Andreas Russenberger

Bahnhofstrasse


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gelesen. Bücher haben mich immer fasziniert. Schon mein Deutschlehrer am Gymnasium hat uns geraten, niemandem zu trauen, dessen Fernseher größer ist als die Bibliothek.«

      Der Patron lachte herzhaft.

      Damit war das Thema abgehakt. Von Werdenberg setzte sich ohne weitere Worte in einen modernen italienischen Designerstuhl und wies Philipp an, ebenfalls Platz zu nehmen. Er goss beiden einen Whiskey ein und trank nach britischer Manier, ohne anzustoßen. Das Getränk roch nach Torf und Holz. Das lodernde Feuer in von Werdenbergs Augen war verschwunden und professioneller Nüchternheit gewichen. Der Verkauf seines Lebenswerks an die Zürcher Investment Bank sei für ihn, so von Werdenberg, nach langer Überlegung die beste Lösung. Er wolle »die vom Paradeplatz« aber noch etwas zappeln lassen und den Preis in die Höhe treiben. Die Schallgrenze von einer Milliarde Schweizer Franken sei durchaus realistisch. Er zeigte sich jetzt als der knallharte Geschäftsmann, der er war. Das Geld sei ihm so wichtig, weil der größte Teil des Erlöses in die Stiftung seiner Tochter fließen solle. Eine fundierte Publikation über sein Unternehmen käme ihm und vor allem seiner Tochter gelegen.

      »Sie sehen also, Herr Professor, ich will etwas Positives hinterlassen. Es geht um nichts Geringeres als mein Vermächtnis.« Von Werdenberg machte eine kurze Pause und drückte den Rücken durch. »Meine Tochter will das Familienunternehmen nicht weiterführen. Nicht aufgrund fehlender Fähigkeiten, sondern weil sie andere Interessen hat. Das Sein war für sie schon immer wichtiger als das Haben. Ganz die verstorbene Mutter. Ich muss den letzten Schritt nun initiieren, solange ich den Prozess noch selber in der Hand habe. Ich konnte mich bis jetzt auf meine robuste Gesundheit verlassen, aber machen wir uns nichts vor. Ich bin in einem Alter, in dem man bei jeder Todesanzeige unwillkürlich auf den Jahrgang des Verstorbenen blickt.«

      Es wurde kurze Zeit still wie in einem vollbesetzen Wartezimmer. Dann nahm von Werdenberg den Faden wieder auf. »Bitte erzählen Sie mir doch einmal, warum Sie vor vier Jahren die Zürcher Investment Bank als CEO verlassen haben. Ihr mutiger Schritt hat für einigen Wirbel gesorgt auf dem Bankenplatz. Gibt es irgendwelche Leichen im Keller der Bank, von denen ich wissen müsste?«

      »Nein, es sind keine Leichen begraben«, log Philipp, ohne zu zögern. »Die Zürcher Investment Bank ist kerngesund«, ergänzte er wahrheitsgetreu. »Ich wollte damals aus meiner Komfortzone ausbrechen. Etwas Neues ausprobieren, Adrenalin spüren, spannende Dinge lernen. Und vor allem mehr Zeit für meine Familie haben. Bereut man dereinst nicht die Dinge, die man nicht getan hat?«

      Von Werdenberg nickte kaum wahrnehmbar. »Sie haben so recht, mein lieber Professor. Die meisten Menschen kleben in ihrer Komfortzone wie die Fliege im Netz. Und erst die Ausreden, warum man nicht das Leben führen kann, von welchem man als Kind geträumt hat: Immer ist es gerade zu heiß, zu kalt, zu früh, zu spät, zu einfach oder zu kompliziert, um sein Leben in die eigene Hand zu nehmen.«

      Eine Frage brannte Philipp unter den Nägeln: »Warum ist Ihre Wahl auf mich gefallen? Es gibt sicher Professoren und Journalisten, die mindestens so gut, wenn nicht sogar besser für die Aufgabe geeignet wären.«

      Von Werdenberg zögerte keine Sekunde mit der Antwort. »Sie kennen die Zürcher Investment Bank und deren Führungsetage wie kein Zweiter. Ich kann mir beim besten Willen keinen idealeren Sparringspartner vorstellen. Und als ehemaliger Topmanager können Sie mit Zeitdruck umgehen. Die Arbeit muss Ende Januar fertiggestellt sein. Besser schon früher. Wir wollen ja nicht den Pulitzer-Preis gewinnen.«

      Philipp legte die Stirn in Falten. »Das wird sehr knapp werden.«

      Von Werdenberg machte deutlich, dass der Termin nicht verhandelbar sei. »Alle Informationen liegen auf dem Tisch. Wir werden uns so oft treffen, wie Sie es für nötig halten. Bei diesen Meetings werde ich Ihnen alle Fragen beantworten. Ihr Team wird Zugang zu meinem Bankarchiv erhalten. Wir haben bereits viele Unterlagen aufgearbeitet. Alle bekannten Hintergrundinformationen findet man in den üblichen Pressearchiven. Darüber hinaus werden wir Ihnen ja Frau Loppacher zur Seite stellen. Sie werden von ihr begeistert sein. Und Sie haben sicher einen Assistenten, den Sie abkommandieren können. So werden Sie in kurzer Zeit ein Manuskript verfassen. Ich besitze einen eigenen Verlag in Deutschland, der die Abschlussarbeiten übernehmen wird. Ich will das Projekt vorantreiben, solange ich noch kann. Jeder stirbt an einem Tag.«

      »Aber an allen anderen nicht«, dachte Philipp laut.

      »Schön gesagt! Von wem ist dieser Satz? Shakespeare?«

      »Nein. Snoopy …«, antwortete Philipp trocken.

      Von Werdenberg hob die Augenbrauen und zögerte einen Moment. Dann lachte er schallend und nahm einige Dokumente aus einer Ledermappe. »Hier sind die üblichen Formulare hinsichtlich Vertraulichkeit. Ich bitte Sie, diese zu unterschreiben und an uns zu retournieren. Es wartet leider ein Kunde auf mich. Haben Sie sonst noch Fragen, Herr Professor Humboldt?«

      »Nein. Aber ich möchte mich nochmals für Ihr Vertrauen und die großzügige Spende bedanken. Ich hoffe, ich werde alles zu Ihrer Zufriedenheit erledigen.«

      »Daran habe ich keine Zweifel. Wir haben Ihre Karriere mit großem Interesse verfolgt, Herr Humboldt. Wir sind uns ähnlich. Ähnlicher, als Sie ahnen.«

      Philipp nahm diese Aussage als Kompliment. Dass sie auch eine versteckte Drohung sein könnte, wäre ihm zu diesem Zeitpunkt nie in den Sinn gekommen.

      Das Spiegelbild

      Alexander von Werdenberg stand am Fenster und beobachtete mit dem nachgefüllten Whiskeyglas in der Hand, wie Philipp Humboldt das Gebäude verließ und um die Ecke des Hotel Savoy verschwand. Er bemerkte gerade noch rechtzeitig die kleine Biene, die – angezogen vom intensiven Geruch des Getränks – in ebendiesem um ihr Leben strampelte. Von Werdenberg befreite das emsige Arbeitstier mit dem Zeigefinger, öffnete das Fenster und beförderte die Biene vorsichtig auf den Fenstersims, wo sie sich nach einer kurzen Verschnaufpause aus dem Staub machte.

      Zufrieden ging von Werdenberg in den Nebenraum, in dem er über die Jahre unzählige Nächte verbracht hatte. Boxspringbett, Waschraum, Ankleide, ein ultramodernes Kinesis-Trainingssystem, was zum Teil seine kräftige Statur erklärte. Hinter einer weiteren Tür verbarg sich eine schmale Wendeltreppe, die das Réduit mit der privaten Tiefgarage unter dem Gebäude verband. So konnte von Werdenberg ungesehen kommen und gehen, wann er wollte. Der Bankier wusch sich sorgfältig Hände und Gesicht. Dann drehte er sich um und blickte in die Augen seines Gegenübers. In seine Augen.

      »Was ist, wenn er es herausfindet? Dieser Humboldt ist nicht auf den Kopf gefallen. Und seine Visage gefällt mir gar nicht. Müsste mal bearbeitet werden.« Alexander von Werdenbergs Ebenbild hatte etwas Sardonisches, Grobes. Und die Hautfarbe war fahler als beim Original.

      »Ich muss Gewissheit haben, dass unser Geheimnis nie an die Öffentlichkeit gelangt. Es ist an der Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Julia kann mit ihrer Stiftung viel bewirken. Aus Bösem wird so Gutes entstehen. Wir beide sind dem Namen von Werdenberg etwas schuldig. Glaub mir, der Professor ist unser Mann.« Alexander von Werdenberg schloss die Augen und versuchte, sich an die Geschehnisse jener Zeit zu erinnern. Es war ein Abgrund, der ihn jederzeit verschlingen konnte. Hastig katapultierte er sich in die Gegenwart zurück.

      Der Fahle war nach wie vor nicht überzeugt. »Um unser Geheimnis zu schützen, soll Humboldt die Firmengeschichte schreiben? Das macht keinen Sinn! Lassen wir die schlafenden Hunde ruhen. Du wirst im fortgeschrittenen Alter noch zum Reichsbedenkenträger.«

      »Kann sein«, murrte von Werdenberg zurück. »Doch nur dank meiner Kunst des Zweifelns ist unser Geheimnis bislang unentdeckt geblieben. Und so soll es auch bleiben. Durch den Verkauf der Bank wird unser Name sowieso an die Öffentlichkeit gezerrt. Sollte es also wirklich schlafende Hunde geben, die unser Geheimnis kennen, will ich sie aufstöbern, bevor sie zu kläffen beginnen. Jetzt können wir noch angemessen reagieren, sie zum Schweigen bringen. Vertrau mir. Ein letztes Mal. Wenn dieses Kapitel geschrieben ist, sind wir sicher. Und wenn Humboldt uns tatsächlich auf die Spuren kommen sollte, dann hat er mindestens so viel zu verlieren wie wir. Wenn nicht mehr. Er ist wie eine Marionette in unserer Hand. Und für den Notfall haben wir ja Horowitz.«

      »Es