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Philipp Müller | Mainz
geb. 1960, Priester, Professor für Pastoraltheologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Eine Heilige der Dunkelheit
Mutter Teresa von Kalkutta und ihre Erfahrung der Gottesferne
Bereits zu ihren Lebzeiten galt Mutter Teresa als Ikone der Nächstenliebe, die sich für die Ärmsten der Armen und Ausgestoßenen in den Slums von Kalkutta aufgerieben hat. Zahlreiche Ehrungen sind ihr dafür zuteil geworden, u.a. 1979 der Friedensnobelpreis. Durch ihr soziales Engagement und nicht zuletzt durch ihr Lächeln vermochte sie Menschen verschiedener Religionen und Weltanschauungen für sich zu gewinnen. Wurde sie in Interviews nach Details aus ihrem Leben oder ihrem Empfinden gefragt, bemerkte sie nur, dass es nicht um ihre Person gehe, sei doch das Wachsen ihrer Gemeinschaft einzig dem Wirken Gottes zuzuschreiben. So gewann die Außenwelt den Eindruck einer Ordensfrau, die mit Gott und der Welt im Reinen ist.
Umso überraschter waren viele, als ihr permanentes Gefühl einer abgrundtiefen Gottesferne öffentlich wurde, das sie ihren geistlichen Begleitern, nicht jedoch ihren Mitschwestern, anvertraut hatte. Bereits 2001 hatte P. Josef Neuner SJ, zeitweise ihr geistlicher Mentor, in dieser Zeitschrift über die innere Dunkelheit in ihrem spirituellen Leben berichtet, ohne dass eine breitere Öffentlichkeit davon Notiz genommen hätte.1 Für weltweites Aufsehen sorgte indes im Jahr 2007 ein Buch, das vertrauliche Korrespondenz mit ihren geistlichen Begleitern enthielt; auch Auszüge aus ihrem Tagebuch, das sie anfangs führte, Briefe an ihre Schwestern oder Ansprachen sind mit eingeflossen. Herausgegeben und kommentiert wird das Buch von P. Brian Kolodiejchuk, einem gebürtigen Kanadier, der seit 1977 mit Mutter Teresa in Kontakt stand und zu den Mitbegründern des männlichen Zweigs der Missionaries of Charity gehört.2 P. Brian wurde bald nach ihrem Tod im Jahr 1997 zum Postulator ihres Selig- und Heiligsprechungsprozesses ernannt. In dieser Funktion oblag es ihm, schriftliche und mündliche Äußerungen von Mutter Teresa sowie Eindrücke von Zeitzeugen möglichst umfassend zu sammeln und zu dokumentieren. Im Rahmen seiner Recherchen stieß er in Archiven wie dem der Missionaries of Charity, des Erzbischofs von Kalkutta oder der indischen Jesuiten im St. Xavier’s College auf Dokumente, die einen Einblick in ihr Innenleben gewähren. Mutter Teresa hatte zwar verfügt, die Korrespondenz zu vernichten, dieser Bitte war jedoch nicht entsprochen worden, weil die Briefe für den Kanonisierungsprozess als unverzichtbar galten. Wenn P. Brian als der Postulator ihres Heiligsprechungsprozesses die Briefe publiziert und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat, dann deutet dies auf eine bewusste Entscheidung der von ihr gegründeten Gemeinschaften hin, auch andere an Mutter Teresas Ringen mit Gott teilhaben zu lassen und ihnen einen Blick in ihre alles andere als glatte und softe Spiritualität zu geben. Manche Formulierungen offenbaren eine spirituelle Abgründigkeit, die dem Leser und der Leserin bisweilen die Sprache verschlägt. In diesem Aufsatz wird Mutter Teresa in ihren brieflichen Äußerungen selbst zu Wort kommen, zuvor jedoch erfolgen einige kursorische Anmerkungen zu ihrer Biographie und ihrem Lebenswerk.
Die verborgene Innenseite tritt nach außen
Mutter Teresa wird am 27. August 1910 im heutigen Skopje, das damals Üsküp hieß und zum Osmanischen Reich gehörte, als Agnes Gonxha Bojaxhiu geboren.3 Sie ist das jüngste von drei Kindern der Eheleute Nikola und Drana Bojaxhiu. Nachdem ihr Vater, ein erfolgreicher Kaufmann, schon im Jahr 1919 stirbt, bleibt die Mutter mit der Erziehung der Kinder auf sich allein gestellt. Gleichwohl gelingt es ihr, dass diese eine höhere Schule besuchen und später studieren können.
Bereits in Agnes‘ Kindheit und Jugend wurden wichtige Aspekte ihres künftigen Werks und dessen Spiritualität grundgelegt. Aus ihrer Heimat Skopje, wo damals überwiegend Muslime und orthodoxe Christen ansässig waren, ist ihr als Katholikin vertraut, zu einer religiösen Minderheit zu gehören und sich darin zu behaupten. Die Jugendliche wird v.a. durch die ignatianische Spiritualität geprägt; hieran hat der aus Kroatien stammende Jesuit Franjo Jambreković besonderen Anteil, der seit 1925 in Skpoje als Pfarrseelsorger tätig und dort ihr Beichtvater ist.4 Mit 18 Jahren tritt sie in den jesuitennahen Orden der Loreto-Schwestern ein; zeit ihres Lebens wird sie für sich und ihre Gemeinschaft vornehmlich Jesuiten als geistliche Begleiter wählen. Auch ihr Faible für die Herz-Jesu-Verehrung und die Verehrung des „Unbefleckten Herzens Mariens“ sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen; beides hatte durch jesuitisches Apostolat Verbreitung gefunden und wird in ihrer Heimatgemeinde intensiv gepflegt; das „Herz Mariens“ wird das Titularfest ihrer Gemeinschaft sein.
Nach ihrer Ankunft in Indien absolviert die junge Ordensfrau ihr Noviziat und arbeitet seit 1929 als Lehrerin an einer ordenseigenen High School, in der sie später auch das Amt der Schulrektorin innehat. Im Jahr 1937 legt sie die Ewige Profess ab. Als Namenspatronin wählt sie Therese von Lisieux (1873–1897), deren Schriften sie bereits in ihrer Jugend begeistert haben und die für sie zur Identifikationsfigur wird; mit ihr verbindet sie schon früh der Wunsch, Jesus so lieben zu wollen, wie er noch nie geliebt worden ist und die Leiden Christi mit dem eigenen Leiden zu lindern.5 Der wohl einschneidendste Tag in ihrem Leben ist der 10. September 1946; er gilt als der Gründungstag ihrer Gemeinschaft und wird dort als Inspiration Day bezeichnet: Auf dem Weg zu ihren Jahresexerzitien nach Darjeeling spürt sie während einer Zugfahrt deutlich den Ruf Jesu, ihm künftig in den Ärmsten der Armen zu dienen. Nach einer zweijährigen Prüfungszeit erteilt ihr die kirchliche Hierarchie die Erlaubnis, ihren bisherigen Orden verlassen und eine neue Gemeinschaft gründen zu dürfen. 1949 schließen sich ihr die ersten Schwestern an; sie tragen indische Kleidung und unterscheiden sich in ihrem denkbar einfachen Lebenststil nicht von ihrer Umgebung. Am 7. Oktober 1950, dem Rosenkranzfest, werden die Missionaries of Charity zur Diözesankongregation erhoben.6 Um weltweit agieren zu können, wird die Gemeinschaft 1965 in eine Gesellschaft päpstlichen Rechts umgewandelt, so dass im selben Jahr in Venezuela die erste ausländische Niederlassung gegründet werden kann. In Deutschland lassen sich die Schwestern erstmals 1979 in Essen nieder; zwei Jahre später erfolgt eine Gründung in der damaligen DDR in Ost-Berlin. Einer Angabe im Internet zufolge ist die Gemeinschaft derzeit in 137 Ländern vertreten; ihr gehören mehr als 5000 Schwestern in rund 765 Kommunitäten an, die sich z.B. Sterbenden, Lepra- und Aidskranken, Obdachlosen oder Kindern widmen.7
Bereits zu Lebzeiten Mutter Teresas hat sich ihre Gemeinschaft in diverse Zweige ausdifferenziert: Seit 1976 gibt es die kontemplativ ausgerichteten Schwestern des Wortes, die mit den Missionarinnen der Nächstenliebe eine Kongregation bilden. Hinzu kommen die Kongregationen der Missionsbrüder der Nächstenliebe und der Missionspriester, eine Vereinigung von Diözesanpriestern (Corpus-Christi-Bewegung) sowie Laienmissionarinnen und -missionare. Die Ordensgründerin verstirbt am 5. September 1997 in Kalkutta im Alter von 87 Jahren an Lungenversagen. Bereits sechs Jahre später wird sie am 19. Oktober 2003 in Rom durch Papst Johannes Paul II. seliggesprochen.
Berufung in der Berufung
Das Apostolat der Missionaries of Charity, die sich in einem vierten Gelübde zu einem Einsatz für die Ärmsten verpflichten, ist in einen streng geregelten geistlichen Tagesablauf eingebunden.8 In den spartanisch eingerichteten Unterkünften einer jeden Gemeinschaft, zu der im Durchschnitt 4–5 Schwestern zählen, ist jeweils ein Raum für das Gebet reserviert. In ihm befinden sich ein Andachtsbild des „Unbefleckten Herzens Mariens“ sowie ein Kruzifix, neben dem die Worte des gekreuzigten Jesus geschrieben stehen: „Mich dürstet“ – „I thirst“ (Joh 19,28). Bereits die handschriftlich verfasste Ordensregel vom Mai 1947 sieht das allgemeine Ziel der Missionaries of Charity darin, „das Dürsten Jesu am Kreuz nach Liebe und Seelen (…) zu stillen“9 – ein Motiv, das sich bereits bei Therese von Lisieux findet.10 In einem Brief zum Weihnachtsfest des Jahres 1996 an Mitarbeiterinnen ihrer Gemeinschaft