aufgefallen, dass die Band wieder zu spielen begonnen hatte, demnach hatte sie ihr heimliches Rendezvous mit dem Sänger Goliat verpasst. Das würde sie nachholen, die Nacht war ja noch jung.
Fabian führte sie elegant über die Tanzfläche, war charmant und ganz der wohlerzogene Spross einer einstmals adeligen Familie. Wäre die Monarchie nicht schon vor über 100 Jahren abgeschafft worden, wäre Fabian ein »von Hallsteiner«. Zugegeben schmeichelte dieser Umstand Marion, und sie fühlte sich ein wenig wie eine Prinzessin, in diesem Fall – und vor allem dank des Ambientes – wie ein Burgfräulein. Als der Tanz zu Ende war, klatschte Marions Schwiegervater ab.
»Darf ich bitten?«, fragte er und wartete gar nicht erst auf eine Antwort. Er entzog seinem Sohn dessen Ehefrau und deutete dem Bandleader, er möge ein langsameres Lied anstimmen. Gleichzeitig orderte er mehrere Krüge Bier für die Band. Zum Takt einer deutschsprachigen Mittelalter-Ballade zog er Marion an sich und geleitete sie über die Tanzfläche.
»Du siehst wunderschön aus«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Danke«, antwortete Marion brav, wenngleich es sie störte, dass Viktor so tat, als gehörte sie ihm. Das war schon immer sein Problem gewesen.
»Hast du mein Geschenk bekommen?«, fragte er leise.
»Hab ich. Aber ich dachte, es ist ein wenig unpassend, wenn ich es heute trage, wo ich doch deinen Sohn heirate.«
»Es wäre niemandem aufgefallen, und ich hätte gewusst, dass du es zu schätzen weißt. Immerhin hat es ein Vermögen gekostet.« Viktor Hallsteiner klang eingeschnappt.
»Ich weiß nicht, ob ich es überhaupt jemals tragen werde«, ließ Marion ihn abblitzen. Es war ein Stich mitten ins Herz, mit einer sehr feinen Klinge, aber der Tadel ihres Schwiegervaters weckte in ihr die Rebellin.
»Wie meinst du das?«, fragte er verwundert.
»So wie ich es sagte«, antwortete Marion erleichtert, dass das Lied zu Ende war. Sie löste sich von ihrem Schwiegervater und verließ das Tanzparkett. Auf ihrem Weg sah sie Albert, der sie anstarrte. Und ihre Zubraut Leona Sipacher, die sich an Fabian ranmachte. Leona hatte ihr immer wieder zu verstehen gegeben, dass sie es unfair fand, dass Marion den begehrtesten Junggesellen des Landes ehelichen durfte, obwohl sie ihn gar nicht liebte. Marion hatte nicht gewusst, was sie hätte dagegenhalten können. Es war in der Tat ungerecht. Mehr als ungerecht. Sie wollte lieber frei sein!
Aufgebracht achtete sie nicht auf den Boden und stolperte. Der Ritter mit den blauen Augen fing sie auf.
»Du hast wohl zu viel getrunken«, sagte er.
»Noch nicht genug, um das hier auszuhalten«, murmelte Marion und zupfte ihr Kleid zurecht.
»Wie bitte?«
»Ach nichts. Bringst du mir noch einen Gin Tonic?«
»Wenn du möchtest.«
»Ja, ich will.«
»Ich glaube, diese Worte hast du heute schon mal gesagt, aber nicht zu mir«, erwiderte der blauäugige Mann.
»Jetzt sag ich sie aber zu dir. Ich will dich, ich will ihn, ihn und ihn. Sie will ich nicht und ihn auch nicht.« Marion deutete dabei auf unterschiedliche Gäste und wollte gar nicht mehr aufhören, auf sie zu zeigen.
»Ist gut. Ich bring dir deinen Gin Tonic. Lauf nicht weg.« Marions Ritter machte sich auf den Weg zur Bar.
»Wo soll ich denn hin?«, murmelte Marion und nahm den Sänger der Band ins Visier. Goliat sah süß aus, wie er dort oben auf der Bühne stand und eine Hymne nach der anderen schmetterte. Bald würde sie den Hochzeitsbräuchen im Mühlviertel nach »gestohlen« werden, das hieß, man brachte sie an einen anderen Ort und ihr Ehemann musste sie auslösen mit vielen Gesängen, Spielen und noch mehr Schnaps. Sie war gespannt, wer ihr Entführer sein würde. Wer sich ihr für dieses Spiel anböte. Goliat würde es nicht sein, der wurde auf der Bühne gebraucht, um die restlichen Gäste zu unterhalten.
Was war mit David, ihrem Bruder?
Oder Albert?
Ihr blauäugiger Ritter?
Bis es so weit war, wollte sie noch Spaß haben. Sie betrat erneut die Tanzfläche und inhalierte die Rhythmen der mittelalterlichen Klänge. Sie schloss die Augen und ließ sich von der Musik treiben. Drehte sich im Kreis und streckte die Arme aus, als könnte sie fliegen. Sie fühlte sich wie ein Vogel. Frei und unbeschwert. Ja, in diesem Augenblick dachte sie tatsächlich, sie könnte davonfliegen in ein anderes Leben.
Jemand packte sie am Arm. Erschrocken riss sie die Augen auf. Es war ihr Bruder, der sie mit fröhlicher Miene von der Tanzfläche führte.
»David, was ist los?«
»Es ist so weit«, antwortete er geheimnisvoll und zog sie hinter sich her die Treppe der Burg hinab. Ein ganzer Schwung angetrunkener Hochzeitsgäste folgte ihnen.
Marion lachte, ohne zu ahnen, dass einer von ihnen diese Hochzeit nicht lebend verlassen würde.
2. KAPITEL
»Ich kann nicht mehr«, japste Chefinspektor Oskar Stern und schnappte nach Luft. Die paar Kilo zu viel um Bauch und Hüfte machten sich gehörig bemerkbar. Er blieb stehen und tat, als schaute er sich die Umgebung an. Derweilen brauchte er die Pause, um mal durchzuschnaufen.
Das Mühlviertel breitete sich sanft hügelig vor ihnen aus. Die saftigen Wiesen waren mit einem sonnengelben Schimmer überzogen, da unzählige Löwenzähne ihre Köpfe gen Himmel reckten. Die Wälder waren frisch und dunkelgrün, und das Summen von Millionen Insekten umrahmte die Natur wie ein Orchester. Stimmt schon, der Ausblick war berauschend, und seit sie in Pierbach losgegangen waren, hatten sie schon mehrere davon genießen dürfen.
Aber musste Weber dermaßen rennen?
Stern fühlte sich dadurch gehetzt, gedrängt, als gäbe es kein Morgen. Wenn sie weiterhin so liefen, konnte es gut sein, dass er bei dieser Schinderei einen Herzinfarkt erlitt, und zwar mitten auf dem Weg.
»Wir sind doch erst fünf Kilometer gegangen«, warf Dominik Weber ein, und Stern fragte sich, woher der Gerichtsmediziner das überhaupt wissen wollte. Sterns Beine und Fußsohlen schmerzten nämlich, als wären sie schon das Dreifache der Strecke gewandert, ganz zu schweigen von seinen kneifenden Zehen, die sich bei jedem seiner Schritte wie ausgepresste Zitronen anfühlten.
In Webers Rucksack – und an seinem Körper – war mehr technisches Equipment angebracht, als es im ganzen LKA gab, was gleichzeitig Sterns Frage beantwortete. Irgendetwas von GPS und ähnlichem Kram hatte Weber zu Beginn ihrer Wanderung gefaselt. Da hatte Stern aber nicht zugehört, sondern tatsächlich die Landschaft genossen. Dazu brauchte er kein GPS – und ebenfalls keine Kamera wie manche Leute, die vor lauter Fotoschießen die reale Welt nur noch über das Display ihres Handys oder durch den Sucher eines Fotoapparates kannten.
»Mir kommt es vor, als wären wir seit Stunden unterwegs«, sagte er.
»Sind wir auch, aber nur, weil du so dahinschneckst«, stichelte Weber und machte gleichzeitig Fotos von der Umgebung.
»Wenn ich dir zu langsam bin, brechen wir halt ab. Ich muss den Johannesweg nicht gehen«, witterte Stern seine Chance, den verlorenen Wetteinsatz vielleicht doch nicht einlösen zu müssen. Beim letzten Mordfall hatte Dominik Weber bei einer Leiche den Alkoholgehalt im Blut über zwei Promille geschätzt, ohne technische Hilfsmittel, nur durch die Ausdünstungen des Toten, und er hatte recht behalten. Stern hatte nicht weiter darüber nachgedacht und in die Wette eingewilligt, die ihm Weber vorgeschlagen hatte. Hätte er damals gewusst, dass der Johannesweg, der quer durchs hügelige Mühlviertel führte, ganze 84 Kilometer lang war, hätte er natürlich nicht derart leichtfertig zugestimmt.
»Aber geh, das passt schon. Hab ich halt ein bisschen mehr Zeit zum Fotografieren und Erholen«, machte Weber einen Strich durch Sterns Rechnung.
»Wie weit ist es denn noch?«, fragte der Chefinspektor.
»Du meinst die heutige Etappe?«