ein bisschen ein schlechtes Gewissen, dass ich den Rufen nicht nachgegangen bin.«
»Ach, in anderer Leute Angelegenheiten sollte man sich nicht einmischen.«
»Du bist gut«, meinte Wilhelm vorwurfsvoll, »da war vermutlich ein Mensch in Not.«
»Deine Reue kommt etwas spät«, entgegnete Ferdinand mit leichtem Sarkasmus. »Lass uns die Sache vergessen.«
*
Leider sollten die Brüder den Vorfall im Wald nicht so schnell vergessen können. Am übernächsten Tag verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer durch Iphofen. Man hatte am Waldessaum, in einem Dickicht am Wegesrand, die Leiche des jungen Franz Joseph Dannemann gefunden. Der junge Mann hatte schon als vermisst gegolten, da er nicht von seiner Arbeitsstelle nachhause zurückgekehrt war. Sein Körper wies unzählige Hieb- und Stichverletzungen auf, die zum Tode geführt haben mussten. Nicht weit entfernt von der Leiche fand man eine kleine hölzerne Werkzeugkiste mit Handwerkerutensilien und daneben einen blutigen Stechbeitel und eine Axt voller Blutspuren. Die Untersuchungen ergaben, dass mit den beiden Werkzeugen aus Dannemanns Kiste die Tat begangen wurde. Weitere zwei Tage später standen Gendarmen vor Wilhelms und Claras Tür. Die alte Minna Rathke schien doch nicht so blind und taub zu sein, wie alle glaubten oder wie alle glauben sollten. Sie hatte überall herumgetönt, am besagten Tag jemand im Wald nahe des Tatortes gesehen zu haben. Natürlich wurden die Gesetzeshüter hellhörig und nahmen sie ins Gebet. Schließlich gab sie an, kurz nach den Hilfeschreien, die sie trotz ihrer angeblichen Schwerhörigkeit vernommen hatte, Wilhelm Burgecker gesehen zu haben. Dieser sei, laut ihrer Beschreibung, »wie der leibhaftige Teufel« an ihr vorbeigerannt. Da man die Übertreibungen der alten Rathke kannte, nahm man das mit dem Teufel nicht so ernst, aber die Aussage an sich schon.
Der Angeschuldigte war zuerst sprachlos hinsichtlich des Vorwurfes, beteuerte dann aber vehement, nichts mit der Tat zu tun zu haben. Sein Bruder Ferdinand stand ihm bei und bezeugte, »dass sie nur im Wald gewesen seien wegen der Pilze und nichts und niemand etwas zuleide getan hätten«. Da Wilhelm auch den Pfarrer als Fürsprecher hatte, der ihm, abgesehen von ein paar Jugendsünden, einen einwandfreien Leumund bescheinigte, wurde der Verdacht gegen Wilhelm fallen gelassen. Es gab keine weiteren Verdächtigen und so trat die Gendarmerie bei den Ermittlungen auf der Stelle.
»Gut, dass mir das mit den Pilzen eingefallen ist«, lachte Ferdinand, nachdem die Vernehmung beendet war, »sonst hätten sie bestimmt wissen wollen, warum wir im Wald waren. Ich habe mich daran erinnert, dass unser Stiefvater um diese Jahreszeit immer Pilze gesammelt hat.« Er kniff die Augen zusammen und überlegte. »Da war so ein komischer Name wie Bovist dabei … und natürlich Waldchampignons und anderes Zeugs.«
»Ich denke, wir sollten vorerst mal nicht mehr auf die Jagd gehen«, meinte Wilhelm Burgecker, dem hinsichtlich der Verdächtigungen die Knie geschlottert hatten. Aber der Drang zu überleben und den Kindern genügend Nahrung zu bieten, war stärker und so waren die beiden Halbbrüder schon zwei Wochen nach dem Ereignis wieder unterwegs.
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Die Bluttat geriet langsam in Vergessenheit, als zwei Monate später ein weiterer Leichenfund in Iphofens näherer Umgebung für Entsetzen sorgte. Dieses Mal betraf es Gustav Herbrecht, den Jagd- und Forstaufseher des Grafen von Rechteren-Limpurg-Speckfeld, aus Markt Einersheim. Unweit der Stelle, an der der junge Dannemann im Spätsommer zu Tode gekommen war, fand man den Leichnam des Aufsehers. Er war, ebenso wie das vorhergehende Opfer, mit zahlreichen Stichverletzungen ermordet worden. Aufgrund anderer Verletzungen am Kopf mutmaßte man, dass Gustav Herbrecht zuerst niedergeschlagen wurde. Vermutlich hatte man ihn dann mit einem Messer oder Ähnlichem brutal erstochen. Neben Herbrechts Gewehr fehlten eine wertvolle Taschenuhr und seine Geldbörse, weswegen zuerst von einem Raubmord ausgegangen wurde.
Tags darauf erschienen die Gendarmen erneut bei Wilhelm Burgecker. Dieses Mal nahmen sie ihn mit und beschuldigten ihn direkt, etwas mit dem Mord zu tun zu haben, da es einen Zeugen gebe. Der junge Georg Birkner, Spross eines angesehenen Großbauern aus der Nachbargemeinde Markt Einersheim, hatte sich gemeldet und ausgesagt, Burgecker am Tatort gesehen zu haben. Ein weiterer Zeuge wurde gefunden, der Wochen zuvor einen Disput zwischen Wilhelm Burgecker und Gustav Herbrecht mitbekommen haben wollte. Tatsächlich hatte der Forstaufseher ihn verdächtigt, gejagt zu haben, konnte es aber nicht beweisen, da Wilhelm keine Beute dabeihatte. Daraufhin hatte Herbrecht ihn gewarnt, dass er jetzt Augen und Ohren noch mehr aufhalten werde, um ihn zu erwischen. Jeder wusste, dass Herbrecht ein »scharfer Hund« war, der gegen Verstöße in seinem Revier rigoros vorging. Trotzdem habe er dem Bediensteten des Grafen nichts zuleide getan, versicherte Wilhelm den Gendarmen. Weder das Gewehr noch die Taschenuhr oder die Geldbörse wurden bei Burgecker gefunden. Dagegen fanden die Gendarmen bei der Durchsuchung des Anbaus, in dem Wilhelm mit Clara und den Kindern wohnte, in einem Schubfach der leeren Räume, die für Tagelöhner freigehalten wurden, ein blutiges Messer. Man erinnerte sich an den vorhergehenden Mord und Minnas Aussage. Dieses Mal schenkten die Gesetzeshüter Burgecker keinen Glauben, als er erneut seine Unschuld beteuerte. Auch sein Bruder Ferdinand oder der ortsansässige Pfarrer konnten ihm in diesem Falle nicht helfen. Er wurde ins Untersuchungsgefängnis nach Windsheim überstellt.
Drei Monate nach der Inhaftierung war die Verhandlung am Schwurgerichtshof Ansbach. Durch den Messerfund, die bestehenden Zeugenaussagen von Minna Rathke und dem jungen Birkner sowie die nachweisliche Auseinandersetzung zwischen Wilhelm Burgecker und dem Jagd- und Forstaufseher Herbrecht war für das Gericht die Sachlage klar. Sowohl der getötete Franz Joseph Dannemann als auch Gustav Herbrecht hatten, laut Gericht, den Angeklagten beim »Jagdfreveln« ertappt, woraufhin Burgecker sie tötete, um nicht verraten zu werden. Wenig oder gar keine Berücksichtigung fand die Tatsache, dass man Herbrechts verschwundene Sachen bei Burgecker nicht gefunden hatte. Gewehr, Taschenuhr und Geldbörse blieben auch darüber hinaus unauffindbar. Das Schwurgericht war unerbittlich und erklärte den Angeklagten des zweifachen Totschlags und wegen seiner Uneinsichtigkeit – Wilhelm beteuerte bis zum Schluss seine Unschuld – für »im vollen Maße schuldig«. Zwar kam er um den Galgen herum, musste aber für das Höchststrafmaß von 20 Jahren ins Zuchthaus.
Seit seiner Gefangennahme verstand Wilhelm die Welt nicht mehr. Bis zum Schluss hatte er gehofft, dass sich alles als ein großer Irrtum herausstellen würde. Erst der Schuldspruch öffnete ihm endgültig die Augen. Jetzt erst wurde ihm so richtig bewusst, wo er die nächsten Jahre verbringen würde. Er bat seinen Bruder, sich um Clara und die Kinder – deren Wohlergehen seine größte Sorge war – zu kümmern in dem Bewusstsein, dass sein Halbbruder dafür eigentlich nicht der Richtige war.
Hatte der Verlust des Verlobten Elisabeth Hollbein schon schwer getroffen, so wurde die Tatsache dadurch verstärkt, dass der Täter unter ihrem Dach gewohnt hatte. Nur wenige Tage nach dem Schuldspruch legte der Bauer Clara nahe, die Stellung bei ihm aufzugeben. Zu sehr würde seine Tochter bei ihrem Anblick und dem ihrer Kinder an den Mörder ihres Liebsten erinnert. Da sie keine neue Anstellung bekam, siedelte Clara Zirner schweren Herzens in eine der Iphöfer Armenwohnungen um. Keiner wollte der Lebensgefährtin eines Mörders Arbeit geben.
Überraschenderweise nahm Ferdinand die Bitte seines Halbbruders – sich um Clara und die Kinder zu kümmern – durchaus ernst. Leider färbte die Verurteilung seines Bruders auch auf ihn ab. Mit dem Namen Burgecker bekam er nicht mal mehr als Tagelöhner eine Beschäftigung. Tagelang beratschlagte Wilhelms Halbbruder mit Clara über die neue Lebenssituation, bis ihm der Ausspruch eines Bauern, bei dem er um Arbeit nachgefragt hatte, die Idee lieferte. »Hier findet der Bruder eines Schwerverbrechers keine Arbeit mehr, am besten du wanderst aus.«
Auswandern – der Gedanke ließ Ferdinand nicht mehr los. Wochenlang besprach er mit Clara das Thema, redete auf sie ein, doch mitzukommen. Zuerst lehnte sie vehement ab, da sie auf Wilhelm, den Vater ihrer Kinder, warten wollte, bis der wieder aus der Haft entlassen würde. Als Ferdinand ihr die lange Zeit von 20 Jahren vor Augen hielt, begann sie sich langsam mit dem Gedanken vertraut zu machen. Aber wohin sollten sie auswandern? Für Ferdinand kam eigentlich nur Amerika in Frage. Er hatte schon einiges von dem Land »mit den unbegrenzten Möglichkeiten« gehört. Man könne ja wieder zurückkommen, wenn Wilhelm seine Strafe abgesessen habe, oder ihn nach Amerika nachholen, argumentierte Ferdinand. So langsam nahm der Plan