Verlag Echter

Geist & Leben 2/2021


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d.h. billig aus ihr herausstehlen. Das wäre eine arge Illusion: „Es gibt Menschen, die, weil sie nicht ihrer Zeit angehören, meinen, der Ewigkeit anzugehören.“5 Es wäre auch nicht der Weg Gottes, der, ob es uns passt oder nicht, „diese Welt so sehr geliebt hat“ (Joh 3,16).

      Hinter diesen Gott also, der sich definitiv auf die Welt zubewegt hat, sich mit seiner Menschwerdung in sie hineinbewegt hat, kann unser Glaube und darf auch eine Spiritualität heute nicht mehr zurück. Fahrrad-Spiritualität könnte also heißen: in diese Bewegung einschwingen, sich bewegen und bewegen lassen hin zu einer liebenden, nicht naiven, aber unmissverständlichen Zeitgenossenschaft – kein Rückzug aus den heute so extrovertierten Lebenswelten hinein in eine innere Sicherheits- und Komfortzone, in eine klar abgegrenzte, vertraute Umgebung ohne Risiken und Nebenwirkungen, in der man nicht mehr viel erklären muss, weil alle gleich denken und gleich fühlen, und in der man alles unter Kontrolle hat; kein Lagerfeuer, um das sich in dunklen Zeiten die kleine Herde versammelt, trotz oder gerade wegen Corona eng zusammenrückt und unmerklich die Kirche und die Welt und die gesamte Wirklichkeit auf dieses so warm flackernde Feuerchen reduziert. Der Herr hat nirgendwo schön asphaltierte Fahrradwege verheißen, die mit Null-Risiko-Schildern ausgewiesen wären: „Gefährlich ist das Leben“, schreibt Romano Guardini, „man kann ihm nicht trauen. Es ist untreu, sobald man unter Treue versteht, dass angebbare Sicherheiten dafür bestünden, es werde sich später verhalten wie gestern und heute.“6

      Eine Spiritualität also tut not, die sich nicht scheut, auch die holprigen Wege der Erde und der Menschen einzuschlagen, und die sich unterwegs selbst von fremden Welten anreden lässt; eine Spiritualität, deren Bewegung und Lebendigkeit nicht darin besteht, sich einfach der Zeit anzupassen oder ihr hinterherzuhecheln, sondern sich ihr auszusetzen und in Kauf zu nehmen, dabei auch einmal auf die Nase zu fallen (das kann beim Fahrradfahren passieren); ab und zu mal einen Gang runter- oder auch raufzuschalten und sich immer wieder neu anzustrengen, im Gegenwärtigen Gott zu suchen, zu finden, zu bezeugen und … wiederum zu suchen. Mit einem Glauben, der die Erde liebt (K. Rahner) und der dem Leben dann doch traut, weil Gott es mit uns lebt7.

      Damit das Fahrrad dennoch nicht in eine Schieflage gerät, braucht es eine weitere Grundhaltung.

       Ein Glaube, der den Himmel liebt

      Die Komplexität unserer Zeit und die multi-optionalen Möglichkeiten heute bergen nämlich auch die Versuchung, die Wirklichkeit auf einer rein horizontalen, immanenten Ebene anzusiedeln, ohne Tiefgang und ohne Höhenluft (höchstens mit ein paar exzentrischen Höhepunkten oder recht derben Tiefschlägen) – aber ohne Fenster zum Himmel. Christliche Spiritualität kann sich da nicht einfach einrichten und es sich bequem machen oder, schlimmer noch, mit ähnlich zivilen Reflexen satt werden an den eigenen vermeintlichen Sicherheiten. Im Gegenteil: „Der Herr hat uns die Unruhe und die Verantwortung ins Herz gebrannt, und man verrät den Himmel, wenn man die Erde nicht liebt, und man verrät die Erde, wenn man nicht an den Himmel glaubt, weil man der Erde Gewalt antut und nicht mit segnenden, helfenden Händen zu ihr kommt.“8 Das Johannesevangelium bringt diesen Anspruch so auf den Punkt: in der Welt – aber nicht von der Welt (vgl. Joh 17,11ff.). Vielmehr von einer anderen Welt oder besser: aus einem Geheimnis heraus, das nicht manipulierbar ist und allen Möglichkeiten immer schon vorausliegt und dennoch hineinreicht und hineinwirkt in diese Welt – und Leben und Wirken freilassend möglich macht.

      Ein Glaube, der das Geheimnis und den Himmel liebt, ist die Antriebskraft, die uns daran hindert, auf unserem geerdeten Fahrradweg zu früh abzusteigen. Das ist uns eigentlich schon neutestamentlich eingeimpft. Der Brief an Diognet aus dem 2./3. Jahrhundert zeichnet ein erstaunliches Porträt frühchristlicher Fahrradfahrer(innen): „Die Christen unterscheiden sich von anderen Menschen weder dadurch, dass sie in einem bestimmten Land leben, noch durch ihre Sprache oder ihre Sitten (…). Und doch haben sie eine verwunderliche Haltung zum Leben: Sie wohnen in ihrer jeweiligen Heimat, aber wie Ausländer; (…) jedes fremde Land ist ihnen Heimat, und jede Heimat ist ihnen fremd (…). Sie leben in der Welt, passen sich aber der Welt nicht an. Sie leben auf der Erde, sind aber Bürger des Himmels.“9

      So ließe sich in den Fahrradkorb einer heutigen Spiritualität ein Wunsch für die Weiterfahrt hineinlegen: dass wir etwas von dieser frühchristlichen Frische wiederfinden, die so selbstverständlich und unbekümmert zweispurig fuhr – auf der ökonomischen Spur des Heilshandelns Gottes in Welt, Geschichte und Menschenleben, und zugleich auf der eschatologischen Spur der großen Himmelshoffnung. Das wäre eine Haltung, die das ewige Leben auch, aber nicht nur bekennt und besingt, die es nicht nur im Jenseits, nach dem Tod verortet, sondern die sich heute beim Wort nehmen und sich engagieren lässt. Und die – auch wenn es ein bisschen anmaßend klingen mag – dem ewigen Leben hilft, schon jetzt diese Welt und ihre Erdenschwere zu „durchwohnen“ (M. Delbrêl).

      Es braucht einen Glauben, der Erde und Himmel liebt, denn es kann nicht mehr angehen, nur einfach auf der einen Überholspur und damit auf Kosten der anderen zu fahren. Vielleicht sind wir ab und zu noch heimlich versucht zu meinen, dass es auch spirituell getrennt (nur der Himmel – nur die Erde) manchmal schneller gehen würde. Aber nur mit beiden im Gepäck, zeitgleich auf beiden Spuren unterwegs, kommen wir weiter und ans Ziel. Das setzt allerdings die Bereitschaft voraus, sich vom Leben berühren zu lassen – und zugleich die Fähigkeit, das Unaussprechliche, das ganz Andere ins Wort zu bringen; eine Dialogfähigkeit also.

       Eine dialogische Beziehung zur Wirklichkeit 10

      Entweder ist Spiritualität pneumatisch, wie ihr Name schon sagt, also wirklich vom Heiligen Geist bewegt, oder sie erscheint als ein verehrungswürdiges, museales Relikt der Vergangenheit. Wer unter dem Wirken des Hl. Geistes steht, versteht sich darauf, mit anderen zu sprechen und nicht nur mit sich selbst. Geistesgegenwärtig und geistbewegt werden wir zu Hörenden, die die Wirklichkeit überhaupt erst einmal als Anrede wahrnehmen11 und die sich dann dem An-Spruch der Welt stellen. Daraus erwachsen wesentliche Optionen:

      – Das Vertrauen auf die liebende Zuwendung Gottes, die bleibende Gegenwart Jesu Christi, das Wirken seines Geistes heute (wer könnte theologisch aufzeigen, dass er das letzte Mal bei uns in den 1950er-Jahren gewirkt hätte?).

      – Das Schöpfen aus der eigenen Tradition als einem kostbaren Erbe, aber auch die Bereitschaft, sich von der Gegenwart anfragen und herausfordern zu lassen, ohne ängstlich vor ihr zurückzuweichen.

      – Das Bejahen der Alterität und die Weigerung, Fremdes einfach in unserem Eigenen aufgehen zu lassen. Andere Fahrräder und auch andere Markenräder sind mit uns auf dem Weg …

      – Das Bemühen, die Wahrheit zu erkennen und anzuerkennen, wo immer sie sich (wenn auch nur fragmentarisch) zeigt – denn „die Wahrheit ist ein Buch, das noch niemand von uns zu Ende gelesen hat“12. Die Hoffnung, dadurch gastlicher, lernfähiger und nuancierter zu werden.

      – Das Rechnen mit unserer eigenen Verwundbarkeit und unserer machtvollen Fähigkeit, andere zu verwunden. Wir huldigen keinem Unschuldswahn.

      – Die Annahme unserer Grenzen und der Grenzen anderer; die Mühe, ein Gespür für Endlichkeit und Ewigkeit zu entwickeln.

      – Die Sehnsucht, der Verkündigung des Evangeliums treu zu bleiben und zugleich die Erfahrung der Vielfalt des Lebens zuzulassen – ohne Navigationssystem, ohne Autopilot, ohne viel mehr als den nächsten Schritt oder den nächsten Tritt in die Pedale zu wissen.

      – Die Wachheit, ausgehend von unserem Gottes- und Menschenbild zwischen Gegensatz und Widerspruch zu unterscheiden und der Versuchung zu widerstehen, zu polarisieren, zu fragmentieren oder zu fusionieren.

      Romano Guardini hat dazu schon vor 95 Jahren einen bleibend wichtigen, erstaunlich aktuellen Impuls gegeben.

       Gegensätze aushalten und bejahen

      Guardini hat vermutlich nie behauptet, das Leben sei eine gemütliche Fahrradtour. Auf jeden Fall ist es für ihn alles andere als ein friedliches, stilles Gewässer. Nach Romano Guardini existiert alles Lebendige nur im Spannungsgefüge von Gegensätzen oder Polaritäten (aber nicht unbedingt von Widersprüchen):