Eva Reichl

Mühlviertler Kreuz


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nicht von ihr lösen. Ihre Erscheinung war faszinierend und verstörend zugleich, ein menschliches Kreuz im Engelsgewand.

      Man hatte sie nicht sofort entdeckt, hatte man Stern mitgeteilt, die Blätter hatten das verhindert, ebenso der Umstand, dass sie über dem normalen Sichtfeld im Geäst feststeckte.

      Sterns Blick wanderte weiter hinauf bis zum Rand der Ruine. Von dort musste die Tote gefallen sein, denn fliegen konnte sie zweifelsohne nicht, auch wenn sich der Vergleich mit einem Engel nicht nur durch ihr Äußeres, sondern desgleichen durch ihre Auffindungsposition aufdrängte.

      »Wissen wir, wie sie heißt?«, fragte er Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht, die neben ihm gewartet hatte, bis er mit der Begutachtung der Leiche und deren Erscheinung fertig war. Das schätzte Stern an ihr. Sie wusste immer, was er wollte, manchmal sogar bevor er selbst Kenntnis davon hatte.

      »Marion Balduin«, antwortete Grünbrecht. Ihre braunen schulterlangen Locken trug sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, und ihre haselnussbraunen Augen blickten wie die von Stern hinauf in die Baumkrone.

      »Balduin, den Namen kenne ich doch irgendwoher …«, grübelte Stern nach.

      »Von den Balduin Gewürzen. Gustav Balduin ist der österreichische Gewürzkönig und kauft alle Kräuter und Gewächse auf, egal ob sie oben am Berg oder unten im Tal wachsen, und macht daraus seine berühmten Gewürzmischungen. Soviel ich weiß, exportiert er sie in die ganze Welt. Das Mühlviertler Lavendelsalz ist nicht nur bei uns sehr beliebt«, erzählte ihm Grünbrecht, was sie wusste und was bei ihr daheim offenbar im Küchenregal stand.

      »Ist sie mit ihm verwandt?«

      »Sie war seine Tochter.«

      »Und wie es aussieht, ist sie am Tag ihrer Hochzeit gestorben.« Stern hielt nach wie vor den Blick auf die Leiche gerichtet. Es war seltsam, und er konnte nicht sagen, warum, aber ihr Anblick berührte ihn auf eine Weise, die er nicht beschreiben konnte.

      »Ja, sie hat gestern geheiratet. Die Hochzeit fand hier auf der Burgruine statt«, erläuterte Grünbrecht und deutete hinauf zu den alten Gemäuern.

      »Warum heißt sie dann noch immer Balduin?«

      »Mensch, Chef, das ist doch ein alter Hut! Seit 1995 ist es sogar bei uns in Österreich möglich, dass die Frau nach der Heirat ihren Nachnamen behalten kann und nicht den des Mannes annehmen muss«, echauffierte sich Grünbrecht über Sterns Unwissenheit.

      Stern erwiderte nichts. Natürlich wusste er über die Gesetzeslage Bescheid, dennoch war es bis heute die häufigste Form, dass die Frau den Familiennamen des Mannes übernahm.

      »Sind die Gäste etwa noch da?«, fragte er.

      »Nein, aber ich habe mit dem Caterer gesprochen, der seine Sachen abholen wollte. Ich hab ihm gesagt, dass das nicht geht und er warten muss, bis wir den Tatort freigeben.«

      Stern nickte und sah ein letztes Mal hinauf zur Leiche in dem Brautkleid. Kein schöner Tod, auf diese Weise abzutreten. In die Tiefe zu stürzen auf der eigenen Hochzeit.

      Oder war sie gar freiwillig gesprungen? Was war vorgefallen, dass sie diesen Tod möglicherweise selbst gewählt hatte?

      Das galt es nun herausfinden.

      Er wandte sich ab und gab den Kollegen ein Zeichen, dass sie die Tote vom Baum holen konnten.

      »Du, sag mal, hätte sie den Sturz nicht eigentlich überleben müssen, wenn sie in den Ästen landet?«, fragte Stern Dominik Weber, der darauf wartete, die Tote einer ersten Beschau unterziehen zu können. In seinem Wagen führte der Gerichtsmediziner immer einen Koffer mit, in dem sich die wichtigsten Utensilien für die Untersuchung einer Leiche befanden. Deshalb war er stets einsatzbereit, und die Chancen, vor Stern einen Tatort zu erreichen, stiegen dem geschuldet ebenso.

      »Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass man so einen Sturz überlebt«, schätzte der Gerichtsmediziner. »Wenn du mit dem Kopf aber auf einen massiven Ast prallst, brichst du dir genauso das Genick, wie wenn du auf der Erde landest. Andererseits hab ich schon von Fällen gelesen, da haben Menschen Abstürze aus über 100 Meter überlebt, und andere sterben, wenn sie bloß von einer zweistufigen Leiter runterfallen. Bei einem Sturz spielen so viele Faktoren eine Rolle, ob man ihn überlebt oder nicht, nicht nur die Fallhöhe ist ausschlaggebend. Sobald ich mir die Tote genauer angeschaut habe, sage ich dir, was in diesem Fall Sache ist.«

      Weber folgte den Kollegen, die die Bergung des Opfers mit einer Drehleiter samt Korb von der hiesigen Feuerwehr vorbereiteten. Damit ließen sich der Gerichtsmediziner und ein Polizeifotograf Minuten später bis zu jener Stelle in den Bäumen hochheben, wo die Leiche festhing. Der Fotograf machte Fotos, wo und wie das Opfer zum Liegen gekommen beziehungsweise der Fall gebremst worden war, und Weber diktierte alle Informationen in ein Aufnahmegerät, die für die Bestimmung der Todesursache später hilfreich sein könnten.

      Inzwischen erklommen Oskar Stern und Mara Grünbrecht über einen schmalen Trampelpfad, der beidseitig von kleinen kunsthandwerklichen Gegenständen gesäumt wurde, den Hügel hinauf zur Burg. Diese war vor dem 13. Jahrhundert errichtet worden und wurde seit dem Jahr 1750 nicht mehr herrschaftlich bewohnt, was ursächlich für ihren Verfall war.

      Oben vor dem Eingang warteten die Gruppeninspektoren Edwin Mirscher und Hermann Kolanski auf sie. Sie hatten sich währenddessen die Burgruine angesehen und mit den Personen gesprochen, die die Überreste des vortägigen Festes aufräumen wollten.

      »Grüß dich, Oskar. Jetzt wird wohl nichts aus eurer Wanderung durchs schöne Mühlviertel.« Mirscher empfing seinen Chef mit einem breiten Grinsen. Er wusste, dass Stern nicht freiwillig mit Weber den Johannesweg hatte gehen wollen.

      »Ja, leider«, antwortete Stern mit demselben Lächeln.

      »Das lässt sich bestimmt nachholen«, meinte Kolanski. Er trug wie immer Sonnenbrille und Lederjacke und könnte ruhig mal wieder zum Friseur gehen. Seine Haare waren für einen Ermittler der Mordgruppe am Landeskriminalamt Oberösterreich viel zu lang, fand Stern, verkniff sich aber einen Hinweis darauf. Immerhin war er nicht Kolanskis Vater, sondern sein Vorgesetzter, obwohl sich das mit dem Vatersein auch ausginge, wenn er schon ganz früh ein Kind gezeugt hätte.

      »Sag das ja nicht Weber!«, drohte er ihm dennoch. »Für mich ist die Sache vorbei – aus! Finito!«

      Kolanski lachte und folgte wie die anderen Kollegen seinem Chef hinauf zur Burgruine. Sie durchquerten den Eingangsbereich des Burgmuseums, wo sie an Wissenswertem rund um Reichenstein aus mehreren 100 Jahren vorbeigingen, ohne es eines Blickes zu würdigen. Ihre Aufmerksamkeit galt dem Todesfall, der sich letzte Nacht zugetragen hatte, und nicht den Toten des Mittelalters. Aber ob es tatsächlich Mord war, würde sich erst noch herausstellen.

      Als sie die erste Stiege hinter sich gebracht hatten, traten sie in den Burghof, wo die Bühne und die Equipments der Band und des Caterers aufgebaut waren. Hier hatte das rauschende Hochzeitsfest also stattgefunden, dachte Stern und verschaffte sich einen Überblick. Die Stühle und Tische hatte man bereits gestapelt, da zu jener Zeit noch niemand vom Tod der Braut gewusst hatte. Nun waren die Aufräumarbeiten jedoch eingestellt und die Burg menschenleer, damit keine Spuren mehr vernichtet wurden.

      Stern suchte nach einer Möglichkeit, hinauf zur Hochburg zu gelangen, von wo aus die Tote gestürzt sein musste. Das wollte er sich zuerst ansehen. Er entdeckte den Aufstieg und steuerte darauf zu. Auf teils original erhaltenen Burgbeständen und teils hölzernen Begehungen, die nachträglich dazugebaut worden waren, schritten sie in den dritten Stock der Burg. Dort waren zwei Räume gut erhalten, der Rest bestand nur mehr aus Außenwänden, die wie der Boden Tag und Nacht jeglichem Wetter ausgesetzt waren, von Regen und Schneefall ganz zu schweigen, die den jahrhundertealten Gemäuern sichtlich zusetzten.

      »Von hier aus muss sie gefallen sein«, sagte Stern und trat näher an die mannshohen Fenster heran. Sie waren mit dicken Gitterstäben abgesichert, um zu verhindern, dass jemand hinabstürzte.

      Jedoch genau das war passiert!

      »Die Stäbe reichen nicht bis ganz nach oben. Wenn jemand die Absicht hegt, zu springen, klettert er einfach