ins Auto … Chefchen!«
Demonstrativ stöhnend zwängte sich Rautner in den kleinen Wagen und Jasmin gab Gas. Der Wagen schoss von der schraffierten Fläche auf die Fahrbahn.
Chris hielt sich mit der rechten Hand am Haltegriff fest und fragte: »Wissen wir schon Näheres über den Todesfall?« Eine Bemerkung über Jasmins Fahrstil verkniff er sich, es hätte nur wieder zu einer unnötigen Diskussion geführt und nichts an ihrer Fahrweise geändert.
»Wenn ich es richtig verstanden habe, geht es um einen Treppensturz mit Todesfolge in einem Weingut, aber mehr weiß ich auch nicht.«
Der Rest der Fahrt verlief schweigsam. Jasmin konzentrierte sich auf den Verkehr und Chris trauerte dem ganz anders geplanten Wochenende nach.
Gut zwanzig Minuten später passierte Jasmins Mini die beiden geschmückten Tannenbäume an der Zufahrt zu Iphofens Altstadt, die Einheimische und Besucher an das bevorstehende Weihnachtsfest erinnern sollten, und rumpelte anschließend über das Kopfsteinpflaster. Sie fuhren stadteinwärts, vorbei am Hotel Zehntkeller, einem historischen Gebäude, das seit Mitte des 16. Jahrhunderts als Gerichtsgebäude – das sogenannte »Zentgericht« – gedient hatte, bevor es dann irgendwann später seine jetzige Bestimmung erlangte.
»Jetzt müssen wir hier abbiegen«, bemerkte Jasmins Beifahrer, als ein Gotteshaus ins Blickfeld kam, die Kirche »zum Heiligen Blut«. Ein durchaus geschichtsträchtiges Gebäude, dessen Ursprung – basierend auf einem Blutwunder nach einer Hostienschändung – um 1300 als Kapelle »zum Heiligen Grab« begann und die bald darauf Ziel zahlreicher Wallfahrten wurde. Der von den Einheimischen nur liebevoll genannten »Blutskirche« schenkten die Kommissare aber nur wenig Beachtung. Chris vergewisserte sich stattdessen anhand der Handynavigation, dass sie richtig waren. »Genau hier am Julius-Echter-Platz rechts fahren«, gab er Anweisung.
»Das ist aber ein allerliebstes Städtchen«, meinte die junge Kommissarin. Ihr Blick hing an den farbenprächtigen Fassaden der teils jahrhundertealten Fachwerkhäuser. Viele neu renoviert und die meisten anderen gut erhalten. »Ich muss mir mal die Zeit nehmen und privat hierherkommen.«
»Kannst ja mal einen Gang außen um die Stadtmauer herum am Herrengraben entlang machen. Soll echt erholsam und sehenswert sein. Die Befestigungsanlage ist noch ziemlich gut erhalten und sehr imposant«, brummte Jasmins Kollege.
»Du redest schon wie ein Stadtführer. Woher weißt du das?«
»Ich kenne Iphofen von einem früheren Fall her«, bemerkte Chris. Der fragende Blickseiner Kollegin nötigte ihn zu einer weiteren Erklärung. »Das ist schon über vier Jahre her, also vor deiner Zeit. Hatte auch irgendwie mit einem Weingut zu tun.« Etwas mürrisch meinte er: »Es scheint hier vieles mit Wein in Verbindung zu stehen. Na ja, wenn man sich umsieht, gibt es ja auch reichlich Weinberge ringsherum. Wenn man Theo glauben darf, sind die Weine hier sehr gut. Also ich bin jetzt nicht so der Kenner, aber unser Chef schon«, hob Rautner abwehrend die Hände.
»Ich frag jetzt lieber nicht, was du gerne so trinkst.«
»Ist auch besser so«, gab Chris kurz angebunden zurück.
Das Weingut Birkner lag im Kern des Altstadtbereiches, nur einen Steinwurf vom Museum und vom Benefizium entfernt – einem ehemaligen Besitztum der katholischen Kirche und zuletzt Unterkunft von Klosterschwestern –, das ein privater Investor vor nicht allzu langer Zeit zu neuem Leben erweckt hatte. Zwei Polizeiautos auf der Straße bestätigten Jasmin, dass sie an der angegebenen Adresse richtig war. Trotz des mausgrauen Himmels und nasskalter einstelliger Temperaturen waren schon am Vormittag reichlich Menschen in Iphofen unterwegs. Viele strebten zu dem Weingut, dessen beide Torflügel weit geöffnet waren. Neugierig schielten die Besucher zu den Uniformierten. Es bildeten sich Grüppchen, deren Getuschel sich in der Hauptsache um Vermutungen über die Anwesenheit der Polizei drehte. Die ratlosen Blicke der Umherstehenden ließ vermuten, dass niemand genau wusste, was passiert war.
Angesichts des Andranges waren Parkplätze rund um den Birknerhof Mangelware. Ohne Rücksicht auf die Verkehrssituation und die Tatsache, dass sie in der schmalen Gasse zum Hindernis wurde, stellte Jasmin ihren Wagen ab. Chris hatte es schon längst aufgegeben, ihr diesbezüglich Ratschläge zu geben. Weder Jasmins Fahrstil noch ihr Parkverhalten hatten Rautners Zustimmung, aber er schwieg ergeben.
»Was ist denn hier los?«, fragte Rautner überrascht mit einem Blick in den riesigen Innenhof des Weingutes. Was er meinte, waren die zahlreichen Verkaufsstände, die sich dicht an dicht drängten, und eine immer größer werdende Schar aus Neugierigen und Interessierten, die in das Anwesen strömte.
»Hier ist heute Markttag«, antwortete ein Polizist, der die beiden in Empfang nahm und Rautners Frage mitbekommen hatte.
»Sieht mir eher wie ein Weihnachtsmarkt aus«, bemerkte Jasmin, deren Blick an dem großen geschmückten Tannenbaum in der Mitte des Hofinneren hängen blieb.
»Und wo ist der Tote, um den es geht?«, fragte Rautner und ignorierte Jasmins Äußerung.
»Unten im Weinkeller.«
»Können Sie mir auch sagen, wie wir da hinkommen, oder muss ich mich erst durchfragen?« Die Stimmung des Kommissars hatte sich nicht wesentlich gebessert.
»Ganz hinten rechts, dort, wo mein Kollege steht, durch die Tür und dann die Treppen hinunter«, stotterte der junge Uniformierte verlegen, »der Tatort liegt im zweiten Untergeschoss.«
»Mensch, Chris, lass deine schlechte Laune nicht an Unschuldigen aus.«
Der Angesprochene brummte etwas Schwerverständliches wie: »Hab keine schlechte Laune«, und folgte der Wegbeschreibung des Kollegen. Jasmin versuchte nicht den Anschluss zu verlieren.
Die beiden Kommissare überquerten den weitläufigen Hof, vorbei an Ständen mit Honig und Marmelade, Wurst und Käse, Eiern und Nudeln, süßen und deftigen Backwaren, Obst und Gemüse sowie Spezialitäten, die es nur zur Weihnachtszeit gab. Ihnen stieg der Duft von Gegrilltem in die Nase. Es konnte probiert, gekauft und auch gleich verzehrt werden. Natürlich sollte der Schwerpunkt des Verkaufes auf dem Wein und dem hochprozentigen Angebot des Weingutes liegen. Bisher war Birkners Konzept ganz gut aufgegangen. Neben Einheimischen und Kunden aus den umliegenden Ortschaften, die den Markt als Einkauf für frische regionale Produkte nutzten, war er auch ein Magnet für Touristen, die in der Region Urlaub machten oder als Tagesausflügler mit dem Zug aus den mittelfränkischen Metropolen Nürnberg oder Fürth anreisten.
Angesichts von Rautners griesgrämigem Gesichtsausdruck öffnete der Uniformierte dienstbeflissen die Tür und zeigte mit dem ausgestreckten Arm zum Treppenabgang. Ohne sich großartig umzublicken, stiegen Rautner und Blume die Stufen hinab. Die neue Rechtsmedizinerin, Frau Doktor Wollner, beendete gerade ihre erste Begutachtung der Leiche und erhob sich. Sie streifte die Gummihandschuhe von den Händen und wandte sich von dem Toten ab.
»Na, Frau Doktor, wie sieht es aus?«
Chris hatte das Ende der Treppe erreicht und warf einen Blick auf den Verstorbenen, der immer noch so dalag, wie ihn sein Enkel vor Stunden gefunden hatte.
»Der Tote hat einen Genickbruch erlitten, aber ich bin mir nicht sicher, ob das die Todesursache war. Darüber werden Sie mehr erfahren, wenn ich den Mann auf meinem Tisch liegen hatte. Im Moment kann ich Fremdeinwirkung nicht ausschließen.« Dorothea Wollner sah sich um. »Wo haben Sie denn Hauptkommissar Habich gelassen?«
Beinahe wäre Chris die Frage herausgerutscht, ob sie ihn vermisse, aber er konnte sich gerade noch zügeln. Jasmin kam ihm mit einer Antwort zuvor. »Unser Chef ist auf Familienfeier. Sie müssen mit uns vorliebnehmen.«
»Ach ja, ich glaube, er erwähnte so etwas«, sagte Frau Doktor. »Es war von einem Geburtstag die Rede.«
»Fremdeinwirkung?«, fragte Rautner kurz angebunden und unterbrach damit die Unterhaltung der zwei Frauen.
»Ich habe Spuren am Toten gefunden«, gab die Rechtsmedizinerin Auskunft und fügte gleichzeitig hinzu: »Aber sicher bin ich mir nicht. Dazu später mehr.«
»Übrigens, wer ist überhaupt der tote Mann?