Als Proskov seinen Sitzplatz gewechselt hatte, bemerkte Habich: »Ich würde gerne mehr über den alten Birkner erfahren.«
»Was wollen Sie wissen?«
»Ihre Einschätzung von Wesen und Charakter Karl Birkners zum Beispiel. Vielleicht etwas aus seinem Leben. Ich möchte den Mann kennenlernen, mir ein Bild von ihm machen«, deutete der Hauptkommissar an. »Wie hat er sich seinen Mitmenschen gegenüber verhalten? Solche Dinge interessieren uns.«
Ohne dass der Ex-Lehrer eine Bestellung aufgegeben hatte, brachte die Bedienung einen Tee und eine Butterbrezel für ihn. So wie es aussah, war er Stammgast und man wusste, was er trank und aß. Mit Sorgfalt und Bedacht schüttete er Zucker in sein Getränk und rührte andächtig darin herum. Weder Habich noch Rautner störten Proskov, der seine Gedanken zu sammeln schien.
»Wie man unschwer an meinem Namen erkennen kann, stammen meine Eltern nicht von hier, wir kommen aus Ostpreußen«, holte der Ex-Lehrer bei seinem Bericht etwas weiter aus. Habich ließ ihn gewähren und hörte zu. »Auch ich wurde noch dort geboren und im Alter von vier Jahren kam ich mit meinen Eltern hierher nach Iphofen. Schon in der Grundschule hatte ich den ersten Kontakt mit Karl. Zuerst fiel er mir in den Pausen auf dem Schulhof als Wortführer auf. Sich aufzuspielen und anderen Anweisungen zu geben, hat man ihm scheinbar in die Wiege gelegt. Er war zwar nicht der Klügste in der Schule, aber an Ehrgeiz hat es ihm nie gemangelt. Mit dieser Einstellung schaffte er vermutlich auch den Sprung aufs Gymnasium. Obwohl später ›böse Zungen‹ behaupteten, dass auch sein Vater dabei die Finger im Spiel gehabt hatte. Dazu muss man wissen, die Birkners spielten schon sehr lange eine gewisse einflussreiche Rolle in unserem Städtchen. Noch näher lernte ich Karl durch den Sportverein kennen. Wir haben zusammen Fußball gespielt … Na ja, ›zusammen‹ ist jetzt übertrieben. Zuerst spielte er eine Altersklasse über mir und ich traf ihn hauptsächlich im Training oder wenn ich zufällig mal bei einem der Spiele zuschaute, bei denen er mitspielte. Erst als ich die Jugendmannschaft verließ, war ich mit ihm in einer Mannschaft. Er war sportlich gesehen ein ›harter Kerl‹ und konnte nicht gut verlieren. Diese Eigenschaft ist im erhalten geblieben. Mir hat er mal in jungen Jahren eine Freundin ausgespannt, da war unser Verhältnis eine Zeitlang gespalten. Das Mädel hat es aber weder bei mir noch bei ihm lange ausgehalten, da ist sie schon wieder zu einem anderen gewechselt. Somit mussten wir beide erkennen, dass es für uns nicht die Richtige war, und plötzlich hatten wir wieder mehr Kontakt.« Seine Erzählung ging nur stockend voran. Zwischendurch biss er immer wieder in seine Brezel, kaute genüsslich und schlürfte an seinem heißen Tee. »Eins möchte ich auf jeden Fall anmerken«, sagte der Ex-Lehrer plötzlich mit Nachdruck und hob dabei den Zeigefinger. »Karl konnte ein schwieriger Fall sein, außerdem war er immer auf seinen Vorteil bedacht, aber soweit ich ihn kenne, hat er nie mit unfairen Mitteln gekämpft.« Wieder entstand eine kleine Denkpause. »Dadurch, dass Karl im Gymnasium eine Klasse wiederholen musste, war er für die letzten drei Jahre in der Schule schließlich mein Klassenkamerad. In dieser Zeit entstand die bis dahin intensivste Verbindung zwischen uns beiden, da ich ihm quasi Nachhilfe gegeben habe. Warum Karl unbedingt das Abitur machen sollte, habe ich bis heute nicht verstanden, schließlich stand von vornherein fest, dass er mal das elterliche Weingut übernehmen würde. Dazu brauchte man damals keine höhere Bildung und erst recht nicht die Notwendigkeit zu studieren. Nun gut, ich habe ihn mit durch’s Abi geschleift. Seit dieser Zeit waren wir gute Freunde. Wir haben viel Blödsinn miteinander getrieben. Eben was Jungen in dem Alter so tun.« Der alte Proskov schwelgte kurz in Erinnerungen und lachte, dann wurde er wieder ernst. »Komischerweise trat sein Intellekt erst lange nach der Schule so richtig zu Tage. Auf einmal machte er sich über Dinge Gedanken, die ihn vorher nie interessiert hatten. Er zeigte plötzlich überaus großes Interesse am eigenen Betrieb, früher hatte sich seine Begeisterung für die Arbeit rund um den Wein in Grenzen gehalten. Genauso wie er begann, sich politisch zu engagieren. Eines Tages – Jahre später, nachdem wir Schulzeit und Jugend hinter uns gelassen hatten und erwachsen geworden waren – kandidierte er dann für den Stadtrat und bekam doch tatsächlich genug Stimmen. Ich wollte es erst gar nicht glauben. Schließlich war er immer noch ein bisschen rebellisch und vorlaut, aber genau das schien ihm geholfen zu haben. Eine Wahlperiode später wurde er sogar in den Kreistag gewählt. Wir haben über die Jahrzehnte so manche kommunalpolitische Diskussion geführt und dabei auch manchen Schoppen getrunken«, konnte sich der ehemalige Lehrer an das Vergangene erinnern.
»Was hat Birkner eigentlich direkt nach der Schule gemacht?«
Etwas nachdenklich kratzte sich Proskov am Kopf. »Da muss ich gestehen, bin ich mir nicht mehr hundertprozentig sicher, was Karl genau alles gemacht hat. Es war die Zeit, wo ich an der Pädagogischen Hochschule in Würzburg zu studieren begann, um Lehrer zu werden. In den Jahren haben wir uns etwas seltener gesehen und wenn, dann haben wir wenig über Arbeit und Studium gesprochen. Wenn ich das noch richtig nachvollziehen kann, hat Karl zuerst eine kaufmännische Lehre in Würzburg absolviert und ist dann zum Juliusspital, um den Weinbau zu lernen oder so ähnlich. Danach ist er in den väterlichen Betrieb gewechselt.«
»Standen Sie auch in der letzten Zeit noch miteinander in Verbindung?«
»Ja, ja, wir haben erst letztens wieder zusammengesessen. Mal habe ich ihn besucht, mal er mich oder wir waren gemeinsam auf einen Schoppen im ›Achterle‹.«
»Gab es irgendwelche außergewöhnlichen Ereignisse, wo er sich unbeliebt gemacht hat oder sich Feinde geschaffen haben könnte?«, unterbrach Habich den Ex-Lehrer. Proskov sah ihn etwas verständnislos an. »Ich meine, hatte er mal mit jemandem so richtig Ärger?«
»Äh, also … « Der alte Lehrer kam ins Stottern. »Sie meinen so, dass derjenige ihm etwas hätte antun wollen?«, erkundigte sich Proskov etwas nervös.
»Genau, an so etwas in der Art hatte ich gedacht.«
Energisch schüttelte Proskov den Kopf und meinte: »Und wenn, warum dann jetzt, wo er sich schon jahrelang von allem zurückgezogen hatte?«
Der Hauptkommissar erinnerte sich an die Aussage des Sohnes Andreas Birkner, der eine ähnliche Feststellung gemacht hatte. In Gedanken versunken schüttelte Habich den Kopf. »Es muss ja nichts mit geschäftlichen Dingen oder der Politik zu tun haben, sondern möglicherweise mit dem privaten Bereich.«
Jetzt war es an dem alten Proskov, energisch sein weißhaariges Haupt zu schütteln. »Das kann ich mir nicht vorstellen … Also ich wüsste nichts davon … Karl hat nie so etwas erzählt.« Dann wurde er plötzlich zögerlich. »Obwohl … obwohl ich sagen muss, er war … jetzt wo Sie mich darauf ansprechen … hmm, er war die letzte Zeit schon ein bisschen anders … wie soll ich sagen«, überlegte er, »vielleicht etwas nachdenklich und in sich gekehrt, so als wenn ihm etwas auf der Seele liege. Geäußert hat er sich dazu auf jeden Fall nicht. Letztendlich habe ich es dann doch seinem Alter zugeschrieben. Im Alter verändert sich der Mensch oder zumindest seine Einstellungen, manche von uns werden dann wunderlich, eigenartig … oder wer weiß, was sonst noch«, mutmaßte der alte Mann und brach schließlich seine philosophischen Gedanken ab.
»Er hat sich also auch nicht über Ungewöhnliches ausgelassen oder über außergewöhnliche Vorkommnisse in der letzten Zeit erzählt?«, vergewisserte sich Habich noch einmal, aber als Antwort kam nur ein Kopfschütteln von dem alten Proskov. Der unruhige Blick, der zusammengepresste Mund und das nervöse Zucken der Mundwinkel schien sowohl dem Hauptkommissar als auch seinem Kollegen Rautner entgangen zu sein.
Mit dem Ex-Lehrer kam er nicht weiter, der wusste nichts und konnte ihnen nicht weiterhelfen, entschied Habich nach den letzten Worten. Er winkte der Bedienung und gab ihr ein Zeichen, dass er zahlen wollte. »Herr Proskov, ich danke Ihnen für Ihre Informationen, aber wir müssen wieder los.« Nur eine Minute später standen die beiden Kommissare auf und verabschiedeten sich.
Draußen vor der Tür bemerkte Habich zu Rautner: »Proskovs Erzählung war ja ganz interessant, aber für unseren Fall nicht sehr aufschlussreich.«
»Er wirkte auf mich ein bisschen verwirrt und nervös. Ich glaube, eine sichere Informationsquelle sieht anders aus«, bemerkte Rautner etwas abfällig. »Ich finde es auch komisch, dass die Andeutungen seiner Söhne irgendwie anders klingen, als Proskov uns den alten Birkner geschildert hat.«