kann ich die Zeit maximal auf eine Stunde eingrenzen. Damit komme ich auf etwa 19 bis 20 Uhr.«
»Danke! Ich werde mir den Bericht gleich zu Gemüte führen.«
»Sind Sie im Büro?«, fragte Dorothea Wollner überrascht.
»Ja, zuhause war es mir zu langweilig.«
»Na gut, ich hatte einen langen Tag und mache jetzt Feierabend. Morgen kann ich Gott sei Dank mal ausschlafen.« Mit den Worten »Wir sehen uns spätestens Samstagabend« beendete sie das Gespräch, bevor Habich weitere Fragen stellen konnte.
Habich suchte und fand die Mail der Gerichtsmedizinerin. Mit Ruhe, den Kopf in die Hand gestützt, las er, was Frau Doktor bei der Obduktion alles festgestellt hatte. Das, was sie ihm schon zum größten Teil als Vermutung mitgeteilt hatte, wurde nun hiermit offiziell bestätigt. Eine halbe Stunde später schaltete der Hauptkommissar das Licht aus und machte sich auf den Heimweg.
Ein alter Bekannter
»Einen wunderschönen guten Morgen.«
Mit diesen Worten stürmte Rautner am Montag in aller Frühe ins Dienstzimmer der Würzburger Mordkommission, das er sich mit seiner Kollegin teilte. Jasmin, die gerade Kaffee aufsetzte, drehte sich überrascht um.
»Du meine Güte, da hat aber jemand gute Laune. Olá, Brasilien lässt grüßen!«, lachte Jasmin. »Ich vermute, du konntest das Wochenende noch retten.«
»Aber hallo, mehr sage ich nicht.« Schmunzelnd machte er ein Zeichen, dass seine Lippen ansonsten verschlossen bleiben würden.
»Es geht vermutlich wieder um die holde Weiblichkeit!«, kommentierte Hauptkommissar Habich die Szene, die er von dem Türrahmen der Verbindungstür zu seinem Zimmer aus verfolgte. »Nichts als Frauen im Kopf! Gibt es bei dir auch noch etwas anderes?«
»Neidhammel«, konterte Rautner, »bloß, weil du dich am Wochenende mit einer Rentnergang auf dem 80. Geburtstag abgeben musstest.«
»Ach«, winkte Habich ab und verschwand im Nachbarzimmer, um weiterem Geplänkel zu entgehen. Es sollte aber nicht lange dauern, da tauchte der Hauptkommissar, mit einer Akte in der Hand, wieder auf. »Wir haben einen neuen Fall.«
»Meinst du die Sache in Iphofen oder einen ›ganz neuen Fall‹?«, hakte Rautner nach.
Habich sah auf den Aktendeckel. »Es geht um Karl Birkner aus Iphofen. Ich habe hier den Bericht der Gerichtsmedizin.«
Rautner nahm seinem Chef die Akte aus der Hand, schlug sie auf und las. Nach wenigen Sätzen hob er den Kopf. Sein Blick ging in Richtung des Hauptkommissars. »Immer diese medizinischen Begriffe, die kein Mensch versteht. Was ist ein Aortenaneurysma?«
»Keine Ahnung«, gestand Habich und griff zum Hörer, »aber das lässt sich ändern.« Er stellte das Telefon auf Lautsprecher und alle drei konnten es klingeln hören. Bevor jemand abhob, legte Habich plötzlich wieder auf und schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ich habe ja ganz vergessen, dass Frau Doktor Wollner frei hat. Ich werde es … äh, morgen früh in Erfahrung bringen.« Beinahe hätte sich der Hauptkommissar verplappert, aber er wollte die Sache mit der hübschen Rechtsmedizinerin von sich aus nicht an die große Glocke hängen. Auch wenn immer noch die Gefahr bestand, Wollners Kollegen aus der Gerichtsmedizin könnten das sonntägliche Gespräch verbreiten. Dass Frau Doktor Wollner ihre Mitarbeiter entsprechend geimpft hatte, den Mund zu halten, konnte Habich nicht wissen. Für ihn galt, solange niemand davon wusste, würde es keine Gerüchte und blöden Bemerkungen geben. Selbst seinen beiden engsten Mitarbeitern wollte er die Sache so lange wie möglich verschweigen, hatte Habich entschieden. Noch wusste er selbst nicht, wohin der private Kontakt zu Dorothea Wollner führen würde, und so lange hatte er sich Stillschweigen auferlegt. Sollte sich die »Beziehung« vertiefen, würden die anderen es noch früh genug erfahren, sollte es ein Strohfeuer sein, so brauchte er wenigstens keine Erklärungen abzugeben, wenn keiner was davon wusste.
»Hier ist auch von Hämatomen im Bauch- und Brustbereich die Rede. So wie sich das im Bericht liest, sind das Fremdeinwirkungen durch Tritte oder Schläge.«
»Ja, ja, ich weiß.« Habich überlegte kurz, dann nickte er. »Okay, Jasmin, du recherchierst mal ein bisschen über das Weingut. Du weißt schon, so Allgemeines, Hintergründe und die finanzielle Situation. »Wir«, dabei sah er Rautner an, »werden uns vor Ort noch mal umsehen. Ich will mir selbst ein Bild machen. Chris, du versuchst herauszubekommen, wer alles am Tattag noch im Weingut war. Also, ich meine, außer die, von denen wir schon wissen. Wenn wir eine Namensliste haben, beginnen wir mit den Befragungen. Die Spusi wurde schon gestern Abend von mir angewiesen, sich noch mal am Leichenfundort umzusehen. Die müssten schon im Weingut an der Arbeit sein. Ich habe aber wenig Hoffnung, dass die etwas Verwertbares finden.«
Während die beiden Kommissare das Büro verließen, richtete Jasmin ihr Augenmerk auf den Computerbildschirm. Zuerst durchforstete sie das Internet nach allem, was sie über den »Birknerhof« finden konnte. Neben der eigenen Webseite des Weingutes fand sie in den lokalen Medien Berichte über den »Markttag«, über Auszeichnungen von Weinen und andere meist werbewirksame Aktivitäten rund um die Produkte der Familie Birkner. Auch im gesellschaftlichen Teil der örtlichen Presse traf Jasmin einige Male auf den Name Birkner. Hier half ihr das Archiv des regionalen Zeitungsverlages weiter. Sowohl als Parteimitglied, als Kreisrat und Iphöfer Stadtrat fand der Tote in der Vergangenheit oftmals Erwähnung. Sein Sohn Hermann war nicht nur im eigenen Betrieb in die Fußstapfen des Vaters getreten. Seit Karl Birkner sich vor etlichen Jahren aus allen politischen Ämtern zurückgezogen hatte, war Hermann Birkner als Stadtratskandidat nominiert worden und hatte den Platz des Vaters übernommen. Nur für den Kreistag hatte der Sohn nicht kandidiert. So nach und nach trug Jasmin alle Informationen zusammen und speicherte sie ab, bevor sie sich den Finanzen des kleinen Unternehmens widmete.
*
Dort wo am Samstag die Verkaufsbuden aufgebaut waren, herrschte nun das normale Alltagstreiben. Die Kundenparkplätze waren zu zwei Dritteln von Fahrzeugen belegt, darunter erkannten die beiden Kommissare auch einen Wagen der Spurensicherung. Im hinteren Teil des Hofes wurde gerade ein Kleintransporter per Hand mit einer größeren Menge von Weinkisten beladen und ein 7,5-Tonner mit offenem Heck wartete scheinbar darauf, entladen zu werden. Rautner stellte den Dienstwagen auf einem der ausgewiesenen Parkplätze ab. Nachdem er seinem Chef den Weg zum Fundort der Leiche beschrieben hatte, begab er sich wegen der Namensliste ins Büro des Weingutes.
Habich schlenderte derweil über den Hof, der einen sauberen und aufgeräumten Eindruck machte. Auch das Anwesen ringsherum befand sich in gutem Zustand, ein Zeichen dafür, dass das Geschäft florierte und somit auch in die Erhaltung der Gebäude investiert werden konnte. Das große Tor der Halle, auf die Rautner gedeutet hatte, war offen und davor stand der Lkw, von dem soeben palettenweise in Folie eingeschweißte leere Weinflaschen entladen wurden. Ein Mann stellte die Ware mit einem Hubwagen am Heck des Lkws ab, ein anderer Mann fuhr die Paletten mit einem gasbetriebenen Stapler in den rückwärtigen Teil des Gebäudes. Keiner der beiden kümmerte sich um den Hauptkommissar. Der blieb kurz stehen, sah beim Entladen zu und warf einen Blick in die Runde. Am anderen Ende der Halle, dort, wo die angelieferten Flaschen abgestellt wurden, erkannte der Hauptkommissar eine größere Abfüllanlage. Vom Tor aus gesehen links, etwa in der Mitte der Halle, stand ein imposantes Teil aus Edelstahl mit einer Trommel. So viel wusste Habich inzwischen von der Weinverarbeitung, dass dies eine Weinpresse war, in die die Trauben nach der Lese wanderten. An der Wand dahinter reihten sich mehrere verschieden große Edelstahltanks auf, in die der gepresste Traubensaft anschließend gepumpt wurde. Etwa auf der Hälfte der rechten Wand erblickte Habich den Treppenabgang, durch das rotweiße Polizeiband gut gekennzeichnet als Weg zum Ort des Geschehens. Daneben, am hinteren Ende der Wand, der alte Aufzug mit der dazugehörigen Fördertechnik auf dem Gehäusedach. Zielstrebig steuerte er auf die Treppe zu, ignorierte die rotweiße Absperrung und stieg darüber. Etwa auf der Hälfte der Stufen trat ihm eine vermummte Person im weißen Overall entgegen. Die erhobene rechte Hand des Vermummten gebot ihm Einhalt. »Betreten verboten, es sind schon genug hier unten herumgetrampelt und haben eventuelle