Ich weiß aus vielen Gesprächen mit Beraterinnen, wie wertvoll und – im wahrsten Sinne des Wortes – lebensrettend ihre Arbeit gewesen ist. War es wirklich berechtigt, sich aus dieser höchst verantwortungsvollen Aufgabe zurückzuziehen, mit dem Argument, die reine kirchliche Lehre könne „verdunkelt“ werden? Kann die Kirche wirklich die Verantwortung dafür übernehmen, dass ein Kind möglicherweise nur deshalb nicht zur Welt gekommen ist, weil es kein adäquates kirchliches Beratungsangebot gegeben hat? Annette Schavan hat diesen Rückzug ein beschämendes Beispiel für Dialogunfähigkeit genannt (Schavan 2010,57).
Ein letztes Beispiel aus dem Bereich der Lebensschutz-Politik: Ich war Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Kirchen und Religionsgemeinschaften (2000–2005), als es am 30. Januar 2002 um das Importverbot für embryonale Stammzellen ging. Diese Debatte ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Worum ging es? – Ein Hauptinteresse der biomedizinischen Forschung besteht darin zu verstehen, wie sich aus den pluripotenten Stammzellen differenzierte Körperzellen entwickeln, also z. B. Leber-, Haut- oder Hirnzellen. Abgesehen davon, dass dies eine faszinierende Forschungsfrage ist, verspricht sich die Medizin von ihrer Beantwortung auf die Dauer die Möglichkeit, Krankheiten wie Parkinson, Alzheimer oder Diabetes besser verstehen und wirksam bekämpfen zu können. Ethisch unbedenklich ist die Forschung an sog. adulten Stammzellen, erfolgversprechender aus der Sicht der Biomedizin erschien die Forschung an embryonalen Stammzellen. Sie werden aus überzähligen Embryonen gewonnen, die bei der künstlichen Befruchtung keine Verwendung gefunden haben. Dies ist durch das deutsche Embryonenschutzgesetz verboten. In anderen Ländern wie England und Frankreich ist es erlaubt. Die Frage, die dem Deutschen Bundestag vorlag, war nun, ob so gewonnene Stammzelllinien nach Deutschland eingeführt und der Forschung zur Verfügung gestellt werden dürfen oder ob das Verbot der Embryonenforschung auch das der Einführung von bereits bestehenden Stammzellen einschließen muss.
Ich habe federführend und gemeinsam mit Wolfgang Wodarg, Wolfgang Thierse, Norbert Lammert, Christa Nickels und vielen anderen für ein totales Verbot des Imports embryonaler Stammzellen votiert. Eine andere Position wurde von Ulrike Flach, Katherina Reiche, Peter Hintze und anderen vertreten. Sie plädierten für eine „verantwortungsbewusste Forschung an embryonalen Stammzellen“. Einen vermittelnden Vorschlag, den Import unter Auflagen und mit einer Stichtagsregelung zu ermöglichen, machte eine Gruppe mit Maria Böhmer und Margot von Renesse. Sie hat sich schließlich durchgesetzt.
Alle, die sich damals zu Wort gemeldet haben, waren sich des Dilemmas bewusst. Tatsächlich kam, um es ein wenig despektierlich zu sagen, niemand völlig ungeschoren davon. Die Importgegner mussten sich fragen lassen, ob sie eines Tages auch auf die möglicherweise segensreichen Ergebnisse der Stammzellforschung verzichten würden, weil sie ja auf ethisch bedenklichem Wege zustande gekommen sind. Die Befürworter mussten erklären, warum sie den Import der Stammzellen erlauben, deren Gewinnung hierzulande aber weiterhin verbieten wollen.
Wer nicht genau hinschaut, mag in der mühsam gefundenen Lösung einen ‚faulen‘ Kompromiss sehen, zumal dann, wenn man in Rechnung stellt, dass die zur Verfügung stehenden Stammzelllinien nicht gut genug waren, um den Ansprüchen der Forschung zu genügen. 2008 wurde deshalb eine zweite Stichtagsregelung getroffen, das Gesetz musste also „nachgebessert“ werden. Forschungsministerin war damals Annette Schavan, zugleich Moraltheologin und Vizepräsidentin des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken. Sie sah sich bei dieser zweiten Stichtagsregelung massiven Vorwürfen ausgesetzt, hat aber, wie ich finde, sehr plausibel dagegengehalten: Als sie sich in Brüssel für eine Stichtagsregelung auf europäischer Ebene einsetzte, um der verbrauchenden Embryonenforschung wenigstens einen Riegel vorzuschieben, unterlag sie gerade deshalb, weil einige Länder jede Stammzellforschung und deshalb auch jeden Stichtag ablehnten. Die Liberalisierung setzte sich durch, weil ihre Gegner kompromissunfähig waren. „Es lässt sich“, schreibt sie, „geradezu als ein Lehrstück für eine christliche Politik nehmen, wie verheerend eine stringente und konsequente, aber kompromisslose Haltung sich auswirken kann“ (Schavan 2010,68).
Die Würde des Kompromisses
Als Politiker stehe ich für Werte ein. Deshalb achte ich auf die Positionen der Kirchen und suche den Dialog mit ihnen. Kirchen sind und bleiben moralische Autoritäten. Allerdings: Ich muss mich auch mit den Folgen politischer Entscheidungen auseinandersetzen. Fundamentale Positionen, die keine Mehrheiten finden, bewirken im gesellschaftlichen Kräftespiel oft gerade das Gegenteil dessen, was sie eigentlich beabsichtigen. Das Problem ist seit Max Weber oft diskutiert worden. Weber hielt es für einen abgrundtiefen Gegensatz, „ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt – religiös geredet: ‚Der Christ tut recht und stellt den Erfolg anheim‘ – oder unter der verantwortungsethischen: dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat“ (Weber 1992, 70). Nach seiner Vorstellung muss der Politiker die Folgen einer Entscheidung im Blick haben, wenn sie denn absehbar sind. Die Kirche – Weber spricht tatsächlich von dem ‚Heiligen‘ – braucht das in seiner Vorstellung nicht. Sie bewertet nur, ob eine Handlung in sich moralisch richtig ist oder nicht.
Mit dieser Aufgabenteilung kann ich mich nicht anfreunden. Ein Politiker fragt niemals nur nach den Folgen seiner Entscheidungen. Immer muss er auch prüfen, ob der ‚Kompass‘ noch stimmt, ob die einzelne Entscheidung mit der allgemeinen Ausrichtung an Werten und Überzeugungen verträglich ist. Ohne stabiles Wertefundament, das mich verpflichtet, geht es nicht, ohne verantwortliche Abschätzung der Folgen einer Entscheidung aber auch nicht. Beides zusammenzuführen, genau das ist meine Aufgabe als christlicher Politiker.
Ich wünsche mir von der Kirche, dass sie die Würde des Kompromisses anerkennt und damit auch diejenigen, die sich der mühseligen Aufgabe unterziehen, solche Kompromisse zu finden. Man tut das aus Respekt vor der Meinung der anderen und aus gesunder Skepsis gegenüber der eigenen Überzeugung, weil man Pluralität aus Überzeugung bejaht und trotzdem versucht, die Vielfalt der Meinungen und Lebensformen irgendwie zusammenzuhalten.
Als der gegenwärtige Papst Benedikt XVI. noch Präfekt der Glaubenskongregation war, hatte ich einmal die Gelegenheit, mit ihm über das Dilemma des christlichen Politikers zu sprechen. Gesetzt den Fall, so fragte ich ihn, ich müsste eine Ethik-Kommission leiten, deren Ergebnis sich mit der Position der Kirche nicht deckt: Erhalte ich von der Kirche Zustimmung oder werde ich verurteilt? Seine Antwort: Weder noch. Die letzte Verantwortung müsse ich vor mir selbst, vor meinem Gewissen tragen.
Die Kirchen können sich hierzulande nicht darüber beklagen, zu wenig Gehör zu finden. Allerdings überzeugen sie umso mehr, je positiver sie sich auf die Vielstimmigkeit der pluralen Gesellschaft einlassen. „Moralische Autoritäten“, sagt der Mainzer Sozialethiker Gerhard Kruip, „können heute nicht mehr einfach Gehorsam einfordern. Im Gegenteil: Wer dies tut, macht sich verdächtig. Er scheint zu befürchten, seine moralischen Forderungen seien zu schwach, um argumentativ begründet und eingesehen werden zu können“ (Kruip 2011,174).
Kirche und Politik dürfen sich nicht gegenseitig überfordern. Die Politik kann nichts ‚verordnen‘, was nicht letztlich von den Menschen auch mitgetragen wird. Hier – wo es um Überzeugungen in den Köpfen und Herzen der Leute geht – sind auch die Kirchen gefragt. Da geht der Ruf an die Politik oft ins Leere. Man kann sonntagsfreundliche Ladenöffnungszeiten fordern, aber man kann nicht daran vorbeisehen, dass sich sonntägliches ‚Shopping‘ ständig steigender Beliebtheit erfreut. Mit Verboten und Geboten allein richtet man da gar nichts aus. Die Kirchen selbst müssen überzeugen und ein Bewusstsein für den Wert des Sonntags schaffen, das aufs Ganze gesehen in unserer Gesellschaft verlorengegangen ist. Ich glaube, das meint auch der Papst, wenn er sagt, die Kirche wolle keine Macht über den Staat und wolle auch nicht „Einsichten und Verhaltensweisen, die dem Glauben angehören, denen aufdrängen, die diesen Glauben nicht teilen. Sie will schlicht zur Reinigung der Vernunft beitragen“ (Deus Caritas Est Nr. 28).
Im Feld der Fortpflanzungsmedizin heißt das: den Sinn für den Wert des Lebens wachzuhalten. Dabei wird sie viele Verbündete finden. Frank Ulrich Montgomery, den ich oben schon zitiert habe, fragt beispielsweise, ob die Erfüllung des Kinderwunsches um jeden Preis nicht völlig überschätzt wird, weil Paare die ungewollte Kinderlosigkeit als ein großes Unglück, vielleicht sogar als