für die langsame Fahrt hierher.
Für die zugegeben kurvenreiche Strecke – aber dennoch lediglich elf Kilometer – hatten sie beinahe 25 Minuten gebraucht, und das nur, weil Stern hinterm Steuer gesessen hatte. Grünbrecht hätte die Entfernung in der Hälfte der Zeit zurückgelegt und dabei noch eine Pause einlegen können. Nun standen sie jedoch endlich vor dem Sitz der Familie Hallsteiner und bestaunten die alte Villa, die mit modernen Glas- und Metallelementen auf sich aufmerksam machte.
»Ja, wow«, wiederholte Stern Grünbrechts begeisterten Ausruf, allerdings mit weitaus weniger Euphorie. Menschen, die in solchen Häusern wohnten, kannte er nur zu gut. Seiner Erfahrung nach glaubten sie, sie könnten mit der Exekutive machen, was sie wollten, bloß weil sie genügend Geld besaßen. Und die Polizisten hätten ihnen zu dienen, als wären sie ihre Leibeigenen, weil die ach so wichtigen Leute ebenso wichtige Kontakte zu Wirtschaft und Politik pflegten. In Stern breitete sich Unbehagen aus.
»Was wissen wir über die Hallsteiners?«, fragte er, während er den Wagen versperrte. Angesichts des Fuhrparks, der vor der Villa abgestellt war, würde sich ein Dieb jedoch niemals für seinen schon ein paar Jahre alten Audi interessieren. Dennoch drückte er ein zweites Mal auf die Fernbedienung, um den Wagen ganz sicher abzuschließen.
»Den Hallsteiners gehören riesige Waldflächen im Mühlviertel, angefangen bei Linz bis hinauf zur tschechischen Grenze. Der Besitz des alten Hallsteiner war ursprünglich allerdings noch größer gewesen, aber er hatte in seinem Testament veranlasst, dass sein Vermögen auf seine zwei Söhne aufgeteilt wurde, um Streitigkeiten zu vermeiden. Der andere Bruder, er heißt Sebastian, lebt in Tschechien und hat die Wälder und Grundstücke dort vererbt bekommen, und Viktor Hallsteiner die Ländereien hier in Österreich. Danach hat er zwei Sägewerke gekauft und saniert, diese zählen heute zu den größten im Land. Ihm gehören außerdem ein Bauunternehmen und je eine Spielhalle in Freistadt und Linz. In Kitzbühel hat er in mehrere Luxuswohnungen investiert, die er um ein kleines Vermögen an Gäste vermietet, hauptsächlich an Russen. Er selbst ist Jurist und Betriebswirt. Anscheinend hat er ein Händchen für marode Unternehmen. Er kauft und saniert sie, bis sie wieder Gewinne abwerfen. Dann verkauft er sie großteils weiter«, spulte Grünbrecht herunter, was sie während der Herfahrt in Erfahrung gebracht hatte. Da Stern so langsam gefahren war, hatte sie ja genügend Zeit gehabt.
»Wissen wir schon, ob man das Opfer als vermisst gemeldet hat?«
»Nein, keine Vermisstenanzeige.« Grünbrecht schüttelte den Kopf.
»Na, dann mal los«, brummte der Chefinspektor und schritt auf den Eingang zu.
Das prächtige Gebäude wurde von einem noch prächtigeren Garten übertroffen. Allein die Zufahrt zur Villa war an die 80 Meter lang und von niedrig geschnittenen Buchsbäumen gesäumt. Im hinteren Bereich des Gartens wuchsen Weiden und Buchen und verliehen dem Gebäude den passenden Rahmen.
Sterns Finger senkte sich auf die goldene Klingel neben der massiven hölzernen Eingangstür. Eine Tonabfolge wie bei einem Klavierkonzert erklang.
»Beethoven«, sagte Grünbrecht.
Weder wunderte es Stern, dass Grünbrecht dieses Musikstück kannte, noch dass die Hallsteiners für ihre Türglocke eine Klaviersonate ausgewählt hatten.
Die Tür wurde geöffnet und eine schwarz gekleidete Frau stand vor ihnen. Offenbar hatte sich der Tod von Marion Balduin schneller herumgesprochen, als Stern angenommen hatte. Bestimmt war der Eintrag auf Facebook daran schuld.
»Ja bitte?« Fragend sah die Dame die Inspektoren an.
»Frau Hallsteiner?«
»Nein, Frau Hallsteiner empfängt im Augenblick keine Besucher.«
»Wer sind Sie?«, fragte Stern, zog seinen Ausweis aus der Tasche und hielt ihn der Frau hin.
»Fiona Mühlböck, die Haushälterin«, antwortete sie gefasst. Dass die Kriminalpolizei vor der Tür stand, schien sie nicht zu überraschen.
»Chefinspektor Oskar Stern, das ist meine Kollegin Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht. Wir sind vom Landeskriminalamt in Linz und müssen Herrn und Frau Hallsteiner sprechen sowie deren Sohn … äh …«
»Fabian«, half Grünbrecht ihm.
Stern erkannte, dass ihr Gegenüber zögerte. »Es geht um Marion«, schob er deshalb nach, was der Haushälterin nun doch eine Reaktion entlockte. Die Augenbrauen wanderten nach oben, wenn auch nur für einen kurzen Moment, dann trat sie zurück und ließ die Tür aufschwingen, als hätte Stern ein Codewort genannt.
Die Inspektoren betraten eine pompöse Empfangshalle, wie Stern sie in einem Herrenhaus erwartet hätte, nicht aber in einer alten Landvilla, die zugegeben äußerst großzügig gestaltet war. Der Boden war mit schwarzem Marmor ausgelegt, die Wände waren in Weiß und Beige gehalten und die dunklen Möbel mit goldenen Elementen an Ecken und Füßen verziert. Hinter ihnen schloss die Frau die ebenso eindrucksvolle Pforte.
»Wir hab’n es gerade erfahr’n«, flüsterte sie den Beamten zu. Dabei hielt sie beide Arme gegen die Brust gedrückt und senkte den Blick für einen Moment, als spräche sie ein stummes Gebet. »Es war ein großer Schock für uns. Herr Hallsteiner ist sogar die Treppe herunterg’fallen, als er davon g’hört hat. Er hat sich den Kopf verletzt, aber er will net, dass ich einen Arzt oder die Rettung ruf.«
»Das tut uns leid«, sagte Stern.
Die Haushälterin nickte. »Wenn S’ mir bitte folgen woll’n.« Sie geleitete die Kriminalbeamten durch den Eingangsbereich, von dem aus mittig eine breite Stiege nach oben führte, wo sich vermutlich die Schlafräume befanden. Das Wohnzimmer war im rechten Flügel der Villa untergebracht, dort saß die Familie beisammen und unterhielt sich. Wahrscheinlich redeten sie über Marions Tod. Als Fiona Mühlböck klopfte, verstummte das Gespräch.
»Ja?«, war eine männliche Stimme zu hören.
Die Haushälterin öffnete die Tür und trat halb ein. »Zwei Polizisten sind da und woll’n Sie sprechen.«
»Sie sollen hereinkommen«, ertönte es von drinnen.
Fiona Mühlböck trat zur Seite und ließ Stern und Grünbrecht passieren.
Das Wohnzimmer entpuppte sich als Wohnsalon. Ein offener Kamin war das Herzstück des riesigen Raumes, davor standen mehrere moderne Ledersofas in einem Halbkreis aneinandergereiht. Heuer war der Mai bereits angenehm warm, weshalb kein Feuer im Kamin brannte. Kostbare Teppiche lagen auf dem Boden und moderne, in unterschiedlichen Techniken gefertigte Gemälde zierten die Wände. So mancher Linzer Galerist würde vor Neid erblassen, sähe er die hier aufgehängte Bandbreite an moderner Kunst.
»Grüß Gott!«, begrüßte Stern die Anwesenden, sofort nahm er die Betroffenheit wahr, die in dem Raum herrschte. »Mein Name ist Oskar Stern, ich bin Chefinspektor am Landeskriminalamt Oberösterreich, das ist meine Kollegin Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht …«
»Sie kommen gewiss wegen Marion«, unterbrach der Hausherr Sterns Vorstellung. Er hielt sich ein Tuch an den Kopf, bestimmt wegen des Sturzes. Wahrscheinlich wollte er verhindern, dass sein Hemd und die Ledercouch mit Blut besudelt wurden, weil er sich eine Verletzung zugezogen hatte. »Das ganze Internet ist voll mit diesem Foto, das so ein sensationslüsterner Trottel von Marion gemacht hat, wie sie tot in den Bäumen hängt. Sie müssen umgehend Sorge dafür tragen, dass es verschwindet! Sofort!«, forderte er echauffiert und wollte aufstehen, doch die Bewegung verursachte ihm offensichtlich Schmerzen. Sein Gesicht verzerrte sich und er stöhnte.
»Wir werden unser Bestes tun. Außerdem möchten wir Ihnen unser aufrichtiges Beileid aussprechen«, sagte Stern und trat näher. »Sollen wir einen Arzt rufen?« Er deutete auf Viktor Hallsteiner, der umständlich mit der rechten Hand das Tuch in Position hielt und sich in die Couch zurückfallen ließ. Dadurch konnte Stern nicht sehen, wie schwer die Verletzung war, die er sich bei dem Sturz zugezogen hatte.
»Das mit Marion war ein schrecklicher Unfall, oder? Es kann nur ein Unfall gewesen sein«, sagte der Hausherr und bot den Beamten an, sich zu setzen. Die Frage nach dem Arzt