Jörg Alt

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zu denen Kontakte auf unterschiedlichste Weise zustande kamen. Bei der Gruppe der informellen Gesprächspartner kam es teilweise zu zehn und mehr persönlichen, telefonischen und/ oder schriftlichen Kontakten. Die Gesprächspartner kamen schwerpunktmäßig aus der Bayerischen Steuerverwaltung, aber auch aus den Bereichen Polizei, Justiz oder Zoll. Daneben wurden Vermögende und Vermögensverwalter, Steuerberater, Anwälte, Experten aus den Bereichen Banken, (Groß-)Unternehmen, Journalismus, NGOs und Informationstechnologie sowie Politiker und Abgeordnete befragt.

      Vertraulich-informelle Interviews haben den Vorteil gegenüber formellen, dass die Zusicherung von Anonymität es dem Gesprächspartner ermöglicht, seine Sicht der Dinge spontaner-offener darzulegen, als er es tun würde, wenn er damit rechnen müsste, dass seine Vorgesetzten seine Aussagen über die Forschungspublikation erfahren würden.5 Und genau hier wird die Stärke des vorliegenden Projekts gesehen: Auch wenn die offiziell zur Verfügung gestellten und formell interviewten Gesprächspartner interessante Informationen gaben, so kamen die weitaus interessanteren Informationen in solch vertraulichen Gesprächen zur Sprache.

      Während der Gespräche wurden schriftliche Notizen gemacht. Im Folgenden werden sowohl „wörtliche Zitate“ aus Gesprächen und Mails wiedergegeben als auch durch ‚einfache Anführungszeichen‘ gekennzeichnete Passagen aus zusammenfassenden Gesprächsprotokollen.

      Die veröffentlichten Texte wurden auf Informationen aus diesen Gesprächen aufgebaut. In der „technischen Version“ der Kapitel dokumentieren über 500 Endnoten Schritt für Schritt Quellen und Informationen, die den niedergeschriebenen Aussagen zugrunde liegen. Aus Datenschutzgründen, d. h. um Personenbeziehbarkeit der Informationen und Quellen zu vermeiden, wird die „technische Version“ jedoch nicht veröffentlicht.

      Wie bei früherer Forschung im abgeschotteten Milieu ‚illegaler‘ Migranten (Alt, 1999), über die während der Vorbereitungs- und Planungsphase ebenfalls wenig öffentliches Wissen zur Verfügung stand, veränderten bzw. differenzierten sich auch bei diesem Projekt im Verlauf der Interviews Hypothesen, Fragestellungen und Schwerpunkte in dem Maße, in dem Gesprächspartner ihre Sicht der Dinge darlegten und Aussagen sich widersprachen oder verstärkten.

      Ein solches Vorgehen wird Fragen bezüglich der Richtigkeit und Verallgemeinerbarkeit solcher Aussagen wecken: Wie kann ausgeschlossen werden, dass eine ‚kernige‘ Information die Abrechnung eines frustrierten Beamten mit Vorgesetzten ist und insofern eher eine Ausnahme denn generalisierbare Regel ausdrückt? Dass eine Einzelperson aufgrund ihrer Beschäftigung nicht den Einblick in Zusammenhänge hat, die Vorgesetzte und Politiker haben?

      Hierzu gibt es eine Reihe von Verifikationsmöglichkeiten, die in den in Fußnote 4 genannten Texten dargelegt werden. Lediglich zwei Punkte sollen hervorgehoben werden:

      – Informationen wurden vor allem dann verwendet, wenn Schnittmengen zu öffentlich zugänglichen Quellen existieren – deshalb auch die vielen Literaturverweise in dieser Zusammenfassung.

      – Ebenso sprach für sie, wenn sie von mehreren Informanten vorgetragen werden, bei denen ausgeschlossen werden kann, dass sie sich kennen oder abgesprochen haben.

      Freilich: Aufgrund der Bedingungen, unter denen dieses Forschungsprojekt stattfand, der Natur der Methoden und Stichprobengröße sowie der fachlichen Komplexitäten sind die Aussagen in diesem Buch begründbar, aber nicht repräsentativ und umstandslos verallgemeinerbar.

      Eine dritte Informationsquelle schließlich waren (halb-)standardisierte Befragungen: zunächst eine kleine anonymisierte und zufällige Bevölkerungsbefragung, sodann ein gezielt versandter Fragebogen, mit denen Verantwortliche in Ministerien und Parteien um zitierfähige Äußerungen zu forschungsrelevanten Themen gebeten wurden.6

      Angesichts der Komplexität der Materie und der Tatsache, dass zur Bearbeitung derselben lediglich eine Teilzeitstelle zur Verfügung stand, ist eine Reihe von Einschränkungen erforderlich gewesen, um das Thema bearbeitbar zu halten. Die wichtigsten sind:

      – Beschränkung auf die Erhebung von Steuern und Abgaben, nicht auf deren Verwendung oder gar Verschwendung.

      – Da große Betriebsvermögen bzw. Steuerpraktiken großer Konzerne aufgrund von Offshore- und Luxemburg-Leaks bereits im Fokus der Öffentlichkeit stehen, wurde hier kein eigener Schwerpunkt gesetzt. – Auf dem Hintergrund der föderalen Struktur der deutschen Steuerverwaltung lag der Schwerpunkt beispielhaft auf dem Bundesland Bayern.

      – Nicht alle Forschungsdaten konnten zum Publikationszeitpunkt dieses Buchs publikationsfähig für die Projektwebsite aufbereitet werden. – Aktualitätsstand des Buchs ist der 15. August 2016.

      4 Siehe ausführlicher: Alt & al. (2016c) sowie http://tinyurl.com/tjp-GER-II

      5 In den veröffentlichten Texten werden Aussagen formell vermittelter Gesprächspartner aus der Steuerverwaltung dadurch kenntlich gemacht, dass bei ihnen von „halboffiziellen Gesprächspartnern“ die Rede ist, um ihre Aussagen von „informellen“ Gesprächspartnern aus der Steuerverwaltung abzugrenzen. Die anderen Ministerien verlangten eine solche Kenntlichmachung der von ihnen zur Verfügung gestellten Gesprächspartner nicht.

      6 Ausführlicher bzw. zum Nachlesen eingestellt unter http://tinyurl.com/tjp-GER-Umfrage sowie http://tinyurl.com/tjp-GER-Fragenkatalog

       SEHEN

       4 Einkommens- und Vermögensungleichheit, Armut, öffentliche Schulden7

      Die Diskussion um Einkommens- und Vermögensungleichheit, Armut und öffentliche Schulden wird in Deutschland seit Thomas Pikettys „Kapital im 21. Jahrhundert“ (2014a) breit geführt, weshalb die folgenden Ausführungen auf das Nötigste beschränkt sein können.

      Zunächst muss unterschieden werden zwischen (Markt-)Einkommensund Vermögensungleichheit, was gerade für Deutschland sehr wichtig ist. Zum einen greift es alte Themen in neuem Gewand auf – etwa das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital, das Mitte des 19. Jahrhunderts unter dem Stichwort „die soziale Frage“ am Anfang der Katholischen Soziallehre stand. Zum Zweiten verdeutlicht es, dass „Vermögen“ eben nicht nur irgendetwas monetär Messbares ist, sondern darüber hinaus bezeichnet, dass sein Inhaber etwas „vermag“, ohne dass andere ihm ein Gegengewicht entgegensetzen könnten. Dies soll erläutert werden.

      Für Arbeit gibt es ein Einkommen. Aber: Einkommen gibt es auch, wenn man ‚nur‘ sein Geld für sich arbeiten lässt. Zur Veranschaulichung das Beispiel einer Aktie, deren Besitz vierfach nützlich ist: (1.) Sie gewährt regelmäßig Einkommen durch Dividende. (2.) Sie bringt zusätzlich eine größere Summe ein, wenn man sie veräußert. (3.) Sie gibt Anteil an der Politik eines Unternehmens und bestimmt etwa mit über die Höhe der Löhne, Arbeitsbedingungen oder die Art und Weise, wie und wo Investitionen und Geschäfte getätigt werden. (4.) Ihr gehäufter Besitz ist eine erstklassige Sicherheit für Kredite, weshalb viele Vermögende zur Finanzierung von Großprojekten Kredite aufnehmen können, deren Zinsen sie wiederum als Betriebsausgabe von ihren Steuern absetzen können. Natürlich erwerben auch Angehörige der unteren 99 % der deutschen Bevölkerung Aktien, etwa als Vorsorge für ihre Rente. Ein solcher Streubesitz hat aber gewiss andere Auswirkungen auf die Unternehmenspolicy von Firmen als die Konzentration von Anteilen beim obersten Prozent. Aber noch mehr ist möglich: Man kann die Aktie versichern, man kann Optionen erwerben, man kann auf die Entwicklung von Indices setzen, man kann eine ganze Reihe „innovativer Finanzprodukte“ auf ihnen aufbauen usw. Somit stehen Vermögenden mehr Möglichkeiten offen, Einkommen, Vermögen und Einfluss zu mehren, die Normalbürgern prinzipiell unzugänglich sind.

      Spricht man von (Markt-)Einkommens- und Vermögensungleichheit, so muss beachtet werden, ob Durchschnitts(Medium)- oder die Medianbeträge verglichen werden. Dies wird hinsichtlich des Einkommens erläutert: Das nationale Durchschnittseinkommen wird durch das Zusammenrechnen aller