(357). Dennoch – oder gerade deshalb? – steht für ihn fest: „Ich brauche die Wahrheit der Anderen.“ (260)
Wozu dient die Christenheit?
Wer den Glauben in der Situation der Diaspora lebt, ist ständig herausgefordert, vor sich und vor den Anderen den Sinn der eigenen Option darzulegen. Als im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre die arabisch-muslimische Identität immer stärker und gelegentlich für Nicht-Muslime bedrohlich erscheint, schreibt Henri Sanson: „Wir schreiten voran in der Nacht. Es kommen uns in dieser Nacht ungewöhnliche Fragen: zu was dient die Christenheit?“ (251) Claverie sieht den Verlust an kirchlichem Einfluss, aber – das mag überraschen – er bedauert ihn nicht. Denn dieser Verlust bedeutet zugleich die historische Chance, die eigene christliche Sendung neu zu begreifen. In einem Vortrag in Montpellier Ende Februar 1995 – die jahrzehntelang andauernde Gewalt hat in Algerien unzählige Opfer auf allen Seiten gefordert – fasst der Bischof von Oran seine Analyse der Lage zusammen: „Alles ist aus dem Gleichgewicht geraten, und es gibt Bruchstellen am Leib, am Herzen, im Geist.“ Die Suche nach dem Ort der Christenheit in dieser historischen Situation muss sich an Jesus orientieren: „Jesus ist gestorben, zwischen Himmel und Erde ausgebreitet, die Arme geöffnet, um die Kinder Gottes zu sammeln, die verstreut sind durch die Sünde, die sie trennt, die sie isoliert, die die Einen gegen die Anderen und gegen Gott selbst aufwiegelt. Jesus hat sich auf die Bruchstellen gestellt, die aus dieser Sünde entstanden sind (…) Die menschlichen und sozialen Beziehungen haben in ihm Heilung und Versöhnung gefunden, denn er hat sie auf sich genommen.“ Maß nehmen an Jesus Christus bedeutet, den Bruchstellen nicht auszuweichen und die Mission von Heilung und Versöhnung anzunehmen: Jesus „stellte seine Jünger auf dieselben Bruchstellen mit derselben Mission von Heilung und Versöhnung. Die Kirche vollendet ihre Berufung und ihre Mission, wenn sie gegenwärtig ist an den Bruchstellen, die die Menschheit in ihrem Fleisch und ihrer Einheit kreuzigen. In Algerien sind wir auf einer der seismischen Linien, die die Welt durchlaufen: Islam/Westen, Nord/Süd, reich/arm etc. Wir sind hier an unserem richtigen Platz, denn nur an diesem Ort lässt sich das Licht der Auferstehung erahnen und mit ihm die Hoffnung auf eine Erneuerung unserer Welt.“ (320). Der Platz der Christenheit, der Platz der Kirche muss der Platz Jesu sein. Die Sendung Jesu besteht in der Vermittlung von Gegensätzen und der Stiftung neuer Gemeinschaft. Darum ist die Versöhnung der Zerrissenheit der Welt im Großen und im Kleinen, global und national der Raum der Jesusnachfolge. Freilich – und dies darf nicht verschwiegen werden –, sich auf Bruchlinien zu bewegen und den Bruchstellen nicht auszuweichen, zerreißt einen selber und führt in die Kreuzesnachfolge. Ebenfalls 1995 unterstreicht er diesen Zusammenhang noch drastischer in einem Vortrag über das Gabengebet vor den Kleinen Schwestern Jesu: „Wir sind an einer Bruchlinie in Algerien: zwischen Muslimen, zwischen Muslimen und dem Rest der Welt, zwischen Nord und Süd, zwischen den Reichen und den Armen. Es gibt einen Bruch und einen tiefer werdenden Graben zwischen denen, die eine gute Stunde Flugzeit von uns entfernt sind, und uns selbst. Es ist zum Schreien, es ist schrecklich (…) Und dennoch, gerade hier ist der Platz der Kirche, weil es der Platz Jesu ist (…) Das Kreuz ist das Ausgestrecktsein dessen, der weder die eine noch die andere Seite gewählt hat. Jesus ist in die Menschheit eingetreten und will nicht einen Teil von ihr verwerfen. Er ist da und geht zu den Kranken, zu den Zöllnern, zu den Prostituierten, zu den Verrückten (…) Er geht zu allen. Er stellt sich dahin und versucht die beiden Enden zu halten (…) Die Versöhnung kann sich nur auf sehr teure Art ereignen, sie ist nicht billig. Sie kann, wie für Jesus, dieses Ausgestrecktsein zwischen dem Unversöhnlichen mit sich bringen. Ein Islamist und ein kafir (Ungläubiger) sind nicht miteinander versöhnbar. Also, was kann ich wählen? Und Jesus wählt nicht. Er sagt: ‚Ich liebe euch alle‘, und daran stirbt er.“ (351–352)
Claverie stellt die an Christus Glaubenden in die Mitte zweier Größen: zwischen Gott und die Welt, zwischen Reich Gottes und Geschichte. Es gibt nur einen einzigen Mittler – Jesus Christus. Er ist die Versöhnung zwischen Gott und der Menschheit. Die Christenheit ist dazu da, diese Mittlerschaft zu verkünden. Das kann nicht anders als spannungsreich sein und wird eine Berührung mit dem Kreuz nach sich ziehen. In einer Weihehomilie aus dem Jahr 1990 führt Claverie aus: „In der Nachfolge Jesu sind wir gesandt, Diener der guten Nachricht der Versöhnung zwischen Gott und der ganzen Menschheit zu sein. Dieser Dienst macht uns nicht zu Mittlern zwischen Gott und den Menschen, sondern zu Vermittlern, ganz auf Gott bezogen und ganz auf die Welt, mit Jesus dorthin gestellt, wo Geschichte und Reich Gottes sich verbinden. Dieser Ort ist nun das Kreuz.“ (350)
Für eine „schwache Kirche“
Christen in Algerien fanden sich über Jahrhunderte hin als Minderheit vor. Claverie reflektiert daher häufig über die Frage nach Sinn und Stil christlicher Präsenz in einem muslimischen Land. Sind die Christen nur Gäste im „Haus des Islam“, erwünscht oder an den Rand gedrängt und bestenfalls als historisches Relikt geduldet („Will man uns nicht mehr?“, 307)? Die konkret-alltäglichen Umstände und die Lebensatmosphäre entwickelten sich jedenfalls derart, dass jegliche Überheblichkeit, so es sie noch gab, unhaltbar wurde. Es ist eine Kirche, die sich machtlos und verwundbar vorfindet und die „Erfahrung der Mittellosigkeit“ (372) macht. Sie nimmt Abstand davon, sich permanent selbst zu verteidigen: „Wir haben kein Interesse zu retten oder Einfluss zu bewahren.“ (389) Anlässlich der Installation auf dem Bischofsstuhl in Oran am 9. Oktober 1981 bezieht Claverie mit seinem Ja zu einer „schwachen Kirche“ Position: „Unsere Chance in Algerien ist, dass wir unserer Reichtümer beraubt sind, unsere Forderungen und unsere Überheblichkeit aufgegeben haben (…) Danken wir Gott, wenn er seine Kirche zur schlichten Menschlichkeit führt.“ (161) Die Gefahren einer derartigen Sichtweise stehen ihm vor Augen: sich in der Abwehrhaltung verschanzen oder der gänzliche Rückzug auf sich selbst. Wie die Lebendigkeit erhalten? Er weiß: Das bedarf der steten Bemühung und auch des inneren Kampfes. Alles, konkret: die „Größe und Stärke der Christen“, hängt „von der Qualität ihrer Beziehungen zu Gott und zu den anderen ab“ (267). Das je Vorfindbare und quantitativ Evaluierbare ist nicht unwichtig, hier darf man sich keinen Illusionen hingeben. Aber im Verhältnis zur personalen Dimension des Glaubens, zur Beziehungsebene ist die Anzahl der Glaubenden unwichtig. Entscheidend sind die Lebendigkeit der Gottesliebe und die Praxis der Nächstenliebe. Darum wird Claverie nicht müde, immer neu das biblische Gebot des „Betet ohne Unterlass!“ in Erinnerung zu rufen – auch als Mittel gegen die Versuchung, sich in die Defensive zurückzuziehen.
„Gott hat sich auf’s Spiel gesetzt“
In den 1990er Jahren schraubt sich die Spirale der Gewalt in Algerien unaufhaltsam höher. Nach den ersten Morden an Ordensleuten muss auch Claverie damit rechnen, zur Zielscheibe zu werden. Er lebt mit dieser Ahnung und vermag es, der faktischen Passivität einen aktiv-willentlichen Stempel aufzuprägen: „Mein Leben, niemand nimmt es, aber ich bin es, der es gibt. Jesus ermöglicht es, uns den erlittenen Tod umzuformen in ein aktives Geben von uns selbst, in dem das Leben sich erneuert und sich intensiviert.“ (328) Es könnte gut sein, dass er darin von Christian de Chergé, dem Prior von Tibhirine, inspiriert war. In dessen Testament spielt das an Joh 10,18 angelehnte Motiv „hingegeben, nicht genommen“ eine zentrale Rolle. Jedenfalls möchte sich Claverie diesen Momenten „der Krise, der Erprobung, der Erschütterung“ stellen. Sie sind „vielleicht eine einzigartige Chance, sich von Gott berühren zu lassen und mit Jesus und durch Jesus das Kostbare des Lebens zu finden und als eine innere Notwendigkeit intensiver zu lieben“ (211). Was Claverie „den erlittenen Tod umzuformen in ein aktives Geben von uns selbst“ (328) nennt, könnte, flüchtig betrachtet, den Anschein erwecken, als ginge es um einen heroischen Akt der Selbsterhöhung, zu dem manche fähig sind (und andere nicht …). Claverie hingegen berichtet von Erschütterungen „in gewissen Überzeugungen“, die er „nach Jahren der Erprobung und der schwierigen inneren und kollektiven Bekehrungen erworben“ hatte (307). Einer derartigen Option gehen unzählige, weil alltägliche Stationen innerer Arbeit, der Reflexion und des Gebetes voraus. Das Wagnis des Übergangs schließlich, sich aufs Spiel zu setzen, vollbringt „alleine die Stärke des göttlichen Geistes selbst“ in uns. Nichts anderes hat Gott gemacht. Er hat „sich ‚aufs Spiel gesetzt‘ in der Geschichte der Menschen bis hin zum Teilen ihrer Bedingungen (…) Was gibt es Verrückteres, als in den Tod zu gehen ohne anderes Gepäck als die gewaltfreie