Andreas Russenberger

Bahnhofstrasse


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ihn zukommen würde. Vorwärts gesehen.

      Der Auftraggeber

      »Hat er angebissen?« Seine Stimme klang tief und weich, wie eine Felldecke.

      »Ja«, sagte die Rektorin. »Aber genau genommen habe ich zugebissen.«

      »Gut, wir bleiben in Kontakt.« Er beendete zufrieden das Telefongespräch. Fries war zuverlässig. Wobei das bei der Summe, die er in Aussicht stellte, zu erwarten gewesen war. Er erhob sich aus seinem imposanten Bürosessel und drückte den Rücken durch. Die Schmerzen waren an diesem Morgen fast unerträglich. Die Bandscheibe und das schlechte Wetter – eine unheilvolle Allianz. Trotzdem fühlte er sich wohl in seiner Haut. Er hatte gelernt, mit dem Leiden umzugehen, und wollte es mittlerweile nicht mehr missen. Die Schmerzen waren das untrügliche Zeichen, dass er noch am Leben war. Nichts setzte so viel Adrenalin im Körper frei. Außer vielleicht Todesangst, das reinste Doping. Und wenn man in seinem Leben so viele Stresshormone durch den Körper gejagt hatte wie Alexander von Werdenberg, konnte man schon süchtig danach werden. Sorgfältig entfernte er einen Fussel am Ärmel seinen Jacketts, zupfte das weiße Einstecktuch zurecht und goss sich dann zufrieden ein Glas trockenen Sherry ein. Alles lief nach Plan.

      Bis jetzt.

      Bahnhofstrasse

      Zürich, 17. September

      Schon am nächsten Nachmittag stand Philipp an der Bahnhofstrasse und betrachtete den Eingang der Privatbank von Werdenberg. Zwischendurch ratterte eine der blau-weißen Trams vorbei und versperrte ihm für kurze Zeit die Sicht. Der geheimnisvolle Bankier hatte ihn bei ihrem Telefongespräch freundlich gebeten, gleich wenige Stunden später zu ihm ins Büro zu kommen. Der Hauptsitz der Bank lag, wie nicht anders zu erwarten, an der Straße mit den teuersten Uhren der Welt. Mit dem Einzug der beliebigen Kleiderketten und den weltweit bekannten Marken war die Exklusivität der 1,4 Kilometer langen Bahnhofstrasse zwar verschwunden, aber die gediegene Architektur und das schöne Panorama, vor allem dort, wo sich die Sicht auf den See und die Berge zu öffnen begann, waren geblieben.

      Philipp betrachtete interessiert die Fassade des stattlichen Gebäudes, das die Privatbank von Werdenberg beherbergte. Vielleicht hatte hier vor hundert Jahren eine wohlhabende Familie gelebt, die ihr Geld in der Industrie gemacht hatte? Wer weiß. Heute gehörten die Gebäude an der Bahnhofstrasse Banken, Versicherungen, ausländischen Konsortien und vermehrt auch Pensionskassen, die ihr Geld im Betongold anlegten.

      Philipp war früh dran und flanierte ein wenig durch die Gegend, die lange Zeit seine Heimat gewesen war. Es fühlte sich seltsam fremd und sogar etwas einsam an, wie wenn man nach vielen Jahren einen alten Freund wiedersieht und sich nichts mehr zu sagen hat. Philipp überquerte den fast menschenleeren Bürkliplatz. Die Mittagspause war schon vorbei und der Feierabend stand erst noch vor der Tür. Die meisten der kaufmännisch Angestellten arbeiteten also gerade oder taten zumindest so. Ein junges Elternpaar war mit seinen Kindern unterwegs, ein Hund schnupperte an einem Hydranten und wollte sich von seinem Herrchen partout nicht zum Weitergehen überreden lassen. Ein asiatisches Paar begutachtete die Einkäufe. Zwei Rentner genossen nach dem verregneten Wochenstart die milden Temperaturen auf einer Parkbank und unterhielten sich ruhig mit lauter Stimme. Das Gespräch drehte sich um die Misere eines Zürcher Fußballklubs. Philipp lächelte – sein Sohn David besaß ein Trikot des Rekordmeisters.

      Am Seebecken blinzelte Philipp in die Sonne und genoss das herrliche Panorama. Die Berge schienen an diesem föhnigen Tag wie gemalt und zum Greifen nah. Der See roch nach Wasser mit einer Prise Tang. Laute Musik wummerte aus einem vorbeifahrenden Auto. Möwen kreischten und missgönnten sich jede Brotkrume.

      Sehr menschlich, diese Tiere.

      Philipp entschied sich, einen Kaffee im Hotel Storchen zu sich zu nehmen, und ging zum Weinplatz hinunter. Da Zürich durch keinen der großen Kriege versehrt worden war, konnte das Hotel Storchen auf eine über 600-jährige Geschichte zurückblicken. Es hatte schon illustre Persönlichkeiten wie Richard Wagner oder Grimmelshausen beherbergt. Dank des schönen Wetters und der milden Temperaturen standen einige Tische vor dem Hotel auf dem Weinplatz. Philipp setzte sich auf einen freien Platz und bestellte eine Tasse Kaffee. Genüsslich zog er die frische Luft tief in seine Lungen. Er überlegte kurz, sich eine Zigarette anzuzünden, ließ dann aber davon ab. Er wollte bei seinem ersten Treffen mit von Werdenberg nicht nach kaltem Rauch stinken. Stattdessen studierte er die Gegend und ließ die Seele baumeln. Das Grossmünster präsentierte sich auf der anderen Flussseite unter dem strahlenden Himmel in seiner ganzen Pracht und die beiden blau-weißen Fahnen auf den charakteristischen Doppeltürmen bewegten sich sanft im Wind. Philipp glaubte fast, ihr Flattern zu hören. Die Kirche soll der Legende nach von keinem Geringeren als Karl dem Großen gegründet worden sein. Und heute war Kaiserwetter. Postkartenidylle.

      Vor dem Hotel herrschte Fahrverbot. Eigentlich. Ein Elektroradfahrer schoss ohne Rücksicht auf Verluste in halsbrecherischem Tempo an den Fußgängern vorbei. Er war dabei so auf die Beherrschung seines Gefährts konzentriert, dass er die eindeutige Geste des Kellners, den er beinahe überrollt hatte, nicht bemerkte. Die militanten Radfahrer waren zu einer regelrechten Plage geworden, fand Philipp. Was ihn vor allem ärgerte, war deren heuchlerische Selbstgerechtigkeit, das Gefühl moralischer Überlegenheit gegenüber allen, die sich anders fortbewegten. Dabei bleibt ein Idiot ein Idiot, egal ob er im Auto, auf einem Fahrrad oder sonst wo sitzt. Die Szene war aber in dem Moment schon wieder Geschichte, als Philipp den Kaffee serviert bekam. Sein Lieblingsgetränk, einmal von Rotwein abgesehen, war schon lange zu einer Sucht geworden. Er nahm sofort einen kleinen Schluck. Kaffee musste heiß sein. Kalter Kaffee war für ihn ungenießbarer als die Zeitung von gestern.

      An einem Nebentisch saßen einige Banker in dunklen Anzügen. Sie tuschelten und schauten zu Philipp hinüber. Er nickte ihnen kurz zu. Wahrscheinlich hatten sie ihn erkannt oder sogar für ihn gearbeitet. Die Gesichter kamen ihm nicht bekannt vor. Als CEO hatte er viele tausende Mitarbeiter unter sich gehabt. Es konnte allerdings auch an diesen unsäglichen Hipsterbärten liegen, die sie allesamt trugen, dass er sie nicht unterscheiden konnte. Ursprünglich vielleicht einmal als Zeichen von Individualität gedacht, waren die Bärte mittlerweile nur noch Mainstream. Was mochte wohl die Botschaft sein: Hallo, ich bin eigentlich ein unerschrockener Hockeyspieler?

      Nun gut.

      Philipp schloss die Augen und atmete tief durch. Nicht negativ werden. Er hatte nach seinem Abschied als CEO der Zürcher Investment Bank vor rund vier Jahren einige Zeit gebraucht, um all den Stress und schizophrenen Verfolgungswahn loszuwerden. Er hatte nicht vor, sich wieder dort hineinziehen zu lassen, und zündete sich jetzt doch eine Zigarette an. Er war gespannt auf die erste Begegnung mit dem legendären von Werdenberg. Die Webseite der Bank hatte nicht viel preisgegeben. Es war von einigen hundert Mitarbeitenden zu lesen, die meisten davon arbeiteten in der Peripherie. Lediglich der innerste Zirkel hielt sich an der Bahnhofstrasse auf. Ansonsten fand man die üblichen Floskeln. Transparent wolle man sein. Nichts versprechen, was man nicht einhalten könne. Man konzentriere sich auf die Dinge, die man beeinflussen könne. Philipp kannte die Marketingsprüche bestens aus eigener Erfahrung. Schlussendlich kochten aber alle Finanzinstitute nur mit Wasser. Die einen besser als die anderen, keine Frage. Und die Privatbank von Werdenberg gehörte definitiv zu denen mit vielen Gault-Millau-Punkten.

      30 Minuten, zwei Zigaretten und eine weitere Tasse Kaffee später machte sich Philipp auf den Weg zu seinem Termin. Vor dem Gebäude kontrollierte er Krawatte, Hemd, Jackett und Schuhe. Der anthrazitfarbene Anzug saß perfekt, wie gestern gekauft. Die Krawatte hatte er mangels Übung dreimal binden müssen, bis die Länge passte, bündig mit der Gürtelschnalle. Keinen Zentimeter länger, keinen kürzer. Er trat näher an den Eingang heran. Keine Tafel oder sonstige Beschriftung wies darauf hin, dass sich hier ein Geldinstitut befand. Offensichtlich war man nicht an Laufkundschaft interessiert. Und Diskretion hatte in diesem Geschäft bekanntlich noch nie geschadet.

      Philipp drückte den unscheinbaren Klingelknopf, nachdem er vergeblich nach einer Klinke Ausschau gehalten hatte. Als habe man bereits auf ihn gewartet, öffnete sich die gusseiserne Tür und er betrat das Gebäude. Dort empfing ihn eine Sicherheitsschleuse mit Gegensprechanlage und einer kleinen Überwachungskamera.

      »Sie