hatte gestaunt, was die Kartoffel im Vogtland lange vor dem Kartoffelbefehl von Friedrich dem Großen im Jahre 1756 für eine Bedeutung hatte. Tatsächlich hatten die Vogtländer als Erste in Deutschland den feldmäßigen Anbau der Kartoffel betrieben und nicht die Preußen, wie es landläufig hieß! Mehr als 100 Jahre früher. Griegeniffte, also Grüne Klöße, Bambes, eine Art Kartoffelpuffer und Kartoffelkuchen frisch aus der Röhre halfen schon gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges, die Hungersnot zu lindern. Clever waren sie, diese Vogtländer, fand Alex. 2012 hatten die Rehauer dem Alten Fritz posthum ihren Ehrenpreis ›Goldene Kartoffel‹ verliehen und damit für Wirbel in ganz Deutschland gesorgt. Dass der Geehrte nicht persönlich erscheinen konnte, war nebensächlich. Es wurde in allen Gazetten über die Vogtländer als Kartoffelpioniere geschrieben, Fernseh- und Rundfunkreporter hatten über das Ereignis berichtet, nur das zählte.
Sein Wissen sollte Alex helfen, als es im Mai ernst wurde. Die Aufgabe war für ihn klar umrissen. Rosa I. sollte weg und den Titel der Deutschen Hoheit nicht erringen. Zum Glück war der Winter mild gewesen, als Alex sich schon einmal in Rehau und Umgebung umgeschaut hatte. Der Große Kornberg 15 hatte wegen des gut sichtbaren Gipfels mit dem ehemaligen Aufklärungsturm der Bundeswehr sein Interesse geweckt. Als er dorthin gefahren war, hatte Schnee gelegen. Alex hatte einen Weg gesucht, auf dem er möglichst nah an den Berg herankommen konnte. Sein Smartphone hatte ihm Auskunft gegeben und den Zugang über Dörflas bei Kirchenlamitz empfohlen. Dort hatte er vergeblich nach einem Parkplatz Ausschau gehalten und seinen Wagen in einer Seitenstraße abgestellt, ehe er den mit einem roten Viereck und einem N markierten Nordweg des Fichtelgebirgsvereins 16 eingeschlagen hatte. Bei der Beschreibung hatte er etwas von einer Ruine namens Hirschstein gelesen. Er hatte erkunden wollen, ob sich die Ruine als Versteck für Rosa eignete. Bei ziemlich miesem Wetter hatte er den Aufstieg durch den Wald begonnen. Der Karte am Fuße des Berges fehlten die Entfernungsangaben. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte er einen Pfeil gefunden, der die Richtung zu den Zigeunersteinen zeigte. Ehe er sich die Frage nach der politischen Korrektheit des Namens stellen konnte, hatte er den Wackelstein 17 entdeckt, neben dem ein dünner Baumstamm lag. Alex kannte Wackelsteine von anderen Orten. Meist waren dort Schilder angebracht, die das Phänomen erklären und Tipps für die Technik zum Bewegen des Steins gaben. Das hatte er hier vermisst. Überhaupt hatte er die Nase voll von dem Fußmarsch, denn eine Ruine, die so weit von der öffentlichen Straße entfernt war, eignete sich kaum als Versteck. Wie hätte er Rosa dorthin bringen sollen, ohne sich verdächtig zu machen? Er war zum Auto zurückgegangen und hatte eine andere Zufahrt zum Berg gesucht.
Unterwegs in Richtung Schönwald war ihm ein Schild mit der Aufschrift Schloss Sophienreuth 18 aufgefallen. Von Weitem war ihm das Gebäude leer erschienen, doch auf dem Weg hatte er ein altes Konzert-Plakat erblickt. Er konnte also nicht sicher sein, dass er im Mai hier allein war. Deshalb war er weitergefahren. Nach kurzer Zeit hatte er bemerkt, wie sein Magen knurrte. Im Örtchen Grünhaid hatte er direkt an der Straße zwei Gaststätten, eine Freizeitanlage und einen Campingplatz 19 entdeckt. Überrascht war er von dem Ferienschiff mitten im Binnenland, das man für seinen Aufenthalt mieten konnte. Er hatte sein Auto auf den Parkplatz gelenkt und sich in das Restaurant auf der gegenüberliegenden Seite begeben. Ein Schnitzel mit Pommes und ein leichtes Weizen später war er weitergefahren, um nahe dem leider geschlossenen Gasthaus Vorsuchhütte am Kornberg zu parken. Beim Mittagstisch hatte er gehört, dass der Aufstieg auf dieser Seite des Großen Kornbergs wesentlich kürzer war, vor allem wenn man die neu geschaffene Skipiste 20 benutzte. An der Kornberghütt’n gleich neben der Piste hatte er sich ein Heißgetränk geholt und beschlossen, die Gegend im Frühjahr weiter zu erkunden. Auf dem Rückweg war ihm die etwas abseits gelegene Unterkunft der Bergwacht Rehau aufgefallen. Dabei hatte er die erste zündende Idee, seit er in der Gegend unterwegs war. Im Mai würde es hier keinen Schnee und keinen Liftbetrieb mehr geben. Die Bergwacht dürfte also keinen Dienst mehr schieben. Er hatte die GPS-Koordinaten der Hütte in seinem Smartphone gespeichert und vergnügt die Heimreise angetreten. Die verbleibende Zeit bis zum Hoheitstreffen im Mai nutzte er für umfangreiche Recherchen und ein paar Begegnungen mit Rosa im Rahmen von größeren Events, bei denen sie ihn möglichst nicht wahrnehmen sollte.
Als er Anfang April nach Rehau zurückgekehrt war, startete er sofort zu einem ersten Rundgang durch die Altstadt. Er wollte die Stadt und das Umfeld recht genau kennen, bevor die Kartoffel-Hoheiten das Terrain in Besitz nehmen und ihre Wettbewerbsaufgaben erfüllen würden. Hatte er auf der Autobahn noch nichts mit dem Schild ›Rehau Modellstadt Bayerns‹ 21 anzufangen gewusst, so war ihm hier schnell klar geworden, dass die Straßen und Plätze ein Ergebnis von Entwürfen auf dem Reißbrett waren. Am Maxplatz befanden sich mehrere Tafeln, die von den großen Stadtbränden berichteten. Nach dem letzten Stadtbrand 1817 war die Stadt neu angelegt worden, was man mit Kenntnis des Stadtplanes genau nachvollziehen konnte. Alex hatte in Erwartung üppiger Spesen im besten Haus am Platz übernachtet, um sich am nächsten Tag auf Museumstour zu begeben. Nach dem Gewaltakt mit Besichtigung der Museen am Maxplatz, der Mechanischen Werkstätte am Angergässchen 22 und des Kunsthauses samt Skulpturengarten 23 hatte er den Abend bei fränkischem Bier und Rehauer Bratwürsten mit Sauerkraut verbracht. Er war früh zu Bett gegangen, denn sein Programm für den nächsten Tag war gespickt mit mehreren Stationen, die er abfahren oder ablaufen wollte.
Sein Weg hatte ihn erneut zum Großen Kornberg geführt. Dort angekommen, hatte er den Aufstieg über die Piste genommen und war so zur Schönburgwarte auf dem Gipfel gelangt. Von der Plattform des Turmes aus war sein Blick zuerst am Horizont entlang und dann ins Tal geschweift. Seine Winterentdeckung war ihm als Versteck für die Kartoffelprinzessin aus dem Vogtland immer noch brauchbar erschienen. Nun musste er nur noch die Rehauer Kartoffeltage abwarten und im passenden Moment zuschlagen. Die Stadt war bereits mit Werbung überhäuft. Überall lagen Faltblätter und hingen Plakate. Jeder wollte irgendwie dabei sein. Am Morgen hatte er sich an der Information im Mehrgenerationenhaus am Maxplatz nach dem Programm der Kartoffeltage und der Hoheiten erkundigt und einen kurzen Ablaufplan erhalten. Höhepunkt des Festes sollte der Samstagabend mit dem großen Fest und der Auszeichnung der Hoheiten sein, doch der würde ohne Rosa stattfinden. Dessen war er ganz sicher. Bis zu seinem großen Auftritt waren es noch knapp sechs Wochen. Die hatte er zu Hause oder mit kleineren Aufträgen verbracht.
Alex war bereits zwei Tage vor den Hoheiten in Rehau angereist und hatte sich die wichtigsten Stationen der Kartoffel-Rallye angeschaut. Einige kannte er schon von seiner Recherchetour. Der Volontärin des Organisationsbüros hatte er bei einer Piña Colada Einzelheiten zu den Aufgaben entlockt. Er konnte kaum fassen, wie einfach das gewesen war. Mit ein paar billigen Komplimenten hatte er sie an die Bar des Hotels eingeladen, als er sie nach einer Besprechung zu den Hotelbuchungen allein in der Lobby gesehen hatte. »Ich warte auf unseren Teamleiter. Wir wollen noch ein paar Dinge für die Wahl der Königin besprechen«, hatte sie ihm bereitwillig erzählt, nachdem er sich zu ihr gesetzt hatte. Der Teamleiter verspätete sich, dafür sprudelten die Neuigkeiten wie aus einer Quelle, und Alex musste sie nur aufsaugen. »Stell dir vor, die müssen ganz blöde Aufgaben erledigen, mit Kunst und so. Was das mit den hässlich braunen Knollen zu tun hat, weiß ich nicht, aber ich esse eh keine Kartoffeln. Und Bilder oder gar Schriftsteller interessieren mich überhaupt nicht. Mein Freund, der fährt eine Harley…«, quasselte sie weiter und nahm die Nachfragen von Alex kaum wahr.
Ein bisschen sehr blond, dachte sich der und hatte nach einem Glas genug von der hirnlosen Schönheit.
An den folgenden Tagen waren die Prinzessinnen und Königinnen nach und nach in Rehau angekommen und hatten sich mit dem Ort und ihren Aufgaben vertraut gemacht. Manche Dinge waren einfach lächerlich, aber bei solchen Veranstaltungen normal. Anfangs war jede Hoheit auf sich selbst gestellt. Dann standen sogenannte kollektivbildende Maßnahmen im Mittelpunkt des Treibens. Zum Abschluss sollten die Hoheiten auf einer interaktiven Karte Standorte des Kartoffelanbaus mit belastbaren Jahreszahlen und Namen eintragen. Das hatte etwas Pennälerhaftes.
Alex hatte Rosa einen ganzen Tag lang so unauffällig wie möglich verfolgt. Die Hoheiten sollten mithilfe ausgewählter Rehauer aus den von zu Hause mitgebrachten Kartoffelrezepten etwas kreieren. Sie musste den Küchenchef vom Mehrgenerationenhaus am Maxplatz nicht lange zum Mitmachen überreden. Die Rehauer Kochkünstler waren durch das Orgbüro unterrichtet und kannten die Anforderungen besser als die Themenadligen, die gerade Neuland betreten hatten. Als der Küchenchef gehört