mehr ich mich mit ihr und ihren Schriften beschäftigt habe und in verschiedenen Veranstaltungen mit anderen über sie ins Gespräch kam, desto bewusster wurde mir, wie sehr sie eine Gotteszeugin für unsere heutige Zeit ist. Sie legt „uns das Zeitalter nach dem Konzil“ aus, schreibt einer ihrer engsten Freunde, der Dominikaner und spätere Arbeiterpriester Jacques Loew.1
Dabei leuchtet für mich inzwischen eine frappierende Verwandtschaft mit Papst Franziskus auf. Ich halte sie für eine Prophetin einer „Kirche im Aufbruch“, wie sie dem Papst so sehr am Herzen liegt. Sie ist ganz buchstäblich „an die Ränder“ gegangen und hat ihr Leben mit den Armen geteilt. Wie Papst Franziskus war sie durch die Intuition ihres Herzens ein „Genie der Begegnung“.
Das ist es wohl auch, was bei vielen Menschen ihrer Umgebung über ihre Texte hinaus einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Ob das nun ein emeritierter Professor war, Jugendliche aus der Nachbarschaft, traumatisierte ehemalige Kriegsgefangene oder die zahlreichen Priester und Ordensleute, die mit ihr in Kontakt kamen: Dem Charme ihrer Persönlichkeit konnte sich kaum jemand entziehen. Mit ihrem südfranzösischen Temperament, ihrer Vorliebe für Rotwein und Gauloises hat sie Grenzen überwunden und Brücken gebaut. Sie war „eine Lebende“, wie eine Freundin einmal schrieb – eine lebensfrohe, Mut machende Frau, und dies trotz zahlreicher schwerer Schicksalsschläge und immer wiederkehrender Krankheiten. Was sie mir persönlich am tiefsten bedeutet, habe ich in dem Satz eines ihrer marxistischen Freunde wiedergefunden: „Wenn man Madeleine kennenlernte, lernte man etwas vom Antlitz Gottes kennen.“
Christoph Benke: Stoßen die Person und das Werk Madeleine Delbrêls heute noch im deutschsprachigen Raum auf Interesse? Wird sie in Frankreich rezipiert?
Annette Schleinzer: Ich nehme wahr, dass das Interesse an Madeleine Delbrêl im deutschsprachigen Raum seit einigen Jahren immer mehr zunimmt. Ihre Texte sind bei den verschiedensten Menschen, Gruppen und Gemeinschaften nach wie vor sehr gefragt und werden als Inspiration für die eigene Berufung und alltägliche Lebenshilfe empfunden. Das betrifft Familien und Einzelne genauso wie Ordenschrist(inn)en, und inzwischen auch evangelische Christ(inn)en. Ich weiß, dass nicht wenige engagierte Gläubige in ihr eine prophetische Gestalt für den Synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland sehen.
In Frankreich gibt es inzwischen ebenso eine stärkere Rezeption, was sich z.B. darin zeigt, dass es sowohl in Paris als auch in der Diözese Lille Gruppen gibt, die gemeinsam nach einem Weg suchen, miteinander im Geist Madeleine Delbrêls zu leben.
Christoph Benke: Zuletzt haben Sie die Übersetzung der Biografie verantwortet. Auf welche Neuigkeiten sind Sie dabei gestoßen? Welche Zusammenhänge waren auch Ihnen so bisher nicht bekannt?
Annette Schleinzer: Neu waren für mich vor allem die Briefe, die Madeleine Delbrêl einige Jahre nach ihrer Konversion an ihren geistlichen Begleiter, Abbé Lorenzo, geschrieben hat. Diese Briefe wurden erst im Jahr 2004 gefunden und der damaligen Verantwortlichen ihrer Gemeinschaft übergeben. Sie spiegeln eine ganz innige Christusbeziehung wider, ohne die sich die Entscheidung für ihre Lebensform und viele ihrer späteren Texte in ihrer Tiefe kaum verstehen lassen. Neu war für mich auch, dass sich Madeleine und Frère Roger Schutz im Dezember 1959 in Taizé getroffen haben, um sich über das Thema Taufe auszutauschen.
Christoph Benke: Madeleine Delbrêl wollte nichts weiter als in Gemeinschaft „nach dem Evangelium leben“. Dennoch spielte in der Geschichte der Equipe Madeleine Delbrêls deren kirchenrechtliche Einordnung eine nicht unwesentliche Rolle. Gibt es dazu neue Erkenntnisse?
Annette Schleinzer: Madeleine Delbrêl bezeichnete ihre Gemeinschaft gern als „inclassable“: als kirchenrechtlich nicht einzuordnen. Auch wenn es ihr immer wichtig war, „echte Laien“ zu bleiben, denen die Taufe als Grundlage genügt, so gab es in ihrer Lebensform doch auch eine innere Verwandtschaft mit dem Ordensleben. „Wir sind ein lebender Widerspruch“2, schrieb sie einmal. Diesen Widerspruch auszuhalten, fiel einigen Mitgliedern ihrer Equipe nicht leicht. Zudem gab es auch von außen immer wieder Anfragen zu ihrem Status, gerade von Seiten ihrer Pfarrei.
Als 1947 die (faktisch damals bereits bestehenden) Säkularinstitute durch die Konstitution „Provida Mater“ kirchlich approbiert wurden, sahen viele ihrer Gefährtinnen eine Lösung darin, sich einem Säkularinstitut anzuschließen. Es kam dann tatsächlich zu Gesprächen mit dem Institut „Caritas Christi“. In der Biografie wird dieses für Madeleine sehr schmerzhafte Ringen ausführlich dargestellt; vor allem wird deutlich, wie sehr der spätere Pariser Kardinal Veuillot von Anfang an Vorbehalte gegen einen solchen Anschluss hatte. Er half dann der Gemeinschaft, sich ihrer ursprünglichen Berufung zu vergewissern.
Christoph Benke: Wie geht es der Equipe heute?
Annette Schleinzer: Die ursprüngliche Equipe existiert nicht mehr. Die letzte von Madeleines Gefährtinnen ist 2018 im Alter von fast 100 Jahren gestorben. Es gibt aber einen sehr engagierten Verein (Association des Amis de Madeleine Delbrêl),
In mehreren Ländern – vor allem in Italien, aber auch in Deutschland und Österreich – haben sich zudem Menschen zusammengefunden, die sich spirituell an Madeleine Delbrêl orientieren. Seit zwei Jahren beschäftigt sich zum Beispiel in Paris eine Gruppe von derzeit 20 Personen mit der Frage, eventuell eine neue Gemeinschaft im Geist Madeleines zu gründen.
Christoph Benke: Im Folgenden beziehe ich mich auf die Biografie: Abbé Lorenzo war viele Jahre der Beichtvater von Madeleine Delbrêl. Wie würden Sie dabei das Verhältnis von Geistlicher Führung, Gehorsam und Freiheit (die Madeleine sich gelegentlich Abbé Lorenzo gegenüber herausnahm) sehen?
Annette Schleinzer: Das Thema Gehorsam war für Madeleine Delbrêl zentral. Gehorsam stand für sie immer im Dienst der Freiheit: der Freiheit, sich ganz und gar von Gott erfüllen zu lassen. „Der rein äußere Gehorsam hat [deshalb] keinen Wert“, schreibt sie. „Er ist vielleicht eine Übung der Disziplin, aber das ist noch keine Liebe. Gehorsam ist vielmehr die Lust, in Gottes Hand zu sein.“3
Eine wichtige Hilfe auf diesem Weg war für sie die geistliche Begleitung, vor allem durch Abbé Lorenzo, nach seinem Tod durch Kardinal Veuillot. Gerade in der Zeit nach ihrer Konversion hat Abbé Lorenzo ihr geholfen, sich ihrer eigenen Berufung zu vergewissern. Sie hat sich ihm deshalb zutiefst anvertraut. Zugleich behielt sie sich aber vor, sich kritisch mit ihm auseinanderzusetzen. Denn Abbé Lorenzo war von seiner Veranlagung her eher zurückhaltend und „nicht besonders auf Abenteuer aus“4. So blieb er in Bezug auf die eigenständige Berufung ihrer Gemeinschaft zeitlebens skeptisch. „Unsere Familie ist sozusagen trotz M. l’abbé zustande gekommen, aber ohne ihn hätte sie natürlich auch nicht existiert“5, schrieb sie einmal an Jacques Loew.
Christoph Benke: Heute wird in kirchlichen Kreisen viel von Mission und missionarischer Spiritualität gesprochen. Wie würden Sie Madeleine Delbrêls Sicht von Mission skizzieren?
Annette Schleinzer: Wie beim Thema Gehorsam gehören für Madeleine Delbrêl Mission und Freiheit untrennbar zusammen. Sie ist weit davon entfernt, andere „bekehren“ zu wollen oder Mitglieder für die Kirche zu gewinnen: „Wenn Pierre kein Christ ist, dann geht es mir nicht in erster Linie darum, dass er wie ich katholisch wird und der Kirche angehört“, schreibt sie. „Was ich mir für ihn wünsche, ist, dass er den Gott des Evangeliums und dadurch auch seine eigene Bestimmung kennenlernt.“6 Wenn sie so zutiefst die Freiheit anderer Menschen und deren ganz persönliche Lebensgeschichte respektiert, hält sie zugleich mit ihrem eigenen Glauben nicht hinter dem Berg. Vielmehr möchte sie von dem unvergleichlichen Glück erzählen, das Gottes Existenz für sie selbst bedeutet. Leidenschaftlich ist sie daran interessiert, dass die Menschen seine heilende und befreiende Liebe erfahren, für die Jesus Christus in die Welt gekommen ist. Sie möchte ihnen so begegnen, dass etwas von seiner Lebensdynamik überfließen und ihr Herz erreichen kann.