eine altmodische Gegensprechanlage zwei Tassen Kaffee. Danach blätterte sie lustlos in einigen Unterlagen und wartete, bis ihr Assistent die beiden Tassen auf einem Tablett serviert und die schwere Holztür wieder hinter sich geschlossen hatte. Philipp hoffte inständig, dass es nicht das erste Heißgetränk war, welches an diesem Morgen durch das Gerät gelaufen war. Er hasste den fahlen Geschmack nach langem Wochenende, der sich zwangsläufig einstellte, wenn eine Kaffeemaschine einige Tage nicht in Betrieb gewesen war. Eine Fliege schwirrte an seinem Kopf vorbei, um dann mit einem Rückwärtssalto kopfüber an der Bürodecke zu landen. Mit ihren mikroskopisch kleinen Krallen und Haftpolstern drehte sie dort einige Runden. Zweifellos hielt sie sich in diesem Moment für das Zentrum der Welt.
Die Rektorin riss Philipp aus seinen Gedanken. »Sagt Ihnen der Name von Werdenberg etwas?« Dabei betonte sie das »von« überdeutlich.
Die Frage selbst war eine rhetorische. Mochte Alexander von Werdenberg zwar nicht die Klatschspalten der Boulevardpresse füllen und ein skandalfreies Leben führen, so war er trotzdem in der Schweizer Bankenszene und weit darüber hinaus ein Begriff, ja, eine große Nummer. Die von Werdenbergs – zwei Waisen, Flüchtlinge, die sich nach dem Krieg in der Schweiz hochgearbeitet hatten. Die beiden Brüder hatten in den 60er-Jahren des vorherigen Jahrhunderts ihre eigene Firma gegründet. Die Privatbank von Werdenberg war so verschwiegen wie erfolgreich. Die exakten Zahlen zum verwalteten Vermögen und Reingewinn der Bank wurden nie publiziert, aber in der einschlägigen Szene war bekannt, dass einige der wohlhabendsten und einflussreichsten Familien der Schweiz und aus dem Ausland sich bei den von Werdenbergs die Klinke in die Hand gaben. Einer der Brüder war in den 70er-Jahren auf tragische Weise bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Der andere, Alexander von Werdenberg, führte die Geschäfte bis heute äußerst erfolgreich. Er mied jedoch die Öffentlichkeit wie der Teufel das Weihwasser. Nach Philipps Wissensstand gab es keine offiziellen Fotos von ihm. Doch genau diese Tatsache machte von Werdenberg zu der bekannten und schillernden Persönlichkeit, die er war. Er verkörperte die wohltuende Antithese zu den modernen Managern, die keine Gelegenheit für eine peinliche Homestory oder einen medienwirksamen Auftritt an sich vorbeigehen ließen.
»Ja, der Name von Werdenberg ist mir ein Begriff«, antwortete Philipp kurz. Das sanfte »von« zeigte den Weltbürger. Es war ihm immer noch schleierhaft, was die Rektorin eigentlich von ihm wollte.
Fries ließ ihn weiter zappeln. Sie schien keine Eile zu haben. »Ich kenne Alexander von Werdenberg nur flüchtig. Wir haben zusammen an einigen, sagen wir mal, inoffiziellen politischen Gesprächen teilgenommen, und von Werdenberg hat die Bildungslandschaft der Schweiz immer wieder großzügig gefördert. Verschwiegen. Altes Geld. Mäzenatentum wie aus dem Bilderbuch. Wie Sie vielleicht wissen, ist Alexander von Werdenberg nicht mehr der Jüngste. Zwar ist er bis heute topfit, aber das Rad der Zeit kann auch er nicht anhalten.«
Die Rektorin machte eine Pause und rührte in ihrem Kaffee. Dabei wippte sie mit dem rechten Fuß. Ungewöhnlich für die sonst so kontrollierte Frau.
»Er muss fast 90 Jahre alt sein.« Philipp versuchte das Gespräch möglichst schnell zu beenden. Denn die Zeit bis zum Beginn seiner Vorlesung hielt auch niemand an. Die Rektorin machte keine Anstalten, die Katze aus dem Sack zu lassen. Stattdessen ermunterte sie Philipp durch ihr Schweigen weiterzureden.
»Obwohl man in der Öffentlichkeit nicht viel über ihn weiß, gilt sein Arbeitsethos bei den Angestellten der Privatbank von Werdenberg als legendär. Ich habe gehört, dass Alexander von Werdenberg 24 Stunden am Tag erreichbar sei und kaum Essen und Schlaf benötige. Also ein noch größeres Arbeitstier als Sie, Frau Fries.« Philipp wusste, wie er die Rektorin auf die Palme bringen konnte.
»Machen Sie nur Ihre Witze, Humboldt. Allerdings möchte ich Sie daran erinnern, dass ich in dieser Institution das Sagen habe und Sie im akademischen Bereich – mit Verlaub – nach wie vor ein Neuling sind. Ihre Professur, ich meine …«, ihre Lippen formten sich zu einem süffisanten Lächeln, »… Ihre Titularprofessur haben Sie ausschließlich mir zu verdanken. Außerdem habe ich Sie bei dieser unsäglichen Geschichte bei der letztjährigen Abschlussfeier gedeckt.«
Philipp hob entschuldigend die Hände. »Der besoffene Kerl hat mehrere Studentinnen betatscht und außer mir ist niemand eingeschritten. Eigentlich hätten Sie mir einen Orden für Zivilcourage verleihen müssen.«
»Für Zivilcourage muss man keinem Studenten die Nase brechen.«
»Vergessen Sie bitte nicht die Platzwunde auf meiner Stirn«, verteidigte sich Philipp.
Die Rektorin schüttelte den Kopf, konnte sich aber ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Es ist mir bis heute schleierhaft, wie der Student, notabene einen Kopf kleiner als Sie, mit seiner Nase gegen Ihre Stirn geschlagen haben soll. Von der gequetschten Rippe gar nicht zu reden.«
»Die Rippe war ein unglücklicher Unfall, als ich den Typen zur Tür begleitet und …«
»… ihn kopfüber auf den Gehsteig bugsiert haben. Nun gut, lassen wir das. Es ist ja nie zu einer Anzeige gekommen.«
Philipp trank seinen Kaffee, der zu seiner Erleichterung nach Koffein und nicht nach Montagmorgen schmeckte. Er blickte der Rektorin offen in die Augen und tippte auf die Uhr. Diesmal verstand Fries die Geste.
»Lassen Sie uns zur Sache kommen, Professor Humboldt. Sie machen einen tollen Job und die Universität ist außerordentlich zufrieden mit Ihnen. Ihre Vorlesungen erfreuen sich großer Beliebtheit, und Ihre Habilitation hat eine wichtige Forschungslücke gestopft. Die Bedeutung der Finanzindustrie für die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz wurde in der Wissenschaft lange vernachlässigt und nicht in der notwendigen Breite erforscht. Darum habe ich Ihren interdisziplinären Lehrstuhl geschaffen. Sie bringen frischen Wind auf die Gänge des Campus. Das gefällt mir. Andererseits ist da natürlich auch die finanzielle Komponente. So ein Lehrstuhl kostet viel Geld. Und da sind wir beim Grund unseres Gesprächs angelangt. Herr von Werdenberg ist an mich herangetreten. Er will seine Firmengeschichte in Auftrag geben. Sein Vermächtnis. Und er will, dass Sie es schreiben, Humboldt.«
Philipp hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit einer banalen Firmengeschichte. Es überkam ihn ein akuter Lachanfall, den er beim besten Willen nicht unterdrücken konnte. Er schüttelte sich vor Lachen und hob entschuldigend die Hände. Währenddessen stieg der Rektorin die Zornesröte ins Gesicht. Ein überhitzter Dampfkochtopf kurz vor dem Bersten. Der Druck entlud sich in einer wüsten Schimpftirade, die Philipp nur noch weiter anstachelte.
»Es ist mir natürlich klar, dass Sie als ehemaliger CEO glauben, etwas Besseres zu sein. Wir sind ja nur dämliche Beamte. Aber ich kann Ihnen jederzeit den Stecker ziehen, Humboldt. Und das werde ich tun, das schwöre ich bei Gott, wenn Sie nicht sofort mit Ihrem dämlichen Lachen aufhören! Ich löse noch heute Ihr kleines Institut auf, und dann können Sie sich Ihre verdammte Vorlesung sonst wo hinstecken!«
Ihr Wutanfall wurde durch ein Klopfen unterbrochen. Der Sekretär steckte seinen Kopf ins Zimmer. »Alles in Ordnung, Frau Fries? Sie wissen doch, dass Sie sich nicht so aufregen sollen. Ihr Arzt hat gemeint …«
»Ich rege mich nicht auf!«, schrie sie und wies ihren Adjutanten mit einer schroffen Handbewegung an, die Tür augenblicklich wieder von außen zu schließen. Fries zitterte wie eine angeschlagene Stimmgabel.
Philipp setzte sich in der Zwischenzeit gegen seinen Lachanfall zur Wehr. Er dachte im Schnelldurchlauf an seine verstorbenen Eltern, an längst vergangene Probleme mit Sophie und weitere dunkle Seiten seines Lebens, was den Lachkrampf milderte. Er schüttelte entschuldigend den Kopf, atmete tief aus und strich sich mit dem Ärmel seines Jacketts die Tränen aus dem Gesicht. »Sorry, Rektorin Fries. Mit einer Firmengeschichte hätte ich wirklich nicht gerechnet. Einmal mit von Werdenberg über das Bankgeschäft diskutieren oder ein Beratungsmandat übernehmen, gerne. Aber eine Firmengeschichte? Da gibt es kompetentere Kandidaten. Warum nicht einen Historiker damit beauftragen? Oder fragen Sie doch Frau Professorin Schelbert. Die freut sich sicher über einen öffentlichen Auftrag. Ich habe so etwas nie gemacht. Zudem hat gerade das Semester begonnen. Mit meiner Vorlesung, dem Seminar und der Betreuung der Doktoranden bin ich voll ausgelastet. Und forschen soll ich ja auch noch.«
Fries stand auf und blickte aus dem Fenster