Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.
Umschlagbild:
Franz Schnyder bei den Dreharbeiten zu «Geld und Geist», 1964.
Lektorat:
Rachel Camina, Hier und Jetzt
Gestaltung und Satz:
Simone Farner, Naima Schalcher, Zürich
Bildbearbeitung:
Benjamin Roffler, Hier und Jetzt
ISBN Druckausgabe 978-3-03919-503-9
ISBN E-Book 978-3-03919-963-1
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
© 2020 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Baden, Schweiz
Inhalt
Die ersten drei Spielfilme 1941–1943
Mit Gotthelf auf den Zenit 1954–1964
Der Kulturclash – «Papas Kino» wird verdrängt 1965–1983
Das letzte Jahrzehnt 1983–1993
Vorspann
Die Sonne scheint schwach durch den leicht bewölkten Himmel über der Emmentaler Kleinstadt Burgdorf am Vormittag des 12. Mai 1992. Ein ganz normaler Dienstag. Das Zähringerschloss thront über der malerischen Altstadt und den darunter liegenden Quartieren. Gegen 8.30 Uhr geht ein alter Mann mit schnellen, kurzen Schritten die Jungfraustrasse entlang.1 Seine Haut ist blass, sein Haar schütter, die Haltung leicht gebeugt über einen Spazierstock. In der Jackentasche umklammert er eine Walther-Pistole, Kaliber 22. Er ist wütend. Und er braucht Geld. Von seiner Villa ist es nicht weit zur Kunstgalerie W. Gerade mal 200 Meter. Aber die 82 Jahre machen sich mit jedem Schritt bemerkbar. Er reisst sich zusammen.
Frau W. hat schon lange das Gefühl, dass Franz Schnyder nicht mehr ganz bei sich ist. Über ihre Galerie haben sie und ihr Mann regelmässig Bilder für den Filmemacher erworben, darunter sehr wertvolle. Alle diese Geschäfte haben sie genau dokumentiert, Expertisen abgelegt, Quittungen aufbewahrt. «Da habe ich auch heute noch ein gutes Gefühl, ein sauberes Gewissen. Nach fast vierzig Jahren», sagt Frau W. Anfang der 1990er-Jahre war Schnyder öfter vorbeigekommen. Dabei hatte er immer wieder mit Strafanzeige gedroht und den Kunsthändlern vorgeworfen, mit seinem Beistand, dem Juristen Franz Zölch,2 unter einer Decke zu stecken und ihn zu betrügen. Doch nicht nur das Ehepaar W. geriet in Schnyders Visier: Auch der Burgdorfer Stadtpräsident und ein Druckereibesitzer hatten bereits Drohbriefe erhalten.
An jenem Morgen steht die freundliche, klein gewachsene Frau mittleren Alters mit den hellen, wachen Augen hinter dem Ladentisch. «Und dann sehe ich ihn. Ich rufe noch nach hinten ins Büro: ‹Achtung, der Schnyder kommt!› – und schon steht er vor mir in hellem Anzug, weissem Hemd und schwarzer Krawatte. Seine senkrechte Ader auf der Stirne, nicht blau ist sie, sondern dunkel, fast schwarz. Unheimlich sieht er aus, wie er mich so fixiert. Blitzgeschwind zückt er eine Pistole. Er richtet sie auf mich! Ich starre auf die Waffe, unbeweglich, trotzdem irgendwie gefasst, und höre zum wiederholten Male seine Vorwürfe. Ich versuche, ruhig zu bleiben. ‹Das hat doch keinen Sinn›, will ich ihn beschwichtigen. ‹Wir können doch reden miteinander. Legen Sie bitte die Pistole auf den Tisch.› Das tut er dann auch, platziert Stock und Pistole zwischen uns. Langsam, ganz langsam, während ich beruhigend auf ihn einrede, versuche ich, die Pistole wegzuschieben. Bevor ich richtig reagieren kann, fasst er aber seinen Stock und schlägt mir damit auf die Hand. ‹Wenn Sie die Pistole noch einmal anfassen›, schreit er mich an, ‹werde ich abdrücken!› Er fordert mich auf, die Ladentüre abzuschliessen und die Storen herunterzulassen. So stehen wir einander gegenüber. Hinten im Büro hat mein damaliger Mann inzwischen die Stadtpolizei angerufen. Rasch, zum Glück, erscheint die Streife, betritt von hinten das Geschäft und verhaftet Franz Schnyder.» Kaum ist er abgeführt, öffnet Frau W. die Ladentüre, zieht die Storen wieder hoch und macht sich erneut an die Arbeit. Sie tut so, als ob nichts geschehen wäre. Erst eine Stunde später kommt der Schock. Sie beginnt zu zittern und bricht zusammen.
Um 8.40 Uhr war der Anruf des Galeristen bei der Stadtpolizei eingegangen. Zwei Polizisten rückten sofort aus. Um 9.06 Uhr erschienen sie mit Franz Schnyder auf der Wache, die Waffe hatten sie ihm bereits im Geschäft abgenommen. Sie war gesichert und nicht durchgeladen. Es befand sich keine Kugel im Lauf, aber vier Patronen im Magazin. Nach einem standardmässigen Vorgehen wurden zunächst Beistand Zölch und dann der Untersuchungsrichter, der Chef der sozialen Dienste sowie der Amtsarzt informiert. Letzterer veranlasste eine Überweisung in die Psychiatrische Klinik Münsingen. Als Schnyder davon erfuhr, rastete er aus und wollte sich mit einem Messer die Schlagader am Handgelenk aufschneiden. Das Messer konnte ihm aber entrissen werden. Um 10.15 Uhr begleiteten ihn zwei Beamte nach Münsingen, wo er in die Psychiatrie eingewiesen wurde.
Während des Klinikaufenthalts tippte der Patient auf einer Schreibmaschine seine Version der Verhaftung zu Papier: «Am 12. Mai 1992 wurde ich mit Brachialgewalt in die Spinnmühle, Münsingen, eingeliefert. Ich war mutterseelenallein in der Fälscherwerkstatt des Ehepaars W. Die Eheleute hatten sich längst vorher mit ihrem Auto davongemacht. ‹Geschichten›, die um die vorausgehende Untat – von mir begangen – ranken, sind pure Erfindungen. Um gezielt die gemeine Festnahme zu rechtfertigen. Wahr allein ist, dass 6 Parasiten der Stadtpolizei, Burgdorf auf mich los stürzten – jubelnd, und hellbegeistert – und nach Schweizer ungewaschenem Hintern stinkend –, mich misshandelten, duzten, wie einen ‹Kopin› aus Krauchthal – und dann den eher mittelmässigen Allgemeindoktor [Dr. Bandi] telefonisch informierten: ‹Sie hätten einen Frauenmörder dingfest gemacht› – nicht verwunderlich, dass der naive Benvenuto Bandi – ohne auch nur mich zu sehen – sofort einen der Kriminellen der Spinnmühle, ein Dr. Kohli, um ‹Unterkunft› für mich bettelte. […] Ich gestehe es (als letzter Gedanke?): ich bin seit 1291 der berühmteste Eidgenosse, mit einem ungeheuren Lebenswerk – (dafür mit vielen, vielen Freunden, die alle es vorzogen, zu schweigen […]: Charakterlos, feige, irreligiös – zum Untergang verurteilt …).»3
Nach rund neun Monaten in der Psychiatrie verstarb Franz Schnyder am 8. Februar 1993 im nahe gelegenen Bezirksspital im Alter von 82 Jahren. Nur drei Monate zuvor erlag sein Zwillingsbruder