ein Entscheidungsträger über das Wohl und Wehe seiner Mitbürger. Zu Recht zählte Hollbein aufgrund seines Besitztums und seiner Position zu den angesehenen Bürgern des Städtchens Iphofen.
»Besorge uns etwas Besseres, wenn du kannst. Ich bin froh, ein Dach über dem Kopf zu haben. Oder willst du in einer der Armenwohnungen in den Stadttürmen und Torhäusern untergebracht werden?«, gab Clara zu bedenken.
»Ich weiß nicht, was besser ist, hier bei Hollbein wegen ein paar Lebensmitteln zu Kreuze zu kriechen oder dort von den zugeteilten Lebensmittelrationen zu leben. Zumindest bekommt man da Kartoffeln, Kraut, Rüben und dergleichen ohne zu betteln.« Was Burgecker damit meinte, war die Versorgung der Bedürftigen durch den Armenpflegerat der Stadt. Damit versuchte man die »unterprivilegierten Bevölkerungsschichten« – wie es im Amtsdeutsch hieß – vom Betteln abzuhalten, das zu dieser Zeit durch die allgemeine wirtschaftliche Situation weit verbreitet war.
Gerne hätte Burgecker Clara und den Kindern mehr geboten als dieses zugige, feuchte Loch, aber daran war ganz und gar nicht zu denken. »Aber vielleicht … «, überlegte Wilhelm, » … vielleicht ist der Bauer im Moment ein bisschen großzügiger als sonst … «
»Wie kommst du darauf?«
»Nun, man munkelt etwas von einer Hochzeit seiner Tochter mit Franz Joseph Dannemann, dem Sohn eines Magistratskollegen. Der junge Handwerksmeister soll eine gute Partie sein.«
»Na gut, ich spreche mit Hollbein, wenn ich mit der Stallarbeit fertig bin.« Clara seufzte resigniert. Sie hatte wenig Hoffnung auf Erfolg. »Aber so kann es doch nicht weitergehen. Wir haben immer wieder das gleiche Problem. Es langt hinten und vorne nicht, um uns und die Kinder satt zu bekommen«, meinte sie dann vorwurfsvoll.
»Was erwartest du? Was sollen wir …?«
Die Unterhaltung wurde unterbrochen, als sich die Tür öffnete. Herein trat ein junger Mann, von der Statur her genauso schmächtig wie Wilhelm Burgecker, aber gut einen halben Kopf kleiner als dieser. Das lange rotblonde Haar hing ihm bis auf die Schultern. Wegen der leicht stechenden Augen, dem etwas verschlagenen Blick und der spitzen Nase hatte er Ähnlichkeit mit einem Fuchs. Nie und nimmer hätte man ihn und den größeren dunkelhaarigen Wilhelm Burgecker für Brüder gehalten. Nicht nur äußerlich, auch vom Charakter her waren die zwei grundverschieden. Wilhelm wirkte, trotz seiner angespannten Lebenssituation, ruhig und freundlich. Ferdinand dagegen war der rastlose rebellische Taugenichts, der hier und da als Tagelöhner arbeitete und sich so durchs Leben schlug. Eigentlich waren er und Ferdinand Burgecker auch nur Halbbrüder, da jeder einen anderen Vater hatte, den die beiden aber nicht kannten. Den gemeinsamen Nachnamen hatten sie durch einen Knecht erhalten, der ihre Mutter geheiratet hatte und die zwei Jungen als seine Kinder anerkannte. Leider hielt die Ehe ihrer Mutter nur zehn Jahre, dann verließ der Stiefvater die Familie, ihre Mutter starb vor mehreren Jahren an Typhus. Seitdem waren sie auf sich alleine gestellt gewesen.
Beide waren schon in jungen Jahren durch Diebstähle mit dem Gesetz in Konflikt gekommen und dadurch mit »verschärftem Arrest« durch »Entziehung warmer Kost und das Nachtlager auf bloßen Brettern« bestraft worden. Während die Maßnahmen bei Wilhelm Wirkung gezeigt hatten und er sich eines Besseren besann, war Ferdinand weiter auf die schiefe Bahn geraten und erst vor Kurzem aus dem Ebracher Zuchthaus entlassen worden. Trotzdem hielt Wilhelm an seinem vier Jahre älteren Halbbruder fest und versuchte ihm zu helfen – bisher allerdings mit wenig Aussicht auf Erfolg.
»Was habt ihr für Probleme?«, fragte Ferdinand, der die letzten Worte Wilhelms mitbekommen hatte. Sein Blick richtete sich auf die quengelnden Kinder. »Geht es um eure Bälger?«
»He, rede nicht so von meinen Kindern!«, fuhr Wilhelm seinen Halbbruder an. »Verdammt, ja, sie haben Hunger und ich weiß nicht, woher ich etwas zu essen nehmen soll.« Dann wurde er kleinlaut. »Clara soll mal beim Bauern wegen ein paar Kartoffeln fragen.«
»Schon gut, ich habe es nicht so gemeint«, beschwichtigte Ferdinand, »ich mag die beiden doch auch.« Er überlegte kurz und trat zu Wilhelm hin, um ihm die Hand auf die Schulter zu legen. »Aber Kartoffeln und immer wieder Kartoffeln? Vielleicht sollten wir mal wieder auf die Jagd gehen.«
Wilhelm schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, dass es inzwischen für uns verboten ist. Nur noch die hohen Herren und Grundbesitzer haben das Recht zur Jagd.«
Worauf Wilhelm Burgecker hinauswollte, war die Tatsache, dass bis vor zwei Jahren jeder die Niedere Jagd auf Reh, Hasen und Federwild ausüben durfte. Dann hatte man 1850 Jagdgesetze erlassen und nur noch Jäger und Grundbesitzer mit einer bestimmten Mindestfläche waren jagdberechtigt. Für alle anderen wurde das Erlegen der Wildtiere unter strenge Strafe gestellt.
»Papperlapapp, das interessiert mich nicht«, wehrte Ferdinand ab und deutete auf die beiden Kinder. »Willst du lieber deine Kleinen verhungern lassen? Was ist schon dabei, wenn wir uns ein oder zwei Hasen holen.«
»Und wenn wir erwischt werden?«
Mit bedeutungsvoller Miene meinte Ferdinand: »Dann lassen wir uns eben nicht erwischen. Wir gehen doch nicht zum ersten Mal auf die Jagd.«
»Ja, schon, aber es wird immer riskanter. Weißt du noch, wie wir gleich in dem Jahr, als das Jagdverbot in Kraft trat, zweimal dem Forstaufseher des Grafen nur knapp entgangen sind? Der hatte unsere Schlingfallen für die Hasen gefunden. Dass wir ihn entdeckt haben, bevor er uns gesehen hat, war reiner Zufall. Und dann das letzte Mal kurz vor deinem Haftantritt, der Gendarm, der uns beinahe erwischte. Du konntest gerade noch rechtzeitig den Rucksack mit den beiden erlegten Hasen im Gebüsch verstecken.«
Wilhelms Halbbruder lachte. »Siehst du. Das Glück gehört den Tüchtigen. Wir lassen uns nicht erwischen … «
»Ach ja, und warum bist du dann im Zuchthaus gelandet?«
»Das war etwas anderes, ich wurde verpetzt.«
»Man hat jetzt ein Auge auf dich. Du musst vorsichtig sein, sonst landest du gleich wieder hinter Gittern.«
»Und trotzdem«, meinte Ferdinand mit trotzigem Gesicht, »ich sehe nicht ein, warum das Wild nicht weiterhin auch für uns da sein soll. Diese verdammten Großkopferten sehen die Jagd als reines Vergnügen an, das sie mit niemand teilen wollen. Die müssen aber auch ohne die erlegten Tiere nicht verhungern. Was ist dagegen mit uns? Schau dir deine weinenden Kinder an … schreien vor Hunger … nichts zu beißen … und es wird nicht besser werden. Wilhelm, wach auf, du hast keine Wahl, wenn du nicht jedes Mal bei anderen zu Kreuze kriechen willst. Hast du immer noch deinen wahnwitzigen Traum, dich hier ansässig machen zu können und die Bürgerrechte zu bekommen?«, lachte Ferdinand bei dem letzten Satz ironisch. Worauf Wilhelms Halbbruder anspielte, war der begehrte soziale Aufstieg, auf die die verarmte Unterschicht wenig oder gar keine Chance hatte. Dazu fehlte es den Armen nicht nur an den nötigen Gulden für die Aufnahmegebühr. Als anerkannter Bürger genoss man Vorteile und hatte Rechte, die den Nichtansässigen verwehrt blieben.
Energisch schüttelte Wilhelm den Kopf. »Wir warten erst ab, was Clara bei dem Bauern erreicht.«
»Wie weit wirst du mit einer Hand voll Kartoffeln kommen? Ich sage dir, der Wald bietet uns Nahrung genug, holen wir sie uns.«
»Hast du im Zuchthaus nichts dazugelernt? Wie lange soll das gut gehen, bis sie uns erwischen? Es bringt nichts, sich aufzulehnen.« Dieses Mal war es Wilhelm, der sich erhob und seinem Halbbruder die Hand auf die Schulter legte. »Sieh es doch ein, das Gesetz hat den längeren Arm.«
Ferdinand streifte Wilhelms Hand ab und hob beide Arme, als Zeichen der Ergebenheit. »Gut, gut, ich habe verstanden. Dann leidet weiter zusammen mit euren Kindern Hunger.«
Die beiden Männer wandten sich einem anderen Thema zu und kurz darauf verschwand Clara zu ihrer abendlichen Fütterungsrunde.
»Sie ist eine alte Hexe«, ereiferte sich Clara, als sie zwei Stunden später wieder zurückkam.
»Von wem sprichst du?«
»Na, von wem wohl! Von Auguste Perlacher.«
Mit aufgebrachter Stimme nannte Clara den Namen der Haushälterin des alten