgenluft begrüßte Blue. Er atmete tief durch. Misstrauisch nahm er die kleine Maschine, die sie von der großen Stadt Chicago nach Rapid City bringen sollte, in Augenschein. Er zählte ganze sechs Fenster und sie war, seiner Meinung nach, alles andere als ein Jet. Die Angst, dort hineinzusteigen, war nicht geringer als die vor den Aufzügen. Schweigend presste er die Lippen zusammen, als wollte er sich selbst damit zum Schweigen zwingen. Sein Stolz, der ihn hinderte, diese Angst zuzulassen oder gar zuzugeben, überwog. Zögernd folgte er Frank. Der sah sich lächelnd nach ihm um und stellte fest: „Du bist noch nie geflogen, was?”
„Mehrmals”, antwortete Blue trotzig und ging einen Schritt schneller voran.
Franks Lächeln ging in ein breites Grinsen über. Schweigend stiegen sie ein. Blue bekam einen Fensterplatz zugewiesen. Er weigerte sich, hinaus zu sehen. Lautlos ließ er sich in den Sitz gleiten, lehnte sich nach hinten und schloss die Augen. Seine Gedanken begannen zu wandern. Egal was passiert, ich will Bonnie wiedersehen, sprach er in Gedanken zu sich selbst, ohne dabei die Lippen zu bewegen. Er öffnete die Augen auch nicht, als die Maschine startete und abhob. Noch immer kämpfte er gegen seine Angst, die ihm ein ungutes Gefühl in der Magengegend bescherte. Die Ohren verspürten einen unangenehmen Druck und begannen zu rauschen. Ihm war schwindlig.
Vor seinen Augen sah er den alten Mann mit den grauweißen Zöpfen auftauchen. Walter, der sich Blue nannte, dachte noch: Was willst du schon wieder hier? Dann öffnete er rasch die Augen. Ein vager Blick in Richtung Fenster zeigte ihm ein weißes Wolkenmeer, von der Sonne bestrahlt.
Nachdem das Flugzeug unbeschadet am Rapid City Regional Airport gelandet war und Walter festgestellt hatte, dass er noch lebte, folgte er Frank durch die Eingangshalle. Auf Gepäck mussten sie nicht warten. Sie hatten keins. Walter blieb vor den Glasvitrinen stehen und starrte förmlich auf die Auslagen, in denen indianische Kleidung und Artefakte lagen. So etwas hatte er noch nie gesehen.
„Ist das hier ein Museum?”, fragte er Frank.
„Ja, so ähnlich. Die Ausstellungsstücke sind wie ein Mahnmal, um uns daran zu erinnern, was hier gewesen ist.”
„So? Was ist denn hier mal gewesen?”
„Indianerland.”
„Und?”
„Harte Kämpfe um die Black Hills und ums Überleben. Die Schwarzen Berge sind den Sioux heilig, schon immer. Das Geistertanzhemd da stammt zum Beispiel aus der Zeit, als die