Christof Gasser

MordsSchweiz


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rufen, dass es eine Zeit gab, in der man nicht überall angerufen werden konnte, sondern nur dort, wo ein Telefon mittels eines Kabels mit einem realen Netz verbunden war. Die Apparate dienten einzig und allein der Telefonie, der Spaßfaktor bewegte sich gegen Null. Aus Kostengründen rief man nicht einfach irgendjemanden an oder schickte Kussmünder in der Gegend herum, jeder Anruf hatte seinen Grund.

      Der Postenchef zeigt auf seine Zeitung, dann auf die Armbanduhr und hebt bedauernd die Schultern. Die Polizistin setzt sich an ihren Schreibtisch und nimmt den Hörer ab.

      »Polizeiposten Stein am Rhein, Schwarz am Apparat.«

      Sie hört kurz zu und nimmt dann Haltung an. »Guten Abend, Herr Doktor. Natürlich, gleich, selbstverständlich. Er ist da. Ich verbinde.«

      Engeler schüttelt den Kopf.

      Sie hält die Hand über die Hörermuschel. »Der Kommandant.«

      Nun nimmt auch er Haltung an und versucht gleichzeitig, den Bauch einzuziehen.

      »Engeler am Apparat. Guten Abend, Herr Dr. Steger. Nein, bei uns ist alles ruhig, heute keine nennenswerten Vorkommnisse.« Er schüttelt den Kopf. »Die Bevölkerung? Ich glaube nicht, dass das Sicherheitsempfinden abhängig ist von … nein, ganz im Gegenteil. Sicher, aber … verstehen Sie mich nicht falsch, aber …«

      Polizistin Schwarz hört dem Gestammel eine Weile zu, holt dann einen Spitzer aus der rechten Schublade ihres Pultes und beginnt, die Bleistifte, die sauber aufgereiht auf ihrer Tischplatte liegen, zu spitzen. Das Gespräch dauert genau drei Stifte. Dann haut Engeler den Hörer auf die Gabel.

      »Willst du einen Kaffee?«

      »Keine Zeit. Wir haben einen Einsatz!«

      »Wo?« Sie legt den Spitzer in die Schublade.

      »Irgendwo. Der Chef will einen Fall von uns. Sofort.«

      »Wie soll das gehen?« Die Schwarz schnallt sich das Halfter mit der Dienstpistole um.

      »Wir sollen ein Delikt aufklären. Dr. Steger will Erfolge sehen.«

      »Jetzt haben wir doch immer alles getan, um Verbrechen zu verhindern, haben geschaut, dass die Kriminellen einen großen Bogen um die Region machen. Unsere Präventionsbemühungen wirken. Die Kinder werfen keine Steine, die Jugendlichen frisieren kaum noch Mofas und seit dem letzten geklauten Kaugummi sind drei Jahre vergangen. Wo sollen wir jetzt plötzlich einen Fall hernehmen?«

      »Markovic«, sagt Engeler und zieht die Jacke an.

      »Wie konnte ich den vergessen.«

      Dass die Polizei von Stein am Rhein kaum etwas zu tun hat, ist nicht ganz korrekt. Richtig ist, dass es die Beamten in den letzten Jahren geschafft haben, sich die Fälle vom Leib zu halten. Kaum ein Rapport musste getippt, kaum ein Täter verhört oder die Anzeige eines Opfers aufgenommen werden.

      Die von Claudia Schwarz erwähnte Präventionsstrategie beruht nicht wie üblich auf Information oder Einsicht, sondern vielmehr auf Abschreckung. So wurde ab und zu ein nicht fahrtüchtiges Mofa in den Rhein geworfen, mutmaßliche Einbrecher stolperten und landeten in der Jauchegrube eines nahen Bauernhofes. Man munkelte auch, dass ein Betrüger alle von ihm gefälschten Banknoten einzeln aufessen musste und erst danach den Polizeiposten verlassen durfte. Das sprach sich herum. So gab es im Einsatzgebiet der Kantonspolizei Stein am Rhein dank der konsequenten Überzeugungsarbeit der Beamten kaum mehr nennenswerte Delikte. Mit den übrig gebliebenen Bagatellfällen und den Parksündern durfte sich die Stadtpolizei herumschlagen.

      Und nun soll das alles nicht mehr gut genug sein und der neue Kommandant will Taten statt Sicherheit.

      Von Boris Markovic also soll die Rettung kommen. Kurze Rückblende, wir schauen ein paar Stunden zurück. Früh am Morgen rief Adrian Kobler an. Der Bauunternehmer wollte, dass Schwarz und Engeler unverzüglich vorbeikommen. Sie nahmen den Dienstwagen, umrundeten die Altstadt, fuhren über die Rheinbrücke am Bahnhof vorbei ins Industriegebiet und an die Hofwiesenstrasse zur Baustelle einer neuen Halle für irgendeinen Betrieb. Und daneben lag Boris Markovic im Gras. Mit seltsam abgewinkeltem Kopf. Mausetot. Kobler ging nervös hin und her, zündete sich eine Zigarette nach der anderen an, um diese nach wenigen Zügen wieder auszutreten. Das Gerüst bei seiner Baustelle, das sah Claudia Schwarz sofort, war nicht ausreichend gesichert. Das würde ohne Zweifel Probleme mit der Versicherung geben.

      Markovic, das roch man 20 Meter gegen den Wind, musste ziemlich viel getrunken haben. Wie Engeler annahm, war Markovic in der Nacht auf das Gerüst geklettert, vielleicht wollte er sich von da oben den Mond und die Sterne anschauen oder in Ruhe seinen Rausch ausschlafen. Jedenfalls war er gestolpert, in die Tiefe gestürzt und hatte sich dabei das Genick gebrochen.

      Um Kobler Scherereien und sich selbst einen unnötigen Papierkrieg zu ersparen, wurde der Tote kurzerhand an den Beinen gepackt und über die Kantonsgrenze in den Thurgau gezerrt, wo er am Rande eines Feldes eine ordentliche Ruhestätte bekam. Sollten sich doch die Thurgauer Kollegen aus Eschenz um den Fall kümmern. Nach so viel Einsatz bei dieser freundnachbarlichen Intervention hatten sie sich ein paar freie Stunden verdient. Claudia Schwarz brachte erst den Streifenwagen nach Schaffhausen in den Service und ging dann einkaufen. Engeler wollte ans Wasser und ein wenig fischen. Zum Abschluss des Tages trafen sie sich im Büro, um in Ruhe Zeitung zu lesen, Kaffee zu trinken und Bleistifte zu spitzen.

      Und nun will der Chef Action sehen? Die soll er haben.

      Schwarz und Engeler verlassen den Posten. »Wo ist der Streifenwagen?«

      »Schon vergessen? In Schaffhausen im Service. Das Getriebe lahmt.«

      Andi Engeler startet sein Mofa, Claudia Schwarz nimmt ihr Damenrad. Es dämmert bereits, als die beiden bei Rot über den Rathausplatz hinunter zur Brücke rasen, weil dies ein von oben befohlener Einsatz ist. Dann die Rampe hinauf, die Brücke wieder hinunter, und nun der steile Stutz, der mit dem Streifenwagen so viel einfacher zu bewältigen gewesen wäre. Der Bahnhof, die Schranke, dann biegen sie bei der Stuhlfabrik in die Hofwiesenstrasse ein. Es ist bereits dunkel, als sie die Baustelle erreichen.

      »Wo ist jetzt dieser Markovic hingekommen?», brummt Engeler, als sie die Grenze zum Thurgau überschreiten.

      »Genau hier haben wir ihn doch hingelegt.« Claudia Schwarz beleuchtet ein Gebüsch und zeigt auf die Fläche mit dem niedergedrückten Gras.

      »Die Kollegen haben ihn geholt, da kann man eben nichts machen. Diese Thurgauer haben wirklich Arbeitsmoral.« Engeler atmet tief durch. »Nun müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen.«

      »Riechst du das, Chef?«

      Er schüttelt den Kopf.

      Schnüffelnd marschiert die Polizistin hin und her, dann dreht sie ab und geht auf eine Hecke auf Schaffhauser Kantonsgebiet zu.

      »Hier ist er!«, ruft sie erfreut.

      Aus dem Gebüsch ragen die Füße von Boris Markovic. Nun nimmt auch Engeler den süßlichen Leichengeruch wahr. »Diese Faulpelze von Thurgauern«, zetert der Postenchef, erbost über das mangelnde Engagement der Kantonspolizei Thurgau. »Die haben uns doch tatsächlich die Leiche untergejubelt.«

      »Wieder«, sagt die Schwarz.

      »Was wieder?«

      »Wieder untergejubelt, besser gesagt zurückgejubelt.«

      »Keine Spitzfindigkeiten«, brummt der Postenchef. »Wenigstens haben wir jetzt eine Leiche, die wir dem Kommandanten präsentieren können.«

      »Eine Leiche macht noch kein Verbrechen«, gibt die Polizistin zu bedenken.

      »Da hast du auch wieder recht. Was machen wir nun?«

      Nach einigen Überlegungen wird Boris Markovic hinten aufs Mofa gesetzt, Arme und Beine werden mit Stricken befestigt. »Halt dich gut fest, Boris«, schreit der Postenchef und brettert los, dicht gefolgt von der munter tretenden Polizistin. Die wilde Jagd geht durch die Nacht und über die Felder von Eschenz, dann hinunter zum Untersee und bis zu den ersten Häusern von Stein. Hier wird der arme Alkoholiker ins Wasser gelassen,