mangelte ihm an Durchsetzungskraft und Entscheidungsfreude. Dazu kam das selbst diagnostizierte Fehlen des «Unternehmer-Gens», was die MFO fast ungebremst in eine schwere Krise schlittern liess. Die Reparatur gelang zwar halbwegs ab 1958 unter neuer Führung, doch für ein Überleben im internationalen Markt war der spätere Zusammenschluss der MFO mit der Brown, Boveri & Cie. (BBC) schliesslich unumgänglich.
Was in Künstlerbiografien gerne und oft ausführlich beschrieben wird, ist bei Abhandlungen über die Wirtschaftseliten kaum ein Thema: die Auswirkungen der familiären Situation auf die Karriere. Hans Schindler ist ein Beispiel dafür, wie sehr sich seine alles andere als idealen privaten Verhältnisse auch auf seine berufliche Tätigkeit auswirkten. Sein Cousin Rudolf Huber-Rübel, der mit ihm zusammen die MFO leitete, brachte es in seinen Lebenserinnerungen klar zum Ausdruck: «Schindler […] machte auch seine Familie schwer zu schaffen.» Er sei im Betrieb oft unausgeglichen gewesen. Die fehlende Liebe zwischen Hans Schindler und seiner Frau lastete schwer auf dessen Seele. Dazu kam, dass seine Frau als praktizierende Ärztin und passionierte Bergsteigerin in keiner Weise dem vorherrschenden Bild einer Industriellengattin entsprach. Mit der häufigen Abwesenheit ihrer Eltern und den gleichzeitig hohen Ansprüchen an ihr wohlgeratenes Gedeihen konnten auch die sechs Kinder kaum umgehen. Entsprechend problematisch gestalteten sich ihre Beziehungen zu den Eltern.
Die Verflechtung von Familien- und Firmengeschichte und der persönliche Einblick in das Denken und Fühlen eines Zürcher Wirtschaftsführers aus der Mitte des 20. Jahrhunderts ist vor allem aus einem Grund möglich: Hans Schindler hat von 1945 bis 1957 detailliert Tagebuch geschrieben. Die überlieferten 25 Hefte sind handschriftlich geführt, umfassen insgesamt knapp 3000 Seiten und weisen von wenigen Ausnahmen abgesehen zu jedem einzelnen Tag einen Eintrag auf. Sie erlauben einen fast schon intimen Blick in das Innenleben von Hans Schindler und zeigen seine Sorgen und Nöte auf – in geschäftlicher wie auch in privater Hinsicht. Da das 25. Heft bis zur letzten Seite gefüllt ist und seine Kinder auch spätere Tagebücher gesehen haben wollen, kann man annehmen, dass Hans Schindler im Oktober 1957 nicht aufgehört hat, Tagebuch zu führen. Die späteren Tagebücher sind aber nicht mehr auffindbar. Vermutlich vernichtete sie seine zweite Frau Dora Loppacher nach Hans Schindlers Tod. Sie nahm ab 1958 eine zentrale Rolle in seinem Leben ein und wurde ab diesem Zeitpunkt wohl auch sehr häufig im Tagebuch erwähnt.
Erhalten sind weiter seine Memoiren mit dem bezeichnenden Titel «Überprüfungen» und dem Zusatz «Als Kind und Jugendlicher anfangs des Jahrhunderts im Industriellen-Milieu Zürichs und spätere Erlebnisse». Interessanterweise räumt Hans Schindler der problembeladenen Zeit ab dem Zweiten Weltkrieg bis zu seinem Ausscheiden aus der aktiven Leitung der MFO 1957 nur sehr wenig Platz ein. Ausführlich beschreibt er seine Jugend, seine ersten Jahre bei der MFO und dann wieder die Zeit nach 1958. Zudem unterzieht er sein Leben ganz im Sinne der titelgebenden Überprüfung einer ziemlich schonungslosen Bewertung. Das privat gedruckte Büchlein mit einem Umfang von 69 Seiten gab er «tropfenweise» an Familienangehörige und Freunde ab. Als Gegenstück zu den persönlichen Aufzeichnungen von Hans Schindler standen mir auch Briefe seiner ersten Ehefrau Ilda Schindler zur Verfügung, die sie an ihre Freundin Suzanne – genannt Sus – Öhman-Schwarzenbach, die in Schweden wohnte, geschrieben hatte. Hans Schindler spielt darin allerdings im Gegensatz zur ausführlich geschilderten Entwicklung der Kinder eine Nebenrolle.
Aufgrund der sehr persönlichen und offenen Tagebucheinträge, die thematisch von schweren Auseinandersetzungen mit Familienmitgliedern und Arbeitskollegen über scharfe Selbstanklagen und psychiatrische Behandlungen bis hin zu unerfülltem sexuellem Begehren reichen, stellt sich eine wichtige Frage: Darf man ein Tagebuch, das der Verfasser im Prinzip nur für sich geschrieben hat, als Quelle für eine Publikation benutzen und so den Inhalt der Öffentlichkeit zugänglich machen? Im vorliegenden Fall sprachen einige gewichtige Gründe für die Verwertung des Materials. Hans Schindler ist seit über 35 Jahren tot, ebenso (fast) alle Hauptpersonen, die im Tagebuch genannt werden. Er und sein Umfeld stehen damit nicht mehr persönlich im Fokus, sondern fungieren als zeittypische Vertreter einer heute in dieser Form untergegangenen Elite. Und hätte Hans Schindler nicht gewollt, dass auch unschöne Dinge aus seinem Leben an die Öffentlichkeit gelangen, hätte er in seiner Autobiografie gewisse Probleme nicht so schonungslos geschildert. Der wichtigste Grund für die Veröffentlichung ist aber sicherlich die Bereitschaft seiner noch lebenden Kinder, dieses einmalige Zeitdokument – auch auf Empfehlung der Wirtschaftshistorikerin Dr. Margrit Müller von der Universität Zürich – interessierten Kreisen zugänglich zu machen. 2017 haben sie die Tagebücher dem Schweizerischen Wirtschaftsarchiv in Basel übergeben und mir im Jahr darauf den Auftrag zum Schreiben dieser Biografie erteilt.
Natürlich stellt sich weiterhin die Frage, ob man allzu Privates nicht weglassen sollte, ob man nicht Gefahr läuft, einem gewissen Voyeurismus Vorschub zu leisten. Doch Schindlers Aufzeichnungen sind so vielseitig und offen, dass es schade wäre, sie zu zensurieren. Der Unternehmer, der in historischen Abhandlungen oft stark hagiografisch gezeichnet wird, erhält hier ein komplexeres Gesicht – Zaudern, Zweifel, gar Verzweiflung gehören dazu, und auch privates und geschäftliches Scheitern werden thematisiert.
Auf den ersten Blick spiegeln die Geschehnisse zwischen 1945 und 1957 ein Bild von Hans Schindler wider, das von einigen Misserfolgen im Unternehmen und persönlichen Schwierigkeiten geprägt ist. Beeindruckend ist aber sein unbändiger Wille, sich selbst und die MFO zu verändern, seine Offenheit, sein Sinn für Humor und seine scharfe Beobachtungsgabe. Immerhin gelang ihm im Alter der Übertritt in eine glücklichere Lebensphase, was seine Krisenjahre in einem versöhnlichen Licht erscheinen lässt – auch im Hinblick auf die zuvor sehr schmerzlichen Konflikte in der Familie, die damals teilweise beigelegt werden konnten. Faszinierend ist seine unmittelbare Zeitzeugenschaft in der Nachkriegszeit. So begegnete er etwa dem sehr erschöpften Winston Churchill bei dessen berühmtem Besuch in der Aula der Universität Zürich, 1949 trat er im Kampf um einen Ständeratssitz gegen Gottlieb Duttweiler an, er machte Bekanntschaft mit der immer stärker in einen sektiererischen Antikommunismus abdriftenden christlichen Bewegung der Moralischen Aufrüstung, er lernte bei seinen vielen Geschäftsreisen in die USA den freizügigen American Way of Life kennen und zimmerte als Arbeitgeberverbandspräsident zusammen mit den grossen Gewerkschaftsführern wie Konrad Ilg insgesamt drei Verlängerungen des Friedensvertrags in der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie. Besondere Kühnheit verlangte aber 1945 eine Reise nach China, das sich immer noch im Kriegszustand mit Japan befand. Dieser riskante Besuch zur ersten Anbahnung von Wirtschaftsbeziehungen zwischen China und der Schweiz war für Hans Schindler der Anlass, mit dem Schreiben eines Tagebuchs zu beginnen, und soll auch hier dazu dienen, in das turbulente Leben dieses Zürcher Industriellen einzutauchen.
Die Reise nach China
«8.07 Uhr Abfahrt des Zuges nach Neuenburg. Die ganze Familie ohne die beiden Kleinsten, und die Grosseltern waren auf dem Bahnhof. Jedermann war etwas traurig.» So beginnt der erste Tagebucheintrag von Dr. Hans Schindler-Baumann am 2. Mai 1945. Da stand er also, der Ehemann, Vater, Schwiegersohn, 48 Jahre alt, ein stattlicher Mann mit nachdenklichem, aber wachem Blick, und verabschiedete sich im Zürcher Hauptbahnhof von seinen Schwiegereltern, seiner Frau Ilda und von vier seiner sechs Kinder. Ziel der Zugfahrt war Paris, von wo aus er in mehreren Etappen in amerikanischen Militärmaschinen nach China weiterreisen wollte.
Die bevorstehende Reise in den Fernen Osten war offensichtlich der Anlass, um von nun an Tag für Tag über sein Leben Buch zu führen und die wichtigsten Erlebnisse, Gedanken und Taten festzuhalten. Die Ungewissheit einer Reise durch die halbe Welt, die sich nach wie vor im Kriegszustand befand, löste auch bei der Familie spezielle Gefühle aus. Sohn Peter, damals zehn Jahre alt, erinnert sich, dass sich Vater und Mutter beim Abschied in der Bahnhofshalle das einzige Mal in der Öffentlichkeit einen Kuss gaben. Die Kinder waren tief beeindruckt.
In China wollte Hans Schindler zusammen mit einer kleinen Delegation von weiteren Vertretern aus wichtigen Schweizer Industriefirmen den Boden für die wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Länder bereiten. Man erwartete, gute Beziehungen zu massgeblichen Persönlichkeiten der Regierung und der Privatwirtschaft knüpfen zu können. Im Stillen hoffte die Delegation natürlich, bereits erste Bestellungen für ihre Firmen oder zumindest für Schweizer Unternehmen einholen zu können.