noch nicht erfüllt, Wibbeke rief an und räusperte sich umständlich: »Alles Scheiße.«
»Hier auch.«
»Wir haben Benno Brockes freilassen müssen.«
»Das darf nicht wahr sein!«
»Über Mittag wollte er plötzlich einen Anwalt. Was sollten wir machen? Er gibt den Diebstahl dieses BMWs zu. Aber er leugnet stur, dass er auf Sie geschossen hat, und das Labor will sich mit dem Gewehr nicht festlegen.«
»Hat Benno denn für die Nacht ein Alibi?«
»Nein. Er behauptet, eigentlich sei er mit Andrea Wirksen verabredet gewesen, die habe auch auf ihn in seiner Hütte gewartet, aber weil er was getrunken hatte, gab’s Streit und sie rauschte beleidigt wieder ab.«
»Und der Anwalt hat Ihnen daraufhin auseinander gesetzt, dass Benno geständig sei und einen festen Wohnsitz habe, geregelter Arbeit nachgehe und wahrscheinlich auch nicht vorbestraft sei ... Ach, verdammt, Herr Wibbeke, das kotzt mich alles an.«
»Ich tanze auch gerade vor Begeisterung auf dem Tisch«, erwiderte Wibbeke kleinlaut. »Bericht folgt. Tut mir Leid, Herr Rogge, mehr war nicht drin.«
Gegen neun Uhr rief Rogge noch einmal Schönborn an, der ihn bestürmte, alles zu erzählen; Rogge vertröstete und überredete ihn, nicht aus dem Haus zu gehen; vielleicht meldete sich Inge ja noch bei ihm.
Kili warnte: »Lass das lieber sein, Chef.«
»Was habe ich denn vor?«
»Du willst dich in der Wohnung dieser Weber oder Zinneck umsehen und Schönborn soll dir nicht in die Quere kommen.«
»Und genau davon wirst auch du mich nicht abhalten.«
»Dann vergiss das kleine Erste-Hilfe-Päckchen nicht!«
In dem scheußlichen Hochhaus Wilhelmstraße 37 wohnten einundsiebzig Parteien, wahrscheinlich alles Zwerge, nach der Größe der Wohnungen zu schließen. Auf dem nackten Beton hatten sich rostbraune Streifen gebildet, die Platten des Gehwegs waren eingesunken, Rogge balancierte und sprang über große Pfützen. Ein älterer Mann schlurfte von den Müllcontainern heran und hielt ihm die Haustür auf, hier kannte kein Mieter alle anderen.
»Danke«, brummte Rogge. »Läuft wenigstens die Heizung?«
»Nee, woher denn! Erst ab 1. Oktober, keinen Tag früher, diesen Hausmeister könnte ich in die Mülltonne stopfen.«
Mit dem Aufzug fuhr Rogge in den achten Stock und ging leise eine Treppe hinunter. Dank der dünnen Wände bekam er mit, dass die meisten Mieter in ihren Wohnungen waren. Inge Webers Wohnung lag am Ende des Flures, im Vorbeigehen studierte Rogge die Türschlösser, nicht schlecht, aber auch nicht wirklich schwierig. Er lehnte sich mit der Schulter gegen die Wand und schob den Stahlstreifen mit dem Haken in das Sicherheitsschloss, ganz durch, eine halbe Drehung, zurückgezogen, Widerstand auf Marke zwei, noch mal das Ganze, auch Marke drei besaß eine Zylinderkerbung, zwei rechts, drei rechts, fünf links. Sechs eine Hohlkehle. Auf dem Dietrich stellte Rogge die Zacken ein, bis jetzt war noch kein Mieter auf dem Flur erschienen, jawohl, das gute Stück passte, Rogge drehte vorsichtig, das Schloss knackte, die Tür war offen. Wenn die Leute wüssten, wie leicht man Türen aufschließen konnte ...
Drinnen verschnaufte Rogge erst einmal in der dunklen Diele, für einen erfolgreichen Einbrecher besaß er einfach nicht die nötigen Nerven. Oder nicht genügend Übung. Er tastete nach dem Lichtschalter, drückte und taumelte vor Schreck, die berühmten Sterne funkelten und wirbelten vor seinen Augen.
Die beiden Männer standen regungslos vor ihm, hatten höfliche, glatte, nichts sagende Gesichter aufgesetzt und richteten ihre Pistolenläufe auf seinen Bauch. Als Rogge wieder nach Luft schnappen konnte, pochte sein Herz schmerzhaft gegen die Rippen. Zwei Profis. Sie trugen Plastikhandschuhe und hatten eng schließende Kappen über die Haare gestülpt, wie die Chirurgen im Fernsehen. Denn aus Haaren ließ sich in der Tat viel rekonstruieren. Dann senkte der Hauptkommissar den Blick auf die Waffen und spürte noch einmal, wie ihn der Schwindel erfassen wollte. Zwei Heckler & Koch, mit hülsenloser Munition, Rogge kannte die Pistolen bisher nur von Bildern.
»Umdrehen!«, befahl der eine. Er hatte eine hohe Stimme. Der andere trat neben den Beamten und filzte Rogge gekonnt, Dienstwaffe, Ausweise, Dietriche. Derweil war der erste zur Seite getreten, keine Chance zu einem Überraschungsangriff und seine zitternden Knie warnten Rogge auch, dass er dazu keine Energie mehr besaß.
»Sie können sich wieder umdrehen.«
Wenn sie von dem Dienstausweis eines Hauptkommissars überrascht waren, ließen sie sich das jedenfalls nicht anmerken. Zwei ordentlich gekleidete Männer, Mitte bis Ende dreißig, beide groß und sportlich, eiskalt und geübt.
»Wir gehen ins Wohnzimmer«, entschied der andere. Er hatte eine tiefe Stimme und sprach mit einem Hauch von Dialekt.
Als Rogge sie mit seiner Manipulation am Türschloss aufgescheucht hatte, hatten sie schon zur Hälfte erledigt, weshalb Rogge gekommen war, doch sie verstanden ihr Handwerk und wussten, wie man eine Wohnung systematisch und gründlich durchsuchte, ohne ein Chaos zu hinterlassen.
»Ziehen Sie bitte Ihre Jacke und Ihre Hose aus, auch die Krawatte.«
Das Bitte entmutigte ihn regelrecht und deshalb gehorchte er, ohne zu fragen, was sie mit ihm vorhatten.
»Ins Schlafzimmer.«
Verdammt, sie waren noch kaltblütiger, als Rogge befürchtet hatte. Der eine kramte schon in dem Pilotenkoffer, sie hatten an alles gedacht und waren auf alles vorbereitet, und ob sie nun Inge Weber oder ihn ins Reich der Träume beförderten, bereitete ihnen kein Kopfzerbrechen.
»Leiden Sie an Bluthochdruck? - Diabetes? - Nehmen Sie kreislaufstärkende Mittel oder etwas zur Blutverdünnung?«
»Nein«, sagte er erschöpft, und das war tatsächlich das erste Wort, das er herausbrachte. »Sie können mich unbesorgt schlafen schicken.«
»Etwa acht Stunden«, nickte der mit der tiefen Stimme.
Rogge rollte den Hemdsärmel hoch und der Knabe setzte die Spritze sehr geschickt, er hatte Übung, hielt sogar Tupfer und Pflaster bereit. Der andere beobachtete Rogge unverwandt, jede Sekunde auf einen Täuschungs- und Ablenkungsversuch vorbereitet. So, wie er sich benahm, würde er erst schießen und sich dann nach der vermeintlichen Gefahr umdrehen. Deshalb legte Rogge sich ohne Sträuben ins Bett und deckte sich zu, der Spritzenmensch öffnete sogar das Fenster einen Spalt weit. Was für nette, fürsorgliche Zeitgenossen! Rogge hätte schon gerne gefragt, für wen sie arbeiteten, aber er wusste, dass sie nicht antworten, nicht einmal über ihn lachen würden. Sehr schnell wurde sein Arm etwas taub, eine seltsame Schwäche wallte durch seinen Körper, erreichte seinen Kopf, löschte alles aus,
XII.
»Sie haben was getan?« Jockel Pertz brüllte, dass die Scheiben zitterten, aber die beiden Männer zuckten nicht zusammen, schauten allerdings starr an Pertz’ Kopf vorbei. Dass sie sich in ihrer Haut nicht wohl fühlten, war ihnen anzusehen, doch in ihren Augen spiegelte sich Trotz wider. Den Anpfiff mussten sie ertragen, er war der Chef.
»Sind Sie vom Affen gebissen?«
»Wir hatten keine andere Wahl. Der Befehl lautete, die Frau nicht aus den Augen zu verlieren. Dass die lauen Brüder vom Verfassungsschutz sich am Bahnhof abhängen ließen, geht nicht auf unser Konto. Wir haben nur versucht, einen Fehler auszubügeln.«
Pertz setzte sich wieder. Vier Sätze und jeder korrekt. Nicht zu bestreiten. Eine Panne, diesmal durch einen unglücklichen Zufall bewirkt und nicht durch offenkundiges Versagen, wie es Weinert eingestanden hatte. Es wurde Zeit, die Aktion abzubrechen. Pannen hatten die dumme Angewohnheit, sich zu Katastrophen zu verdichten. Und wenn ihn nicht alles täuschte, bereitete auch dieses Trio Gönter, Ellwein, Weinert schon den Rückzug nach dem Motto vor: Rette sich, wer kann.
»Gut. Den Anschnauzer haben