Bella vor einigen Jahren im Appenzellerland zum ersten Mal gesehen hatte. Diese Rasse sei, so die Leiterin des Tierheims, ausgesprochen familienfreundlich, intelligent und treu. Bella im Speziellen sei immer fröhlich, spielbereit und pflege einen äußerst harmonischen Umgang mit ihrem Herrchen. Sogar von einer unglaublichen Problemlösungskompetenz war die Rede. Alle Attribute stellten sich als wahr heraus, einmal abgesehen von der Problemlösungskompetenz. Bella war jedenfalls zu einem festen Bestandteil der Familie geworden. Das nasskalte Wetter behagte der alten Hundedame wenig, sodass sie nach einem kurzen Abstecher ins Gras sogleich wieder in die warme Stube verschwand.
»Schwupp und weg. Schläft neuerdings bei unserem Jungen im Bett. Dort hören sie zum Einschlafen zusammen die Geschichten der Drei ???. Wir haben den Widerstand aufgegeben. Chancenlos.«
»In meinem nächsten Leben wäre ich auch gerne ein Hund. Aber nur bei euch. Fressen, saufen, schlafen, ein bisschen die Beine vertreten und rund um die Uhr verwöhnt werden. Und zum Einschlafen dann sogar noch Justus, Peter und Bob! Was will man mehr …«
Philipp lachte laut auf. Er hielt die Zigarette in der hohlen Hand, um sie vor dem Wind zu schützen, nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch in den trüben Nachthimmel.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass du und Verena nach wie vor Stress habt? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum du sonst aus einem Napf unter meinem Tisch fressen willst.«
Ein trauriges Lächeln huschte über Armands Gesicht. Er blickte gedankenverloren auf die andere Seeseite. Nur wenige Lichter brannten um diese Zeit, sodass sich dunkle Löcher in die exklusiven Hügel der Goldküste fraßen.
»Gut geraten, Sherlock. Ich glaube, Verena wird mich verlassen. Vielleicht hat sie das schon getan und ich habe es einfach nicht gemerkt. Wer kann es ihr verdenken? Sie hat sich in einen Priester verknallt und einen Bullen bekommen. Früher habe ich den armen Teufeln die Beichte abgenommen, heute jage ich sie.«
Philipp suchte nach tröstenden Worten für seinen Freund. Den Gemeinplatz, dass jede zweite Ehe geschieden werde und die Trennungsquote von unverheirateten Paaren wie bei ihnen noch wesentlich höher liege, nahm Armand schweigend zur Kenntnis. Auch die Vorschläge, es mit einer längeren gemeinsamen Reise zu versuchen, hellten seine Stimmung nicht auf. Trübsinnig fuhr er fort.
»Als wir uns in meiner Priesterzeit kennenlernten, hat Verena etwas in mir gesehen, etwas in mich hineininterpretiert, was ich nun mal nicht bin. Vielleicht hat auch das Verbotene damals einen gewissen Reiz ausgeübt. Gereist sind wir übrigens zur Genüge: Argentinien, Kanada, Japan, Paris, Rom, London, Lissabon … Du hast mich ja finanziell gut unterstützt.«
Philipp wiegelte ab. Die Sache mit der Tasche hatte ihr erstes gemeinsames Abenteuer beendet. Philipp hatte sich damals bei Armand großzügig für dessen Hilfe bedankt. Mit einer Sporttasche – gefüllt mit Tausendernoten. Die beiden Freunde sprachen selten darüber. Eine informelle Abmachung.
»Versteh mich richtig, Philipp, Verena und ich werden hoffentlich Freunde bleiben. Aber unsere Beziehung hat keine Zukunft. Sie muss ihr Leben neu sortieren und ich meines.«
Sie standen eine Weile still unter dem Vordach und lauschten dem Geschirrgeklapper in der Küche.
»Genug Trübsal geblasen«, sagte Armand und drückte seine Zigarette im Gras aus. »Wie geht es der Familie? Die haben sich ja gut versteckt heute.«
Philipp nickte schmunzelnd. »Gut erzogen halt.« Dann drückte er seine fast runtergerauchte Zigarette ebenfalls aus, hielt Armand die offene Hand hin und entledigte sich beider Kippen in einem leeren Blumentopf. »Die Kleine ist Zucker. Mit zwölf zwar kurz vor der Pubertät, aber da mache ich mir keine Sorgen. Michelle ist gut im Gymnasium, weiß, was sie will, und kommt ganz nach ihrer Mutter. Die zwei sind ein Herz und eine Seele. Ich könnte sie tagelang nur ansehen und es würde mir keine Sekunde langweilig werden. Und Sophie als Rechtsprofessorin hat zu Hause natürlich immer Recht. Na ja, das kennst du ja.«
»Und der kleine Wildfang?«
Philipp atmete laut aus und schnorrte vor der Antwort eine weitere Zigarette von Armand. Ratlos zog er die Schultern und Augenbrauen hoch. »David kommt definitiv nach mir! Mit neun ist er natürlich noch voll in der Persönlichkeitsentwicklung. Er steht sich manchmal selbst im Weg und ist unkontrollierbar wie eine V2-Rakete. Er hat zwei Gesichter. Einmal farbig, dann wieder schwarz-weiß, wie die Seiten bei den alten Micky-Maus-Taschenbüchern. Neulich hat er den Sohn des Dorfmetzgers verdroschen, der notabene einen Kopf größer ist als er selbst. Anscheinend hat der Junge unsere Michelle auf dem Schulhof gehänselt, und das kann David nicht leiden. Weckt seinen Beschützerinstinkt.«
»Ist doch super, wenn er seine Schwester verteidigt«, sagte Armand und versuchte, sein Patenkind in Schutz zu nehmen.
»Schön und gut. Aber deshalb muss man ja nicht gleich zuschlagen. Weißt du, was er zu dem Metzgersohn gesagt hat, als dieser mit blutiger Nase unter ihm am Boden lag? Ob es denn gern noch ein bisschen mehr sein dürfe …«
Sie mussten laut lachen. Die Erinnerungen an die Metzgereibesuche in ihrer eigenen Jugendzeit waren noch sehr präsent. Armand klopfte seinem Freund auf den Rücken.
»Mach dir mal keine Sorgen, das wird alles gut mit dem Kleinen. Und sonst hat er ja einen strengen Patenonkel! Apropos Sorgen.« Armand dämpfte die Stimme. »Mir gefällt dein neuer Nebenjob bei dieser Werdenberg Bank überhaupt nicht. Als du vor einigen Jahren die Zürcher Investment Bank verlassen hast, war das der richtige Schritt zum idealen Zeitpunkt. Du führst jetzt das Leben, das du immer wolltest. Warum etwas riskieren? Lass deine Vergangenheit hinter dir. Ich habe echt ein ungutes Gefühl. Es ist gefährlich, in trüben Gewässern zu fischen, man weiß nie, was man an Land zieht.«
Philipp hatte geahnt, dass sein Freund ihm bei der erstbesten Gelegenheit ins Gewissen reden würde. Armand war es damals gelungen, Philipp zu helfen, seine Dämonen zu kontrollieren. Philipp hatte ihn dafür aus der scheinheiligen Welt der Engel befreit, in der er sich als Priester bewegt hatte. Daraus war eine tiefe Freundschaft entstanden. Er vertraute seinem Freund blind. Beide hatten den Schritt aus ihrer Komfortzone gewagt und ihr Outfit getauscht – Philipp den Anzug gegen die Tweedjacke und Armand den Talar gegen die Polizeiuniform. Die Kriminalpolizei Zürich hatte ihren ehemaligen Beamten gerne wieder aufgenommen, trotzdem musste sich Armand wegen seines Abstechers in die klerikale Welt so einige Sprüche anhören.
Die zwei Freunde betrachteten eine Weile die Lichter auf der gegenüberliegenden Seeseite. Die Löcher in der weihnachtlichen Lichterkette waren noch größer geworden. Philipp versuchte, seinen Freund zu beruhigen.
»Ich habe mir das Projekt nicht ausgesucht. Die Rektorin hat mir sozusagen die Pistole auf die Brust gesetzt. Aber die Vorteile sprechen für sich. Die Universität bekommt ein riesiges Legat und ich mein eigenes Institut. Das ist eine einmalige Gelegenheit, bei der ich einfach zugreifen muss. Und vor allem geht es bei diesem Projekt ja nicht um meine Vergangenheit, sondern um die der Familie von Werdenberg. Da wird schon nichts passieren. Alexander von Werdenberg ist ein Patron alter Schule, der könnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Aber ich werde vorsichtig sein. Versprochen.« Er legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. »Und glaub mir, ich habe nicht vor, die alten Geister wiederauferstehen zu lassen.«
Armand nickte nachdenklich, war allerdings nicht wirklich beruhigt. »Vielleicht habe ich auch eine kleine Paranoia entwickelt, seit ich wieder bei der Polizei bin. Déformation professionnelle. Ich habe mich jedenfalls ein bisschen umgehört und außerdem meine Assistentin auf die Privatbank von Werdenberg angesetzt.«
»Und?«
»Die Bank scheint tatsächlich nie in große Skandale verwickelt gewesen zu sein. Keine Bußen wegen Geldwäsche, keine Berichte über nachrichtenlose Vermögen, keine Kartellabsprachen. Einzig im Zusammenhang mit einigen verschwundenen Personen ist sie indirekt erwähnt worden.« Armand legte eine Kunstpause ein. Mit Erfolg.
»Das musst du mir erklären«, sagte Philipp prompt.
»Meine Assistentin ist nicht nur Profilerin, sondern auch ein richtiger Computerfreak. Sie ist zufällig darauf gestoßen, als sie alle Personen, die im Zusammenhang mit der Bank von Werdenberg irgendwo elektronisch