Jörg Alt

Wir verschenken Milliarden


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einige Personen und Versicherungsarten besser gestellt als andere, auch ein Grund dafür, dass „Arbeit“ in Deutschland im internationalen Vergleich tatsächlich „zu teuer“ ist. Nur: Viele Millionen im Niedriglohnbereich Beschäftigte verdienen zu wenig, als dass sie der Abgabenpflicht unterliegen würden. Hier zahlt der Staat entweder deren Beiträge aus Steuermitteln (bei „Minijobbern“) oder trägt für alle Nicht- oder Unterversicherte entstehende Kosten im Fall von Hilfsbedürftigkeit über die Sozialhilfe.

      Bei Geringverdienern, die im gesetzlichen System versichert sind, schlagen Sozialversicherungsbeträge sodann anteilig härter zu Buche als Steuern, wo es für die unteren Einkommensbezieher Freibeträge gibt. Bei den Sozialversicherungsbeiträgen sind ab der Beitragsbemessungsgrenze die oberen Einkommensbezieher entlastet, d. h., deren Beiträge wachsen nicht mehr entsprechend ihrem Einkommen. Hinzu kommt, dass Bezieher hoher Einkommen ab einer Versicherungspflichtgrenze von 56.250 Euro im Jahr in eine private Versicherung wechseln und damit aus dem solidarischen Umlagesystem ausscheiden können. Vor Vereinfachung wird gewarnt: Unter den 8,8 Millionen privat Versicherten sind nicht nur Großverdiener, sondern auch viele Personen im Niedriglohnsektor, etwa Schein-Selbständige, die teilweise aber zu wenig verdienen, um regelmäßig Beiträge zahlen zu können, und die dadurch ihren Versicherungsschutz verlieren.

      Ferner wurde das Prinzip der Parität, ursprünglich ein Kerngedanke des deutschen Sozialsystems, für die gesetzliche Krankenversicherung bereits gebrochen: Der Arbeitgeberanteil ist bei 7,3 % eingefroren, Beitragssteigerungen gehen nun voll zu Kosten der Arbeitnehmer.

      Vor allem die Rentenversicherung ist seit Jahren in einer Krise, weil gezahlte Beiträge nicht mehr mit den Leistungen Schritt halten können und ein Ausgleich über gezielte Erhöhung indirekter Steuern bzw. jährliche Bundeszuschüsse, schon jetzt der größte Ausgabenposten im Bundeshaushalt, getätigt werden müssen.

      Während direkte Steuern am ehesten dazu geeignet sind, nach Leistungsfähigkeit zu belasten, ist dies bei indirekten Steuern nicht der Fall: Lebenshaltungskosten müssen von jedem bestritten werden, unabhängig davon, ob er 1.000 oder 10.000 Euro im Monat verdient. Entsprechend liegt die Belastungsquote durch indirekte Steuern im unteren Einkommensbereich bei 14 %, im obersten Einkommensbereich bei bloßen 4 % (Beimann, Kambeck, & al., 2011, S. 10). Zwar versuchte man, ärmere Haushalte durch einen reduzierten Mehrwertsteuersatz auf „existenznotwendige Bedarfe“ (Grundnahrungsmittel!) zu entlasten, aber dieser Ansatz ist untauglich: Zum einen profitieren auch vermögende Haushalte davon, zum Zweiten herrscht beim reduzierten Mehrwertsteuersatz inzwischen ein Wildwuchs, der keinen erkennbaren Bezug mehr zum Zweck „Entlastung ärmerer Einkommensgruppen“ hat (siehe 16.5).

      Hinzu kommt, dass parallel zur Senkung direkter Steuern auf private und betriebliche Einkünfte indirekte Steuern und Abgaben neu eingeführt (Erneuerbare Energie Abgabe!) oder erhöht wurden (etwa die Mehrwertsteuererhöhung 2008 von 16 % auf 19 %). Nach Ansicht von Experten hat sich die Zusammensetzung der Staatseinnahmen aus direkten und indirekten Steuern von einstmals 60 :40 inzwischen auf 40:60 umgekehrt – und damit zu Lasten niedriger und mittlerer Einkommen verschoben (Wieland, 2013). Mittlerweile ist der größte Einnahmeposten im Haushalt nicht mehr die Lohnsteuer, sondern die Umsatzsteuer.

      Leitende Beamte aus der Steuerverwaltung verteidigen diese Entwicklung. Sie sei gerecht und fair: Einer indirekten Steuer auf Konsum könne niemand in Steuerparadiese ausweichen und die Erhebung dieser Steuer sei zudem sehr preiswert, während die Ermittlung einer zutreffenden progressiven Einkommensteuer seitens der Finanzverwaltung sehr aufwändig und damit teuer sei. Indirekte Besteuerung zieht nicht einmal Überprüfungs- und andere Erhebungskosten nach sich und es gebe keinerlei Einspruchsmöglichkeiten mit nachfolgenden langwierigen und teuren juristischen Verfahren. Entsprechend sähe man gute Gründe, die Tendenz zu indirekten Steuern weiter voranzutreiben und sie vielleicht durch Einführung einer Luxussteuer noch gerechter zu machen.

      Bei alledem sind Haushalte mit Kindern durch die kumulierte direkte/ indirekte Steuer- und Abgabenlast proportional höher belastet als Alleinverdiener oder Doppelverdienerhaushalte, obwohl doch Kinder für die Aufrechterhaltung des umlagefinanzierten Solidarsystems von herausragender Bedeutung wären und entsprechend gefördert werden sollten.

      Bereits an dieser Stelle erahnt man die unheilvolle Rolle, die „Steuerwettbewerb“ für die Entwicklung des Steuerrechts der vergangenen Jahrzehnte hatte und hat: Nachdem im Zuge der Globalisierung Kapitalverkehrskontrollen erstmal abgeschafft waren, musste man natürlich, um der Verlagerung und Abwanderung von Kapital und Vermögen zu begegnen, Steuergesetze so reformieren, dass der Verbleib im Land günstiger war als die Kosten für eine Verlagerung. Am Steuerwettbewerb sind aber nicht nur die Staaten beteiligt. Die Kommunen (Monheim, Eschborn, Grünau …) beteiligen sich über den Hebesatz bei Gewerbesteuer und Grundsteuer ebenso wie die Bundesländer: Unter dem Stichwort „Steuerwettbewerb der Länder“ machte Bayerns Finanzminister Söder bereits 2012 den Vorschlag, sowohl die Erbschaftsteuer als auch die Grundsteuer zu regionalisieren und Entscheidungen darüber ganz den Bundesländern zu überlassen. In eine ähnliche Richtung geht der Vorstoß von Bayern und Baden-Württemberg bezüglich mehr Spielraum bei der Einkommensteuer.

      All dies bedeutet eine Verschiebung der Steuerpolitik weg vom Prinzip der Leistungsfähigkeit hin zum Prinzip der Unausweichbarkeit, d. h. der Verschiebung der Steuerlast hin zu jenen, die bei Zahlungen von Steuern und Abgaben nicht in Niedrigsteuergebiete ausweichen können.

      In den Antworten auf die versandten Fragebögen halten sich Ministerien verständlicherweise in der Beurteilung der Rechtslage zurück, die dem Gesetzgeber zuzuschreiben ist.

      In den Stellungnahmen der Parteien überrascht zunächst die Skepsis der CDU/CSU beim Thema Steuerwettbewerb. Das sei „grundsätzlich nicht in Ordnung“ und „ein gegenseitiger Steuerwettbewerb um immer niedrigere Steuersätze kann zu keiner nachhaltigen Lösung führen.“ Auf den zweiten Blick entdeckt man, dass sich diese Sicht nur auf den internationalen Steuerwettbewerb bzw. die Konzernbesteuerung bezieht, die kleine und mittlere deutsche Unternehmen benachteiligt. Eher erwartungsgemäß stärkt die bayerische CSU Minister Söder in seiner Sicht des inländischen Steuerwettbewerbs: „Einkommensteuer und Erbschaftsteuer bedeuten in einem gewissen Umfang immer auch eine Umverteilung. Die Steuerpolitik muss hier das richtige Maß finden. Insofern muss ein „Steuerwettbewerb“ um das richtige Maß bei den Steuersätzen erfolgen.“ Früher sei versucht worden, mit höheren Grenzsteuersätzen „das Umverteilungsziel zu erreichen. Diese Politik hat aber nicht funktioniert.“

      Hinsichtlich der Erhöhung der Einkommensteuerprogression oder ausgesprochener Vermögensteuern wird der Leistungsaspekt betont, wobei ein Unterschied entlang der Kategorie Koalition/Opposition verläuft. Regierungsseitig wird betont, dass höhere oder zusätzliche Steuern nicht notwendigerweise zu höheren Einnahmen führen. „Eine Wiedereinführung der Vermögensteuer, eine höhere Erbschaftsteuer sowie höhere Spitzensteuersätze bei der Einkommensteuer wirken leistungsfeindlich und beeinträchtigen das deutsche Erfolgsmodell“ (CDU/CSU). Auch die Freiheit des Einzelnen sei zu respektieren: „Letztlich ist es die Entscheidung jedes Einzelnen, ob er konsumiert, spart oder investiert“ (CSU Bayern). Am deutlichsten kritisiert die Linkspartei Ungerechtigkeiten in der Entwicklung des Steuerrechts, die zudem, wie die SPD (Bund) auf ihre entsprechenden Forderungen im Bundestagswahlkampf 2013 verweist, wo Steuerreformen angesprochen wurden. Die SPD Bayern sowie Bündnis 90/Die Grünen (Bund und Bayern) verweisen in ihren Stellungnahmen nicht auf Forderungen vergangener Wahlprogramme.

      Das Forschungsprojekt folgt all jenen, die einen Zusammenhang sehen zwischen der Steuerpolitik der vergangenen Jahre und Jahrzehnte und dem Anstieg der Vermögensungleichheit in Deutschland – man betrachte nur die Entwicklungen der letzten 20 Jahre:

      Tabelle 3 Ausgewählte Steuersätze 1996–2016

1996