zu erfüllen. Eine eigenständige Stellung ausserhalb der Familie war ihr gemäss damaligen Geschlechterrollen nahezu verwehrt. Der zentralen mütterlichen Position in der Kindererziehung und -versorgung stand die des Vaters als Ernährer und familiärer Vertreter für die Aussenwelt gegenüber. Das Mutter-Kind-Verhältnis entwickelte sich deshalb als so bedeutend, dass es den Vater nahezu ausschloss.8 Diese Rollenverteilung galt so auch im Hause Schnyder.
Aus der fehlenden Erwerbstätigkeit entstand eine lang anhaltende Frustration, die Louise Schnyders Wesen stark beeinflusste und zu Spannungen innerhalb der Familie führte. Kindermädchen blieben nicht lange; meist zerstritten sie sich so sehr mit der Hausherrin, dass sie bereits nach wenigen Tagen das Weite suchten. Hausarbeit und Kochen verrichtete Louise nur ungern, und auch die Untervermietung von Zimmern an Studenten des Technikums geschah gegen ihren Willen. Das Nachtessen bestand für den Vater häufig nur aus Milch, Schokolade und einem Stück Brot. Wenn mal ein Knopf lose war, blieb ihm oft nichts anderes übrig, als in ein Burgdorfer Café oder Restaurant zu gehen, wo ihm eine Serviertochter diesen wieder annähte. Louise träumte insgeheim von einem anderen Leben – an der Seite eines reichen Mannes, der ihr ein Leben in Luxus ermöglichen könnte. Was Max ihrer Meinung nach fehlte, versuchte sie schliesslich, mithilfe ihrer Söhne zu kompensieren. In deren Erziehung förderte sie die Entwicklung von Ehrgeiz und Disziplin, damit sie später im Beruf reüssierten.
Louise war eine starke, in mancher Hinsicht auch moderne Frau. So besass sie bereits 1925 eine Fahrbewilligung für einen «Motorwagen Zünd». Sie überragte ihren Gatten mit ihrer Körpergrösse um ganze sechs Zentimeter und äusserte mit ihrer selbstbewussten, dominanten Persönlichkeit gerne und deutlich ihre Meinung. Ein Brief an ihre zwölf Jahre jüngere Schwester Ida Steiner (1894–1923) verdeutlicht ihre Lebenseinstellung. Rund ein halbes Jahr nach Beginn des Ersten Weltkriegs schrieb sie am 14. Dezember 1914: «Liebes Idali, das Leben ist eine Schule in welcher es heisst: Du musst; auch wenn Du nicht willst. Und wenn es einem in dieser Schule hart geht, so soll man denken, offenbar ist es dem Lehrer Mühe wert mich hart anzufassen. […] Es ist keine Kleinigkeit, in dieser Welt die Dinge zu begreifen. Es kommt hie und da vor, dass man vor 2, 3 Wegen steht. […] Diese Scheidewege aber sind nicht so häufig, gewöhnlich steht dem Menschen nur eine Strasse zur Verfügung auf der er gehen muss.» Ihr Mann litt im Verlauf der Ehe stark unter den inneren Konflikten seiner Frau. In einem Brief aus dem Jahr 1964 an Franz schrieb der 87-Jährige: «Die übermässige Konzentration auf ihre eigene Person, die sie nicht erkennen will, ist das grosse Übel. Vor ca. 30 Jahren habe ich ihr schon gesagt, dass dieses übermässige ‹Ich-Gefühl› wie eine Schlange auf sie wirkt, die sich selbst auffrisst. Sie ist sehr unglücklich, weil sie zu sehr grübelt.» Die Ursache für ihr Leiden sehe sie nicht bei sich selbst, sie mache ihr Umfeld dafür verantwortlich. Als Mutter jedoch sei «sie Euch allen gut», so Max Schnyder im Brief an seinen Sohn.9
Max – Der Ernährer
Indes als «ganz lieb» bezeichnet Barbara Lamparter, Tochter von Felix Schnyder, ihren Grossvater Max Schnyder. Zu Hause hatte er nicht viel zu sagen. Er suchte sich daher Tätigkeitsfelder, wo seine Meinung zählte, wie in der Burgdorfer Kommunalpolitik. Auch wenn der Vater einen völlig anderen Beruf ausübte als sein Sohn Franz, einte beide doch ein gewisses schöpferisches Talent sowie die Fähigkeit, Produktionsprozesse detailliert und effektiv zu planen.
Der intelligente und lebhafte Architektensohn Maximilian Schnyder wurde am 13. Oktober 1877 inmitten der Industrialisierung in der Gemeinde Kriens geboren. Er studierte Bauingenieurwesen an der renommierten Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich. Ab 1900 verbrachte er erste berufliche Jahre in Frankreich sowie in Lemberg, Polen, als Leiter eines technischen Büros einer grossen Bauunternehmung. 1906, mit 29 Jahren, waren für ihn die Lehr- und Wanderjahre vorbei. Es zog ihn zurück in die Schweiz in ein solides, bürgerliches Leben, auch, weil er im Jahr zuvor geheiratet hatte und im Juni sein Sohn Konrad zur Welt gekommen war. So trat er eine Stelle als hauptamtlicher Lehrer am Kantonalen Technikum in seiner Wahlheimat Burgdorf an, wo er 40 Jahre lang Baustatik, Eisenbeton-, Stahl- und Brückenbau unterrichtete. Bei seinen Studenten war Max Schnyder sehr beliebt. «Diese erkannten rasch, dass sie nicht bloss graue Theorie zu lernen hatten, sondern ihnen die Gelegenheit geboten war, sich ein solides Fundament für die Praxis zu erwerben. Bei seinem Rücktritt im Frühjahr 1946 vom Lehramt wurde deshalb nicht nur von der Schulleitung aus sein Wirken sehr lobend gewürdigt, sondern eine grosse Zahl ehemaliger Schüler fand sich zu einer besonderen Feier ein, um ihrem einstigen Lehrer, Berater und Freund ihre Verehrung, Dankbarkeit und Anhänglichkeit zu bekunden»,10 so der ehemalige Burgdorfer Stadtschreiber Fritz Fahrni 1965.
Neben der Lehrtätigkeit führte Schnyder senior sein eigenes erfolgreiches Ingenieurbüro. Aufträge kamen aus dem In- und Ausland. Er entwarf und konstruierte insbesondere Brücken und Silos, etwa den der Handelsmühle Dür in der Burgdorfer Buchmatt, ein «schönes, imposantes Wahrzeichen wirtschaftlicher Initiative». Dank seiner «gewaltigen Schaffenskraft» gelang es ihm, sich neben Lehramt und Ingenieurarbeiten in seiner Freizeit auch noch politisch zu engagieren. Von 1922 bis 1955 wirkte er als Vertreter der Freisinnig Demokratischen Partei (FDP) in rund einem Dutzend städtischer Behörden, unter anderem als Stadtratsmitglied, Mitglied des Gemeinderates sowie Präsident der Baukommission.
Max Schnyder war aufgeschlossen, fortschrittlich und uneigennützig, besass einen scharfen Verstand und eine menschlich warme, humorvolle Art.11 Es drängt sich der Gedanke auf, dass Vater Schnyder, nicht zuletzt wegen der häufig unzufriedenen Gattin, nicht ungern viel Zeit ausserhalb seines Zuhauses verbracht haben mochte. Trotz alledem mag folgender Satz der Wahrheit entsprochen haben: «Er genoss in seinem schönen Heim auf dem Gsteig, an der Seite seiner Lebensgefährtin, immer wieder erbauliche Stunden der Erholung.»
Maximilian Schnyder, Ende der 1940er-Jahre. Der Ingenieur war am Kantonalen Technikum in Burgdorf tätig und bei Kollegen wie Studenten sehr beliebt. Franz’ Filme erfüllten ihn mit Stolz.
Die Beziehung zu den Söhnen war kameradschaftlich. Dabei verfolgte Max Schnyder beglückt deren erfolgreiche berufliche Laufbahn, die nicht nur bei Franz aussergewöhnlich verlief: Konrad wurde ein erfolgreicher Geschäftsmann und Inhaber der Firma CWS, welche die berühmten Handtuchspender international handelte. Felix arbeitete nach seinem Jurastudium als hochrangiger Diplomat, unter anderem als Uno-Hochkommissar für Flüchtlinge in Genf. Die Söhne blieben bis in Max Schnyders hohes Alter seine grösste Freude und ein beliebtes Gesprächsthema. In einem Brief aus dem Jahr 1958 verdeutlicht er seinen Stolz und dass er seine Rolle als Vater, aber auch die der Mutter, durchaus kritisch reflektierte: «Ein Testament mache ich nicht, da ich wohl weiss, dass meine Söhne sehr anständige Bürger geworden sind. Obschon Ihr mir nie viele Mühe gemacht habt und [mir] Euer beruflicher Erfolg ausserordentliche Freude bereitet, so nehme ich doch an, dass mir in Eurer Erziehung viele Fehler passiert sind, die Ihr mir vergeben müsst, da Euch ja nichts anderes übrig bleibt. Es ist mir gleich gegangen, wie allen Vätern.» Nachdem er erläutert hatte, wie und wo er begraben werden wollte, schrieb er abschliessend: «Das sind meine Wünsche, die ich Euch ausspreche, nebst dem Dank für die Freude, die Ihr mir gemacht, in einem Masse, wie es sie nicht jeder Vater erleben darf.»12
Noch bis in die letzten Wochen seines Lebens war Max Schnyder beruflich aktiv. Am 7. April 1965 starb er schliesslich mit 87 Jahren ohne längere Krankheit einen sanften Tod. Seine Gattin folgte ihm nur wenige Monate später, am 18. September, in Zürich. Beide wurden auf dem Burgdorfer Friedhof beigesetzt. Später fanden hier auch Felix und Franz ihre letzte Ruhe.
Der junge Franz
Franz Schnyders Kindheit und Jugend waren, wie damals vielerorts üblich, von erzieherischer Strenge und Verzicht geprägt. Als er vier Jahre alt war, brach in Europa der Erste Weltkrieg aus. Im Grossen und Ganzen wuchs Franz zwar ohne finanzielle Not auf, doch bestanden zu Kriegszeiten auch in der Schweiz Versorgungsengpässe, welche die Familie Schnyder mitbetrafen. In Franz Schnyders Nachlass befinden sich noch einige Lebensmittelmarken aus dieser Zeit, die zum Kauf bestimmter rationierter Waren berechtigten. Aufgestanden wurde jeden Tag um fünf Uhr morgens, sogar an den Wochenenden. Alle drei Buben besuchten zunächst