Verlag Echter

Geist & Leben 2/2021


Скачать книгу

Oder noch genauer: „Das ist Gegensatz: dass zwei Momente, deren jedes unableitbar, unüberführbar, unvermischbar in sich steht, doch unablöslich miteinander verbunden sind; ja, gedacht nur werden können an und durch einander.“14 Dynamische Spannung, Spannungseinheit – eine Spiritualität, die sich lebendig und beweglich wissen möchte, steht notwendigerweise unter dem gleichen Gesetz. Dies auszuhalten und wirklich innerlich zu bejahen ist anstrengend und immer unbequem. Die Versuchung liegt nahe, Differenzen zu zähmen, Spannungen einzuhegen und neutralisieren zu wollen, d.h. einerseits die Linien dualistisch weiter auszuziehen, zu polarisieren, noch weiter zu fragmentieren, zu spalten, abzuspalten; die Komplexität der Welt und ihrer Fragen auf einen überschaubaren Komplex zu reduzieren (das Leben ist einfach, verständlich und schwarz-weiß; die Alternativen … alternativlos exklusiv), andererseits die Differenzen zuzukleistern, harmonisch zu glätten, zu vermischen und schließlich in einer Synthese des Gleich-Gültigen aufzulösen.

      Beide Tendenzen – Spaltung oder Identität – sind in ihren Extremen tödlich für den Reichtum und die Fülle des Lebens. Eine Fahrrad-Spiritualität wird es sich nicht leisten, die bestehenden Polaritäten einfach elegant zu umschiffen. Sie kann aber auch nicht den goldenen, unengagierten „Mittelweg“ nehmen, der niemandem weh tut. Sie situiert sich vielmehr wie bei einer Gratwanderung genau auf dieser Spannungslinie dessen, was man einmal das ur-katholische Prinzip des et … et genannt hat: nicht entweder – oder, sondern sowohl … als auch; nicht nur … sondern auch: nicht nur Gnade, sondern auch Freiheit15, nicht nur Gott, sondern auch Mensch, nicht nur Einheit, sondern auch Vielfalt und Verschiedenheit, nicht nur heilige, sondern auch sündhafte Kirche (semper reformanda).

      Das Geheimnis der Balance, des Gleichgewichts liegt – wie beim Fahrradfahren – in der Bewegung. Es wird wohl, so lange wir auf Erden unterwegs sind, immer nur eine unvollkommene Bewegung, eine pulsierende Ungleichheit bleiben, denn, so schreibt R. Guardini, „das Leben steht, je nach der verschiedenen Wesensbetonung im Einzelnen oder in der Gesamtheit, in dieser oder in jener Richtung. Immer aber gerät es dabei in die spezifische Krisis der betreffenden Sinnrichtung: Die dynamische des zerrüttenden (…) Relativismus, oder in die statische der erstarrenden Bewahrung und Härte.“ Und weiter: „Überwunden wird diese Krisis dadurch, dass innerhalb der betreffenden Lebensrichtung die sinngemäß entgegengesetzte aufgefunden, zugelassen, zur Entfaltung freigegeben wird: Das Strömen in der Dauer, das Bleibende im Wandel, (…) das Wirken in der Festigkeit.“16

      Weil alles endlich Lebendige immer unausgeglichen ist, bleibt es notwendig verwiesen auf den Kontakt, auf die Beziehung mit anderem Lebendigen. Damit kommt dem Gegensatz eine wichtige kritische Bedeutung zu: In seiner Widerständigkeit bewahrt er vor der Anmaßung und der „naiven Selbstsicherheit, mit der sich eine enge Individualwelt als ‚die Welt‘ setzte.“17 Er hilft, über den eigenen Tellerrand zu schauen, sich andererseits auch anfragen zu lassen – und die eigene kleine, wenn auch wichtige Fahrradlampe nicht gleich für das Licht der Welt zu halten.

      Wer aus einer solchen Spiritualität lebt, sitzt nicht einfach fest im Sattel, sondern setzt sich aus, bleibt selbst ausgespannt zwischen den Polaritäten; riskiert einerseits dynamische Vitalität und echte Fruchtbarkeit, andererseits das eigene Zerrissen-Werden. Genau diese Spannungseinheit, die pulsierendes Leben und Offenheit ermöglicht, macht diese Öffnung zu einer Leer-Stelle, zu einer absoluten Stelle, die vieles und viele sich anmaßen zu besetzen, die es aber für Gott, den einzig Absoluten, offenzuhalten gilt. Mehr noch: Die Spannungseinheit macht diese Öffnung zu einer Wunde, die der am Kreuz Ausgespannte am vollkommensten ausgetragen hat: Jesus. In seinem Kreuz sind Heil und Leben, nicht daneben.

      Vielleicht ist diese Achse, die so sehr nach einer Bruchstelle aussieht, ist dieses Kreuz Jesu Christi das, was Romano Guardini mit „Mitte und Maß“ meint: „Die Mitte ist das Geheimnis des Lebens. Wo die Gegensätze zusammen sind; von wo sie ausgehen, wohin sie zurückkehren.“18 Das führt nicht zu einem geschlossenen System. Es führt zu einer neuen Haltung, einer „Haltung des steten Gehens, Hindurchgehens. Leben kann nur lebendig bleiben, wenn es maßvoll und bewegt bleibt; ein steter, auf bleibendes Gleichgewicht, auf dauernde Gegenwart verzichtender Vorübergang.“19

      „Immer weiter!“ hätte Madeleine Delbrêl jetzt vielleicht dazu gesagt. Und wäre auf ihr Fahrrad gestiegen und davongebraust.

      1 M. Delbrêl, Deine Augen in unseren Augen. Die Mystik der Leute von der Straße. Ein Lesebuch. Hrsg. v. A. Schleinzer. München u.a. 22015, 246ff.

      2 Vgl. J. Sudbrack, Vom Geheimnis christlicher Spiritualität: Einheit und Vielfalt, in: GuL 39 (1966), 24–44.

      3 Vgl. J. Daniélou, Vom Geheimnis der Geschichte. Stuttgart 1955, 322, zitiert in: J. Sudbrack, Vom Geheimnis christlicher Spiritualität, 27 [s. Anm. 2].

      4 H.-J. Höhn, Fremde Heimat Kirche. Glauben in der Welt von heute. Freiburg i. Br. u.a. 2012, 163.

      5 H. de Lubac, zit. nach: E. Bianchi, Wir sind nicht besser. Das Ordensleben in der Kirche und inmitten der Menschen. Sankt Ottilien 2011, 308.

      6 R. Guardini, Der Gegensatz. Versuche zu einer Philosophie des Lebendig-Konkreten. Mainz 1925, 72f.

      7 Vgl. A. Delp, Meditation zur Vigil von Weihnachten, 24.12. 1944, in: R. Bleistein (Hrsg.), Alfred Delp – Gesammelte Schriften. Band IV: Aus dem Gefängnis. Frankfurt/M. 1984, 195.

      8 A. Delp, Predigt zu Christi Himmelfahrt 1943, in: R. Bleistein (Hrsg.), Alfred Delp – Gesammelte Schriften. Band III: Predigten und Ansprachen. Frankfurt/M. 1983, 214.

      9 BKV 1/12 (1913), 165f.

      10 Vgl. T. Halík, Glaube und sein Bruder Zweifel. Freiburg i. Br. u.a. 2017, 9.

      11 Vgl. T. Halík, Theater für Engel. Das Leben als religiöses Experiment. Freiburg i. Br. u.a. 2019, 12.

      12 Ebd., 13.

      13 R. Guardini, Der Gegensatz, 23 [s. Anm. 6].

      14 Ebd., 42.

      15 Vgl. T. Halík, Glaube, 264 [s. Anm. 10].

      16 R. Guardini, Der Gegensatz, 40 [s. Anm. 6].

      17 Ebd., 250.

      18 Ebd., 252.

      19 Ebd., 255.

       Annette Schleinzer | Röderhof

      geb. 1955, Dr. theol., Exerzitienbegleiterin, Ordinariatsrätin und Theologische Referentin des Bischofs von Magdeburg

       [email protected]

       Ein Interview mit Annette Schleinzer

      Christoph Benke: Sehr geehrte Frau Dr. Schleinzer, Sie haben sich in mehreren Publikationen intensiv mit der Person und dem Werk Madeleine Delbrêls auseinandergesetzt. Was fasziniert Sie persönlich, immer noch und immer neu, an ihr?

      Annette Schleinzer: Als ich Anfang der 1980er-Jahre anfing, mich mit Madeleine Delbrêl zu beschäftigen, bin ich oft nach Ivry zu ihren damals noch lebenden Gefährtinnen gefahren. Dort hat mich als erstes der einfache Lebensstil der Gemeinschaft fasziniert. Das Haus in der Rue Raspail Nr. 11 war ein „Haus der offenen Tür“. Wer vorbeikam, wurde mit großer Wärme und Herzlichkeit aufgenommen. Mir wurde sofort der Zugang zu allen Schriften Madeleines ermöglicht, die damals noch größtenteils unveröffentlicht waren. Dabei ist mir in diesen Texten und in den Gesprächen mit ihrer Gemeinschaft entgegengekommen, wie lebendig, wie zeitgemäß und zugleich wie geerdet ihre Spiritualität ist. Gedichte wie „Die Liturgie der Außenseiter“, „Fahrradspiritualität“ oder „Der Ball des Gehorsams“ spiegeln etwas von ihrer Frische und Originalität wider. Jenseits traditioneller pastoraler Konzepte ging