in China – mit Magenbeschwerden
Am 12. Juli 1945 betrat die Schweizer Delegation endlich chinesischen Boden. Von den ersten Eindrücken war Hans Schindler überwältigt: «Die Fahrt auf den rickshaws durch Kunming war wie ein Traum. Camions, Jeeps, Limousinen, rickshaws, Frauen mit schlafenden Kindern auf dem Rücken, uralte Männer mit Bärten, viel Volk, Soldaten, Gerüche.» Die nächsten Tage waren gefüllt mit Treffen mit den wichtigsten Industriellen in Kunming und einigen Fabrikbesichtigungen. Schindlers allgemeiner Eindruck war, dass die Chinesen mit einfachen Mitteln und in primitiven Einrichtungen sehr brauchbare Waren produzierten. Weitere Zusammenkünfte mit offiziellen Würdenträgern und üppige Essen rundeten das strenge Besuchsprogramm ab. Das ungewohnte Essen und der hohe Alkoholkonsum forderten bei Schindler ihren Tribut: «Mir war elend zumute und ich konnte knapp eine Magenexplosion vermeiden.» Die Delegation verschob deshalb die Reise nach Chongqing, weil Schindler dort nicht mit Fieber eintreffen wollte. Auch Miao war einverstanden, da er so endlich wieder einmal die Gelegenheit hatte, seine Eltern zu sehen. Nach der Genesung und einem Besuch beim Coiffeur reisten sie schliesslich in die chinesische Hauptstadt weiter.
Besuchsmarathon in Chongqing
Am Flughafen in Chongqing empfing ein kleines Empfangskomitee des Wirtschaftsministeriums die Delegation. Man verfrachtete sie ins neu erbaute Demonstration Hostel und überliess ihr einen ganzen Bungalow samt drei Dienern. Im Empfangszimmer hingen eine chinesische und eine Schweizer Flagge unter dem Bild von Chiang Kai-shek. «Ich bin zum Heulen gerührt», schrieb Schindler. Die Delegation war froh, endlich einmal die Koffer auspacken zu können und sich neben modernen Ventilatoren gemütlich aufs Bett zu legen. Bei einem ersten Treffen mit Vizewirtschaftsminister Tann, zuständig für wirtschaftspolitische Fragen, erläuterte Schindler den Zweck der Mission. Man wolle sich mit Fabrikbesuchen und Besprechungen einen Überblick über die Lage in China verschaffen. In erster Linie gehe es um Vorschläge für Kraftwerke, die Bahnausrüstung und die Papierherstellung. Bei Bedarf nach weiteren Industrieprodukten könnte er nach Rücksprache in der Schweiz ebenfalls Vorschläge machen oder sogar weitere Personen aus der Werkzeugmaschinenindustrie, der Textilmaschinenindustrie, der chemischen Industrie und der Uhrenindustrie kommen lassen. Weiter gebe es viele Sachverständige für Technik, Medizin, Hygiene und Landwirtschaft, die gerne nach China kämen und im Auftrag der Regierung Fragen des Fachgebiets bearbeiten könnten. Auch die MFO würde falls gewünscht ihr Wissen beim Aufbau einer elektrotechnischen Fabrik zur Verfügung stellen. Und schliesslich, meint Schindler, müsse ja auf lange Sicht der Import und Export Chinas ins Gleichgewicht gebracht werden, was Gespräche mit Handelsexperten nötig mache.
Die Delegation liess es sich nicht nehmen, zur Zerstreuung auch den Alltag in Chongqing besser kennenzulernen. Schindler engagierte für sich einen Chinesischlehrer, sie erkundeten mit Rikschas selbstständig die Stadt («geht glatt, nur kleine Überbezahlung») und vergnügten sich – mit Einschränkungen – an einer Tanzveranstaltung: «Die Chinesinnen sind schon sehr klein und ich schwitze vor Angst, ihnen auf die Füsschen zu treten. Nach drei Tanzversuchen gebe ich es auf. Allemand und Miau sind etwas erfolgreicher, kommen aber auch vor 11 Uhr zurück.»
Strassenszene in Chongqing, 1944.
Am 7. August trafen auch Corti und Winkler ein. Die Stimmung unter den fünf Herren war gut, auch wenn Schindler einige Tage zuvor von Miao verlangen musste, ihm alle Telegramme in die Schweiz vorzulegen, sofern sie nicht komplett privater Natur waren. Offensichtlich vermutete er, dass Miao nicht nur für die Delegation arbeitete, sondern auch noch für weitere Leute in der Schweiz Erkundigungen einholte. Namentlich stand er in Kontakt mit seinem Freund Tang, der bei der BBC, dem Hauptkonkurrenten der MFO, arbeitete. Nachdem die Delegation endlich komplett war, fing man zusammen mit der staatlichen National Resource Commission (NRC) an, konkrete Projekte auszuarbeiten. Im Mittelpunkt stand ein Projekt für ein Kraftwerk am Jangtsekiang. Die NCR verlangte in erster Linie Vorschläge zur Finanzierung, die Delegation aus der Schweiz erwartete Grundlagen zur Ausarbeitung einer technisch einwandfreien Offerte. Statt Detailpläne erhielten die Schweizer vorerst Daten über den Fluss und einen groben Situationsplan – viel konnte man damit nicht anfangen.
Erfreuliche Nachrichten verbreiteten sich in den Abendstunden des 10. August: Japan hatte bedingungslos kapituliert. «Mein Chinesisch-Lehrer führte einen Freudentanz auf und jedermann ist sehr glücklich. Feuerwerk, viel Volk auf der Strasse.» Doch was bedeutete das Kriegsende für die Mission der Schweizer Delegation? Erlangte sie eine erhöhte Bedeutung aufgrund der grösseren Aktualität eines friedlichen Aufbaus? Oder war die Delegation gar nicht mehr erwünscht? Weiter war nun auch ungewiss, wie lange die einflussreichen Leute überhaupt noch in Chongqing bleiben und wann die Regierung wieder in die Hauptstadt Nanking ziehen würde.
Trotz Siegesfeierlichkeiten gingen die Fabrikbesuche und die Besprechungen mit privaten Industriellen und mit Staatsvertretern weiter. Es kristallisierte sich immer mehr heraus, dass die Chinesen grundsätzlich bereit waren, in der Schweiz zu bestellen, jedoch nur zu sehr grosszügigen Zahlungsbedingungen. Ein Wirtschaftsführer fasste die Situation so zusammen: Die chinesischen Industriellen würden gerne kaufen, hätten aber die nötigen Barmittel nicht; die europäischen und amerikanischen Industriellen möchten verkaufen, geben aber die nötigen Kredite nicht. Immerhin signalisierten Bankenvertreter eine gewisse Bereitschaft, Zahlungsgarantien abzugeben, auch in US-Dollars.
Ausser Spesen wenig gewesen
Am Vorabend der grossen Dinner-Party, zu der die Delegation als Schlusspunkt ihrer Mission eingeladen hatte, besprachen die Mitglieder in ihrem Bungalow nochmals die kleine Ansprache, die Schindler halten sollte. Es war für eine Teamsitzung gesetzter Geschäftsherren ein eher ungewöhnliches Setting: «Wir fünf sitzen mit nackten Oberkörpern, shorts oder langen Hosen und slippers im schlecht erleuchteten Zimmer (die Spannung ist bis zehn Uhr abends immer miserabel, so dass man zum Schreiben fast nichts sieht) und jeder trägt seinen Senf zur Ansprache bei.» Am nächsten Tag waren 71 Gäste an dem Galadinner anwesend, darunter auch der Wirtschaftsminister, Vizeminister Tann und weitere Regierungs-, Rüstungs-und Bankenvertreter. Schindler empfand seine Rede, die er nach dem Essen hielt, als wenig gelungen, weil er mehrmals gestockt habe und der Ton gepresst gewesen sei. Nach einer freundlichen Replik des Wirtschaftsministers wurden noch drei Filme über die Aluminiumherstellung, die MFO und über Schweizer Sanatorien gezeigt. Beim letzten Film fragte sich Schindler, ob hier nicht zu viel Luxus gezeigt worden sei und dies auf die chinesischen Gäste protzig gewirkt haben könnte: «Schon nach zwei Monaten Abwesenheit von der Schweiz erscheinen die Bilder von Zürich-Stadt, von den Kliniken etc. wie eine Erzählung aus einem technischen Paradies.» Gegen Ende des Abends unterhielt er sich unter vier Augen mit dem Wirtschaftsminister. Dieser erzählte ihm von einem sehr weitgehenden Handelsvertrag, der mit den Amerikanern geplant sei und viele Ressourcen beanspruche. Den Handelsbeziehungen mit der Schweiz könne man sich dann wieder zuwenden, wenn dieser Vertrag abgeschlossen sei. Dennoch wurde am nächsten Tag ein chinesisch-schweizerischer wirtschaftlicher Verein gegründet, der die Wirtschaftsbeziehungen der beiden Länder vertiefen sollte. Der Besitzer einer chinesischen Zementfabrik wurde zum Präsidenten ernannt, Schindler zum Vizepräsidenten. Es wurde geplant, zusammen mit dem chinesischen Gesandten in Bern eine Schweizer Gruppe dieses Vereins zu gründen. Alle am Export nach China interessierten Firmen sollten diesem Ableger beitreten.
Das Fazit einer letzten Besprechung mit den Chinesen fiel ernüchternd aus. Man war übereinstimmend der Meinung, dass man unter den herrschenden Verhältnissen nicht mehr erreichen konnte. Die Regierungsprojekte für hydraulische und thermische Kraftanlagen waren noch nicht reif für eine Auftragserteilung. Auf Schweizer Seite haperte es abgesehen vom Fehlen eines Schweizer Gesandten mit der Kreditvergabe. Weitere Verhandlungen wurden als zwecklos erachtet, da die Regierungsstellen allesamt mit dem Umzug nach Nanking beschäftigt waren. Auch den Geschäften der MFO war kein Erfolg beschieden: Die Offerte für fünf Motoren für eine Getreidemühle war wesentlich höher als die einer englischen Firma. Trotz Rabatten ging der Auftrag verloren. Und ein anderer Industrieller schlug im letzten Moment auch noch eine Transformatorenofferte aus.