Motiv jeder missionarischen Bemühung.“7 Je mehr Gott für das Leben vieler Menschen überflüssig geworden ist, desto mehr fühlt sich Madeleine gedrängt, ihn sichtbar und hörbar werden zu lassen. Vor aller Augen will sie ihm den Vorzug geben, um seinetwillen, um der Liebe willen, mit der er geliebt werden will.
In alldem ist Mission für sie keine „Zutat“ zum „normalen“ christlichen Leben. Sie ist auch nicht die besondere Berufung derer, die „in die Missionen gehen“. Das Evangelium zu verkünden ist vielmehr die „normale Reaktion unseres Organismus auf die Entchristlichung“8. Das setzt voraus, sich selbst der Liebe Gottes zu öffnen. Wenn dann „so die Liebe Gottes in uns frei wird, weil wir uns ganz und gar ihr ausliefern, dann ist Gott nicht nur gegenwärtig, sondern auch offenbar; etwas von ihm wird den Menschen sichtbar – uns selbst und den anderen.“9
Christoph Benke: Welche Sicht von „Welt“ hat Madeleine Delbrêl? Was empfiehlt sie den Christ(inn)en von heute für das Zugehen auf eine säkulare Welt? Welche „Ausstattung“ benötigen sie?
Annette Schleinzer: Madeleine Delbrêl verwendet das Wort „Welt“ in zweifacher Bedeutung. Zum einen ist die Welt (le monde) für sie die irdische Wirklichkeit, Gottes Schöpfung, die wir verantwortlich mitzugestalten haben. Gott ist überall in dieser Welt zu finden, nicht nur an den Orten, an denen er aus dem Blickwinkel traditioneller Kirchlichkeit vermutet wird. Sie hat ihn z.B. im Lärm der Straße entdeckt, in einem Pariser Szene-Café, überall dort, wo Menschen leben, in der ganzen Schöpfung. Deshalb gibt es für sie im Grunde auch nichts „Profanes“; der Alltag wird zum „Ort“ der Gotteserfahrung.
Zum anderen verwendet sie das Wort „Welt“ (le Monde) im Sinne des Johannesevangeliums: die Menschenwelt, die aus sich selbst und für sich selbst da sein will und sich Gott gegenüber verschließt. Es ist jene Welt, mit der Jesus letztlich in einen tödlichen Konflikt geraten ist, die er aber durch seinen Tod und seine Auferstehung überwunden hat (vgl. Joh 16,33).
Darum müssen sich Christ(inn)en, wenn sie auf die „säkulare Welt“ zugehen, dieser doppelten Bedeutung von „Welt“ bewusst sein. Richtschnur ist ihr dabei das Doppelgebot der Liebe. Das bedeutet: Ganz „in der Welt zu sein“, den Menschen zugewandt, bereit zum Dialog und zum leidenschaftlichen Einsatz für die Benachteiligten. Eine elementare Aufgabe der Kirche und damit der Gläubigen ist es deshalb, „aus sich herauszugehen“, wie Papst Franziskus immer wieder schreibt. Dazu ist es erforderlich, sich auf die jeweilige Zeit mit ihren Bedingungen und Erkenntnissen einzulassen. Christ(inn)en müssen, so Madeleine, „den Menschen dieser Welt als (…) Schicksalsgefährten verbunden sein wollen“10. Ja, noch mehr: „Können die anderen in unserem Gesicht das Antlitz Christi erkennen, das wir ihnen schulden“11? Und umgekehrt: Entdecken wir Christus im Gesicht anderer, vor allem auch im Gesicht der Fremden?
Zugleich kommt es darauf an, „nicht von der Welt“ zu sein, d.h. aus dieser doppelt-einen Liebe heraus eine kritische Distanz zu wahren, wo diese Liebe verraten oder mit Füßen getreten wird; einerseits aus ganzem Herzen auf das Gelingen menschlichen Lebens zu hoffen und dafür zu kämpfen, andererseits zu wissen, dass es eine letzte Erfüllung dieser Hoffnung nur von Gott her gibt. Für Madeleine Delbrêl bedeutet dies z.B. die Weigerung, in die Kommunistische Partei einzutreten, obwohl sie keinerlei Berührungsängste mit den führenden Parteigenossen hatte und sich als Sozialarbeiterin Seite an Seite mit ihnen für bessere Lebensbedingungen der Menschen einsetzte. Der Glaube ließ sie hellsichtig dafür werden, dass die Wirklichkeit ambivalent ist: Überall ist Gott am Werk, überall kann sich aber auch ein Widerstand gegen Gott und seine universale Liebe verbergen, mitten in der Kirche und im Herzen jedes Christen und jeder Christin.
Diese „Unterscheidung der Geister“ zählt für Madeleine zum „christlichen Realismus“. Er erfordert letztlich vor allem eines: die eigene Umkehr zum lebendigen Gott. Der Glaube muss „zu seinen Grundlagen zurückkehren. Man kann nicht länger Energie an das verschwenden, was peripher und nicht grundlegend ist. Menschen müssen zum Zentrum zurückkehren, zum Kern dessen, was allein nähren und das Herz im Winter wärmen kann.“12 Madeleine Delbrêl ist davon überzeugt, dass das eine immer neue Bewusstseinsbildung erfordert. Den Getauften ihre Würde und ihre Verantwortung lediglich zuzusprechen, genügt nicht. Erforderlich sind vielmehr Erfahrungsräume, in denen sich Erwachsene existentiell mit ihrem Glauben auseinandersetzen und ihn vertiefen können. „Heutzutage brauchen wir“, so schreibt Madeleine, „zuallererst eine Unterweisung im Glauben“, und das ist noch einmal etwas Anderes als „ein Unterrichtsprogramm“, das absolviert wird.13 Es geht um ein persönliches Verhältnis zu Gott, um eine Lebensgemeinschaft mit Jesus Christus und um die daraus hervorquellende Hoffnung für sich selbst und für andere.
Christoph Benke: Das weltanschauliche Gegenüber, mit dem sich Madeleine Delbrêl auseinanderzusetzen hatte, war der Marxismus. Der Marxismus hat – pauschal formuliert – einem weltanschaulichen Pluralismus, einer gewissen Gleichgültigkeit bzw. einer „religionsfreundlichen Gottlosigkeit“ (J. B. Metz) Platz gemacht. Wie würde Madeleine Delbrêl darauf reagieren?
Annette Schleinzer: Madeleine Delbrêl hat eine solche Entwicklung Anfang der 1960er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts selbst schon vorausgesehen. So schreibt sie in einem Text, um den sie zur Vorbereitung des Zweiten Vatikanischen Konzils gebeten worden war: „Lautlos naht der Kirche eine Grundgefahr: die Gefahr einer Zeit, einer Welt, in der Gott nicht mehr geleugnet, nicht mehr verfolgt, sondern ausgeschlossen, in der er undenkbar sein wird; einer Welt, in der wir seinen Namen herausschreien möchten, es aber nicht können, weil uns kein Platz bleibt, wo wir unsere Füße hinstellen könnten.“14
In diesem Text wirbt sie eindringlich dafür, dass sich der Glaube in jeder Zeit neu verleiblichen muss. Sie war davon überzeugt, dass wir einen tiefen Wandel durchleben, in der sich die Gestalt von Glaube und Kirche verändert. Werden Traditionen und Strukturen hingegen als unveränderlich betrachtet und deshalb nur bewahrt, hält Madeleine das für eine „christliche Mentalität“, die der lebendigen Weitergabe des Glaubens im Weg steht15. Dann verkünden wir „nicht mehr die ‚Gute Nachricht‘, weil das Evangelium keine neue Nachricht mehr für uns ist: Wir sind daran gewöhnt, es ist eine alte Nachricht geworden. Der lebendige Gott ist kein ungeheures, umwerfendes Glück mehr; er ist etwas, was uns zusteht, der Hintergrund unseres Daseins. (…) Wir teilen nicht die ewige Neuigkeit Gottes mit, sondern sind Polemiker, die eine Lebensanschauung verteidigen, die überdauern soll. Somit wäre es unnütz, anderen nahe zu sein, um gehört zu werden, ihre Sprache zu sprechen, für sie präsent und lebendig zu sein, falls wir (…) nicht selber die vollständige Botschaft wiedergefunden hätten, die wir empfangen haben und weitergeben müssen.“16
Solchen Texten, die Madeleine Delbrêl Anfang der 1960er-Jahre geschrieben hat, entnehme ich, dass sie heute ähnlich reagieren würde wie zu ihrer Zeit. Ein weltanschaulicher Pluralismus oder eine „religionsfreundliche Gottlosigkeit“ bzw. auch eine Gottvergessenheit wären für sie vermutlich sogar noch eine tiefere Provokation „zur einfachsten und größten menschlichen Berufung: der Berufung für Gott, der Berufung zu Gott hin, der Berufung des glaubenden Menschen, sich selbst und alles, was existiert, an Gott zu binden“17. Und dies „ohne Propaganda und ohne Inkognito“18. Damit meinte sie, Taktiken und Werbestrategien zu vermeiden – zugleich aber nicht davor zurückzuschrecken, sich ggf. offensiv in das vielstimmige Konzert der Meinungen einzubringen. „Wir haben“, schreibt sie, „nicht nur als Christen zu leben, sondern Christus auch laut zu verkünden.“19
Was ihr bei alldem zu Lebzeiten das Wichtigste war, wäre es dann wohl auch heute: das Gebet, und dabei vor allem die Anbetung. Anbetung ist für sie mehr als eine Gebetsweise unter anderen. In der Anbetung ist von uns „nicht die Rede, da sie auf Gott als Gott hinzielt“20. Sie erscheint ihr als ein „Akt elementarer Gerechtigkeit“ gegenüber Gott und zugleich als „die größte Wohltat, die man der Welt erweisen kann“21. Es ging ihr darum, kontemplativ mitten in der Welt zu leben, Gott „einen Ort zu sichern“. „Vor allem der Anbetung überantwortet sein. (…) Erkennen, dass hier der eigentliche Akt der Erlösung geschieht; glauben im Namen der Welt, hoffen für die Welt, lieben im Namen der Welt.“22
Christoph