Matthias Wiesmann

Zauderer mit Charme


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mit seinen Geschwistern und seinen Eltern vor dem Eingang des «Wyggisser», um 1901.

      Kindheit auf dem Millionärshügel

      (Max) Hans Schindler kam 1896 als jüngstes von vier Kindern – einem Mädchen, drei Buben – zur Welt. Die ersten fünf Jahre verbrachte er im Patrizierhaus Talgarten am Talacker. Nach dem Umzug in den «Wyggisser» besuchte er eine private evangelische Primarschule, in der biblische Geschichten eine grosse Rolle spielten. Gemäss seiner autobiografischen Aufzeichnungen wurde grosser Wert auf Gehorsam und Genauigkeit gelegt, während selbstständiges Handeln und Denken nicht gefördert wurden. In der Schule wie auch zu Hause wurde nicht über Standesunterschiede gesprochen, dennoch waren sie spürbar. Die Schindler-Kinder trugen in der Primarschule zuweilen Matrosenkleider, die extra aus Deutschland beschafft wurden. Die Kinder vom «Millionärshügel», wie die Gegend über dem Stadelhofen genannt wurde, lebten in ständiger Angst vor den «Gassenbuben» in der weiter unten gelegenen Merkurstrasse. «Wir beiden jüngeren Brüder mit unseren Eaton-Kragen waren auffälliger für die Nachbarn, als wir selbst ahnten», schrieb Schindler später. In der Villa wohnten zwei Dienstmädchen, eine Köchin und ein Gärtner. Zudem kamen alle vier Wochen für ein paar Tage die Wäscherinnen und Glätterinnen vorbei. Die Beziehung zum Dienstpersonal war distanziert. Als Freunde kamen nur Kinder aus wohlhabenden Familien infrage. Ein Kommentar seines Vaters brannte sich bei Hans Schindler besonders ein: «Als etwa 12-jähriger Knabe hörte ich meinen Vater von einem Mann sagen, er habe eine Kellnerin geheiratet. Das war etwa so schlimm, wie wenn der Mann wegen Betrugs im Gefängnis gesessen hätte.»

      Die vier Kinder wuchsen in einer behüteten Atmosphäre auf. Sie fürchteten sich jedoch vor ihrem übermächtigen Vater. Er war ein Schwerarbeiter, dem die Erfolge nicht einfach so in den Schoss fielen. Hans Schindler schrieb über ihn: «Er sah überall Pflichten, andererseits hatte er Angst vor den Versuchungen des leichten, üppigen Lebens. Er wollte seine Söhne durch strenge Erziehung davor bewahren.» Mit zunehmendem Alter nahm er immer mehr die Rolle des regierenden Patriarchen ein, nicht nur als Generaldirektor der Maschinenfabrik Oerlikon. Die Mutter war voll Liebe für die Kinder und versuchte, sie vor brutalen Übergriffen des Vaters zu bewahren. Sie behielt ihren kritischen Geist und war versöhnlich gegenüber Andersdenkenden. Die Kinder suchten oft Schutz bei der Mutter, die ihnen das Vertrauen gab, dass sie bei ihr immer willkommen waren. Sie waren deshalb umso stärker bemüht, die fürsorgende Liebe der Mutter nicht zu verletzen. Wie Hans Schindler in seinen Memoiren schreibt, prägte diese Konstellation die Kinder nachhaltig: «Das waren zwei Einflüsse, die uns bis ins reife Alter hinein vor Abenteuern bewahrten, uns allerdings auch hinderten, Konventionen zeitig über Bord zu werfen.» In der Familie galten Leistung, Benehmen, die Pflege von Familientraditionen und der Verzicht auf persönliche Freiheiten als oberste Maxime.

      Anders als bei reichen Leuten üblich, etwa im Haus der Grosseltern Huber, fand im «Wyggisser» kaum gesellschaftliches Leben statt. Obwohl Dietrich Schindler in die höchsten Zürcher Kreise eingeheiratet hatte, war das gesellschaftliche Prestige noch nicht voll ausgebildet, so jedenfalls nahm er es wahr. Der Vater von Hans Schindler versuchte dieses Defizit mit zäher Arbeit auszugleichen – ganz im Sinne des sogenannten zwinglianischen Geistes in Zürich. Nur einmal wurde ein Ball für die heiratsfähige Tochter Gertrud veranstaltet. Gemäss Erinnerungsbericht von Hans Schindler hatte sein ältester Bruder dazu nur gemeint, es sei ein «typischer Ball in einem Parvenu-Haus» gewesen.

      Wenig Harmonie unter den Geschwistern

      Zur oft angespannten Stimmung im Haus trugen auch die unaufhörlichen Zankereien unter den Geschwistern Dietrich (Dieter), Gertrud (Trudy), Werner und Hans bei. Die Differenzen legten sich auch im Erwachsenenalter nicht. Gemäss Hans Schindler hatte nur die drei Jahre ältere Schwester Gertrud den dominanten Charakter des Vaters geerbt. Sie habe aber die Herrschaft über andere Menschen in sehr konziliante Formen zu kleiden gewusst. Nach ihrer Ausbildung zur Krankenschwester am Kinderspital Zürich hatte sie den Wunsch, in einer Umgebung zu wirken, in der sie niemand kannte. Das Leben in der Upperclass gefiel ihr nicht, so ihre Tochter in einer Erinnerungsschrift. Sie ging unter anderem als Sozialhelferin in eine ärmliche Gegend von Chicago. 1921 heiratete sie den Arzt Theodor Haemmerli und führte mit ihm die Clinique Valmont in Glion. Zurück in Zürich engagierte sie sich stark für Frauenanliegen. So gründete sie unter anderem den Verein Mütterhilfe, war am Aufbau des Zivilen Frauenhilfsdiensts in Zürich beteiligt und von 1942 bis 1946 Präsidentin des Schweizerischen Zivilen Frauenhilfsdiensts. Sie präsidierte von 1947 bis 1954 die Frauenzentrale Zürich, später den Bund Schweizerischer Frauenvereine, war in den 1950er-Jahren in der Direktion des Schweizerischen Roten Kreuzes und half 1958 bei der Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit mit. Offensichtlich war Getrud Haemmerli-Schindler eine Führungspersönlichkeit, wie Hans Schindler sie vielleicht gerne gewesen wäre oder zumindest hätte sein sollen, wenn es nach seinem Vater gegangen wäre.

      «Bruder Dietrich war der intelligenteste, er rettete sich aus dem Herrschaftsbereich des Vaters, indem er eine akademische Laufbahn ergriff», schreibt Hans Schindler über seinen ältesten Bruder. Dietrich hätte auf Wunsch der Eltern als ältester Sohn die Nachfolge seines gleichnamigen Vaters in der MFO antreten sollen. Sie schickten ihn deshalb in die gymnasiale Industrieschule. Statt anschliessend an der ETH zu studieren, entschied er sich jedoch für die Juristerei, was ihn neben Zürich zwischenzeitlich auch an die Universitäten von Berlin und Leipzig brachte. Für seinen kleineren Bruder Hans öffneten die Briefe aus Deutschland damals den Blick in die grosse Welt und waren ein «Erziehungsmittel». Sie liessen in ihm den Wunsch aufkommen, später ebenfalls ins Ausland zu gehen. Trotz dieser ersten kleinen Flucht trat Dietrich Schindler 1916 in die MFO ein und war vor allem in Genf und in Frankreich mit rechtlichen Fragen beschäftigt. Er fand aber keine innere Befriedigung und konnte sich mithilfe seines Onkels Max Huber endgültig von seinem Vater und der Firma lösen. Dietrich Schindler wurde schliesslich Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Zürich, später kamen Völkerrecht und Rechtsphilosophie dazu. Er verfasste Gutachten zur Neutralitätspolitik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und nahm 1946 als Delegierter an den Verhandlungen zum Washingtoner Abkommen teil. In seinem Tagebuch beklagt er sich bitter über seine Eltern. Sie seien «so ungesellschaftlich als möglich» gewesen und hätten den Umgang mit anderen Menschen nicht gefördert. Er habe deshalb «die zürcherische Knorzigkeit» nicht überwinden können, und seine emotionalen Anlagen seien nicht vollständig entwickelt. Dies dürfte wohl auch auf seinen Bruder Hans zugetroffen haben, der aber mit seiner charmanten Art diese Defizite überdecken konnte.

      Mit dem sehr sensiblen Bruder Werner, der nur ein Jahr älter war, hatte Hans Schindler später am meisten zu tun, weil auch er sich später in die MFO «einspannen liess», wie Hans Schindler es ausdrückte. Er litt allerdings stark darunter, dass er von seinem Vater nie voll anerkannt und Hans ihm vorgezogen wurde. Werner Schindler machte eine kaufmännische Ausbildung und reiste ganz im Sinne von Lehr- und Wanderjahren längere Zeit durch Europa, Nord- und Südamerika. Er war sehr belesen und fühlte sich besonders zu theologischen und philosophischen Werken hingezogen.

      Die Geschwister wuchsen in einer sehr frommen Umgebung auf. Insbesondere Grossmutter Elise Schindler-Escher und ihre Schwester Pauline Escher wirkten mit einem gewissen missionarischen Eifer. Vor allem die Töchter und Schwiegertöchter litten unter der «Mischung aus Zwängerei und Frömmigkeit». Hans Schindler erinnert sich, wie er und die anderen Enkel jeweils am Mittwochnachmittag in der Villa «zum oberen Engenweg» (heute: Gemeinschaftszentrum Schindlergut) versammelt wurden, um im grossen Garten oder in der hinteren Stube zu spielen. Die Stimmung glich derjenigen eines «patriarchalen Gutsbetriebs». Abends mussten sie Körbe voller Sauerkraut und missionarische Zeitschriften nach Hause tragen. Grosstante Pauline Escher finanzierte noch im hohen Alter einen Kirchenbau der orthodoxen Minorität Unterstrass, einer evangelikalen Gemeinschaft, die sich für eine wortgetreue Auslegung der Bibel einsetzte. Der Bekanntenkreis der Familie bestand standesgemäss nur aus Protestanten, Katholiken waren wenig angesehen: «Der Katholizismus ist recht für Dienstmädchen», soll der Vater stets gesagt haben. Die Ansichten im Haus der Grosseltern Huber waren offener und sehr liberal. Peter Emil Huber beschäftigte sehr viele Juden in seinen Unternehmen. Von dem damals grassierenden Antisemitismus und Nationalismus war nichts zu spüren. Seine Frau, Anna Marie Huber, war