Alexander Pelkim

Unheilvolle Vergangenheit


Скачать книгу

das Geld für die Überfahrt nehmen?

      Überraschend erhielten sie Hilfe von der Stadt Iphofen. Der Magistrat unterstützte hin und wieder Auswanderungspläne und übernahm die Kosten der Bahnfahrt und der Schiffspassage. Man wollte damit soziale Spannungen entschärfen und die Armenkasse dauerhaft entlasten. So entschieden die Stadtväter – unter besonderer Fürsprache von Ludwig Hollbein – im Falle von Ferdinand Burgecker und Clara Zirner, ihr Vorhaben zu finanzieren. An einem nasskalten trüben Tag Anfang November des Jahres 1853 machte sich Ferdinand Burgecker zusammen mit Clara und den beiden Kindern auf den Weg. Zuerst mit dem Pferdewagen und dann mit der Bahn ging es Richtung Norden. Ihr Ziel war Bremen, von wo aus sie ihre Reise nach Amerika antreten wollten.

      Ein letztes Mal hatte Clara alles darangesetzt, Wilhelm im Gefängnis besuchen zu können, bevor sie auf die große Reise gingen. Aufgrund ihrer sozialen und finanziellen Situation wurde es ein langer und beschwerlicher Weg bis nach Kaisheim ins Donau-Ries, wo Burgecker im dortigen Zuchthaus seine Strafe absitzen musste. Natürlich war er zuerst alles andere als begeistert, als er von den Auswanderungsplänen hörte. Ferdinand, der Clara begleitete, und auch Clara selbst schilderten ihm die schwierigen Lebensumstände in Iphofen, die sie seit seiner Verurteilung hatten. Trotzdem wurde es für Wilhelm schwer, zu akzeptieren, dass er seine Partnerin und seine Kinder womöglich nie mehr sehen würde, obwohl Ferdinand und Clara ihm versprachen, ihn nach der Entlassung nach Amerika nachzuholen oder zurückzukommen. Beides Vorsätze, die schwer zu verwirklichen waren, wie sich nicht nur der inhaftierte Burgecker eingestehen musste. Es wurde ein wehmütiger Abschied von Wilhelm. Weniger Tränen weinten sie ihrer alten Heimat nach, als das Fuhrwerk über das Kopfsteinpflaster zum Tor hinausrumpelte.

       Ein Todesfall

      »Opa ist verunglückt! Ich glaube, er ist tot!« Mit diesen Worten stürmte ein schlanker junger Mann atemlos ins Zimmer. Die Worte galten einer älteren korpulenten Person hinter einem Schreibtisch. Der Mann erhob sich trotz seiner Körperfülle so schwungvoll, dass der Bürostuhl an die Wand knallte, stützte sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab und schaute den jungen Mann entsetzt an.

      »Wie? … Wo? … Was ist passiert?«, stammelte er dann irritiert.

      »Ich habe ihn im untersten Gewölbekeller gefunden. Er muss die Treppe hinuntergestürzt sein.«

      »Hast du die Rettung gerufen?«

      Aufgeregt nickte der junge Mann. »Ja, ja, selbstverständlich.«

      Eilig kam der Ältere hinter dem Schreibtisch hervor. »Warte du im Hof, bis die Rettungskräfte kommen, und zeige ihnen den Weg, ich werde nach Vater sehen.«

      Bei den beiden Männern handelte es sich um den derzeitigen Chef des bekannten Iphöfer Weingutes Birkner, Hermann Birkner, und seinen Sohn Stefan, der die schreckliche Nachricht überbracht hatte. Der Siebenundfünfzigjährige mit dem spärlichen Haarkranz und dem stattlichen Bauchumfang hastete aus dem Zimmer, gefolgt von seinem Sohn. Beide stürzten aus dem Haus und wandten sich nach verschiedenen Richtungen. Hermann rannte, so schnell es sein Alter und sein Körpergewicht zuließen, auf die Hallen zu und Stefan zur Hofeinfahrt, um das Sanitätsauto und den Notarzt in Empfang zu nehmen.

      Mit Schwung riss Hermann Birkner die Hallentür auf und lief an einer Weinpresse, gestapelten Holzkisten, Behältern und Bottichen vorbei zum Treppenabgang, der in die zwei Stockwerke tiefen Gewölbekeller führte. Sich krampfhaft am eisernen Geländer festhaltend nahm er hin und wieder zwei Stufen auf einmal. Feuchtkalte Luft schlug ihm entgegen, als er sich abwärtsbewegte. Er beachtete weder die Edelstahltanks noch die im Weg stehende Filteranlage oder die Schläuche, die sich an den Tanks entlangschlängelten. Hier unten waren die Vorbereitungen für den Ausbau der Jungweine im Gange. Die einen Sorten lagerten in hochmodernen Tanks aus Edelstahl, andere in traditionellen Holzfässern. Birkner erreichte die Treppe, die in die zweite Gewölbeetage führte, und sah schon von oben seinen Vater liegen. Die verdrehte Körper- und Kopfhaltung ließ nichts Gutes erahnen. Hastig stieg er hinab. Laut keuchend erreichte er das untere Gewölbe und beugte sich über seinen Vater. Mit Zeige- und Mittelfinger suchte er dessen Schlagader am Hals zu ertasten, so wie er es vor Jahren mal in einem Rotkreuz-Kurs gelernt hatte, aber er konnte nichts erfühlen. Betroffen von der Tatsache, dass sein Vater vermutlich nicht mehr lebte, erhob er sich und atmete heftig aus. Viel Zeit zum Nachdenken blieb ihm nicht, als er von oben Stimmen und eilige Schritte hörte. Stefan Birkner tauchte auf, hinter ihm der Notarzt und zwei Sanitäter. Hermann und sein Sohn sahen sich schweigend an, während sich die Rettungskräfte um den Verunglückten kümmerten.

      »Weiß es Mutter schon?«, fragte Hermann Birkner schließlich.

      Stefan schüttelte den Kopf. »Vermutlich nicht, sie bereitet eine Weinprobe vor. Aber dass etwas passiert ist, war wegen der Sirene und dem Blaulicht nicht zu überhören.«

      »Dann geh und informiere sie.«

      Im selben Moment vernahm man Schritte von hochhackigen Schuhen im Gewölbe darüber. Das pausbackige Gesicht einer Frau, umrahmt von dunkelblonden schulterlangen Haaren, tauchte an der Treppe auf. »Was ist denn …? Ach herrje, Karl!«, rief sie entsetzt, nachdem sie die Situation erkannt hatte. »Ist er …?«

      Bevor jemand antworten konnte, hob der Notarzt seinen Kopf und sah in die Runde. »Tut mir leid, da ist nichts mehr zu machen. Wahrscheinlich Genickbruch. Er muss sofort tot gewesen sein.«

      Eine Etage höher ertönte ein Aufstöhnen. Schwiegertochter Waltraud lehnte mit kreidebleichem Gesicht an der Mauer, ihr Mann und ihr Sohn standen stumm und betroffen neben dem Leichnam.

      »Wie ist es passiert, war jemand dabei?«, fragte der Notarzt.

      Die beiden Männer sahen sich an und schüttelten einstimmig den Kopf.

      »Als ich ihn fand, war weit und breit niemand zu sehen«, antwortete der junge Birkner.

      »Ich habe auch keine Ahnung, was er so früh hier unten alleine wollte«, sagte Hermann Birkner.

      Hermann stieg die Treppe hinauf und wollte seine Frau in den Arm nehmen, doch sie entzog sich seiner Umarmung und blickte ihren Mann vorwurfsvoll an.

      »Ich sage die ganze Zeit schon, dein Vater gehört nicht mehr hier in den Betrieb. Außerdem hat er manchmal unsicher und verwirrt gewirkt. Es musste ja mal so kommen.«

      »Quatsch!«, unterbrach ihr Mann sie. »Papa war fit. Der Betrieb war sein Ein und Alles und die Kellerführungen sein Steckenpferd. Das hätte ich ihm nicht nehmen können.«

      »Aber vielleicht würde er dann noch leben«, entgegnete sie vorwurfsvoll und stutzte dann. »Wieso Kellerführung? Ich denke, er war alleine?«

      »Scheinbar schon.« Hermann zuckte mit den Schultern. »Aber er hat gestern Abend etwas von einer Kellerführung gebrummt. Leider habe ich nicht genau zugehört, da ich ein Telefonat hatte.«

      Hermanns Sohn mischte sich ein. »Es kann aber doch niemand dabei gewesen sein, sonst wäre derjenige oder diejenigen doch da. Ich glaube kaum, dass jemand Opa alleine gelassen hätte.«

      Nachdenklich nickte Stefans Vater. »Eigentlich hat er die Treppe auch nur noch genutzt, wenn er Besucher dabeihatte, ansonsten hat er den Aufzug genommen.« Schon vor rund 100 Jahren hatte der Großvater des jetzt verunglückten Karl Birkner nachträglich einen Lastenaufzug einbauen lassen. Damit wurden die Arbeit im Keller und der Transport schwerer Teile wesentlich erleichtert. Gerade in der zweiten Gewölbeetage lagerten die edlen Tropfen. Dort in der untersten Etage reiften besondere Weine, in der Hauptsache Rotweine in Eichenfässern, und andere alkoholische Getränke, wie Schnäpse, Brände und Liköre, heran. Ein Teil davon flaschenweise einzeln in Regalen aufgereiht oder in Kisten gestapelt, der Rest im Keller nebenan in Weinballons oder Holzfässern. Nicht umsonst war dieser Bereich Karl Birkners ganzer Stolz.

      »Ich denke nicht, dass es heute Morgen passiert ist«, unterbrach der Notarzt die Diskussion zwischen Vater und Sohn.

      »Wann denn dann?«

      »Der Tod dürfte schon vor Stunden eingetreten sein.«

      »Vor