Zweitens spreche ich vom Wissenschaftsverständnis, das für mein Dafürhalten die Voraussetzung für den Hinweis auf die Verwiesenheit „wissenschaftlicher“ Theologie auf Philosophie und für die damit implizit formulierte Forderung nach einem interdisziplinären Gespräch zwischen beiden Disziplinen bildet. Hierzu auch ein kurzes Wort.
Zweifellos drücken dieser Hinweis und die damit verbundene Forderung ein berechtigtes Anliegen aus. Das ist nicht meine Frage. Worauf ich kritisch aufmerksam machen möchte, ist ein anderer Aspekt, der sich, wie gesagt, aus dem hier implizit wirkenden Wissenschaftsbegriff ergibt. Auch wenn uns heute das vorgebrachte Anliegen des interdisziplinären Gesprächs nicht nur logisch, sondern zudem gar wünschenswert erscheinen mag, so muss doch andererseits bedacht werden, dass es nur unter den Bedingungen eines bestimmten Wissenschaftsbegriffes und seiner Kultur wissenschaftlichen Arbeitens als sinnvoll und notwendig erscheint.
Auch an dieser Stelle hätte man methodische und inhaltliche Relativierungen und/oder Einschränkungen zumindest andeuten sollen. Es sei denn, wie mein Verdacht eben unterstellt, man lässt sich dabei doch von einer Auffassung von Wissenschaft leiten, zu deren Selbstverständnis gerade die Vorstellung gehört, dass menschliche Erkenntnis, will sie „exaktes“ Wissen hervorbringen, sich in methodisch autonomen und so auch mit in ihrem Erkenntnisinteresse reduzierten Rationalitätsformen arbeitenden „Fachdisziplinen“ spezialisieren muss. Nach dieser Auffassung, die ich für eine moderne europäische halte, ist Wissenschaft, worauf bereits Martin Heidegger4 hingewiesen hat, Forschen, und zwar spezialisiertes, disziplinmäßiges Forschen. Und das besagt weiter, dass wissenschaftliche Forschung ihr Wissen durch Isolieren und Abstrahieren gewinnt, was wiederum bedeutet, dass ihr Wissen einseitig ist, wie Max Weber zugegeben hat.5
Im Horizont der Vorherrschaft dieses Wissenschaftsbegriffes muss daher der Gedanke der Interdisziplinarität entstehen. Und er entsteht gerade als der Gedanke einer Perspektive für die Reparatur der Fragmentierung menschlicher Erkenntnis. Dort aber, wo Wissenschaft diese neuzeitliche mitteleuropäische „forschende“ Wendung nicht mitvollzieht, ist dieser Gedanke alles andere als selbstverständlich.6 Der Rekurs darauf sollte also erklärt und sein Anliegen im Spiegel anderer ganzheitlicher Wissenschaftskulturen überprüft werden.7
Aber im Rahmen dieser Bemerkung ist es nicht nötig, weiter auf das nach meiner Leseart hier vorausgesetzte Wissenschaftsverständnis einzugehen, zumal mit meiner diesbezüglichen kritischen Anfrage keine grundsätzliche Debatte über den heute vorherrschenden Wissenschaftsbegriff intendiert wird, sondern lediglich diese punktuelle These zur Diskussion gestellt werden soll: Die Erörterung der Frage, die im Mittelpunkt des Symposiums steht, verlangt die Überwindung des Verstehenshorizonts, der die Forderung nach einem interdisziplinären Gespräch zwischen Philosophie und Theologie nötig macht, weil die Frage „was fehlt?“, wenn wir sie richtig stellen, weder nach Wissenssegmenten noch nach Realitätssegmenten noch nach der Möglichkeit der Akkumulation fragt. Aber wissen wir, was wir fragen, wenn wir fragen, „was fehlt?“? Das ist mein zweiter Punkt.
3.Besinnung auf den Sinn der Frage: „Was fehlt?“
Gegen Ende der Vorbemerkung, mit der die vorliegenden Ausführungen eingeleitet wurden, habe ich kurz auf die Gründe hingewiesen, weshalb beim Zugang zur Frage „was fehlt?“ meine Betrachtungen die Sicht der interkulturellen Philosophie voraussetzen. Dabei wurde der Grund hervorgehoben, dass ein zentrales Anliegen interkultureller Philosophie gerade darin besteht, die für Denken und Erkenntnis wohl konstitutive Dimension der Kontextualität nicht als Erklärung für die regionale Isolierung der Denkarten und ihrer Fragen zu interpretieren, sondern sie im Gegenteil als Bedingung für die Kommunikation und für die Suche nach einer intensiven Universalität neu zu verstehen.8 Am Leitfaden dieses Gedankens, der – wie mir scheint – auch Impulse für die geschichtliche Verwirklichung der Idee der Katholizität geben kann, soll im Folgenden versucht werden, einige Momente darzustellen, die dazu beitragen sollen, den Sinnhorizont und damit auch die Erfahrungsmöglichkeiten der Frage „was fehlt?“ zu erweitern.
Es geht, anders ausgedrückt, um Hinweise, die sozusagen „von einem anderen Ufer“ her kommen und die dazu anregen möchten, sich der Frage „was fehlt?“ als einer Frage anzunähern, die zur Teilhabe an einer Sinnsuche herausfordert, die ihrerseits uns als Fragende eben dieser Frage zu einer Bewegung der Überschreitung der Grenzen kontextueller Zugänge und ihrer verengenden Grenzziehungen – hier insbesondere jene, die durch einen europäisch-deutschen sozialpolitischen und wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund geprägt sind – veranlasst. Und es dürfte dabei klar sein, dass diese Bewegung, die der Teilhabe an der in der Frage „was fehlt?“ drängenden Sinnsuche Gestalt gibt, nicht auf eine die Kontextualität verleugnende „Überführung“ der Frage ins Abstrakte abzielt, sondern vielmehr darauf, sie als eine Grundfrage zu verstehen, die in jedem Kontext die Latenz des Rufes dessen hütet, was in der abendländischen Philosophie seit Plato als Indikation der möglichen Fülle menschlicher Existenz in Erinnerung gebracht wird.9 Diesem möglichen Missverständnis wollte ja der Hinweis auf das Verständnis von Kontextualität in der interkulturellen Philosophie vorgreifen.
In diesem Sinne folgen nun die angesprochenen Momente, die, wie ich betonen darf, vor dem Hintergrund des Gesagten in den kritischen Anmerkungen zu den im „Einführungstext“ zur Frage des Symposiums vermuteten eurozentrischen Voraussetzungen formuliert werden, und zwar in ergänzender Absicht. Es sind die Folgenden:
3.1 Besinnung auf die Geschichtlichkeit der Frage
Freilich fragt das Symposium nach dem, was Theologie heute in „spätmodernen Zeiten“ fehlt, aber Theologie, die ihre Tradition nicht ganz vergessen hat, muss auch wissen, dass sie dabei eine Frage wiederholt, die wesentlich zu ihrer eigenen Geschichte gehört. Angesagt wäre daher zunächst, über die Geschichte der Frage nachzudenken, um so bewusst in Erinnerung rufen zu können, warum und wie Theologie (als „zweiter Akt“ der Glaubenspraxis einer Gemeinschaft10) in ihrer Geschichte um eine Antwort auf die Frage „was fehlt?“ ringt.
Wie viele Reformbewegungen und Erneuerungsansätze, angefangen bei der franziskanischen Armutsbewegung bis hin zur Theologie der Befreiung, zeigen, drückt sich in der Frage „was fehlt?“ eine Erfahrung des Unbehagens und der Revolte aus. Sie kann deshalb als ein Leitfaden in der Geschichte der Theologie betrachtet werden, um die Rebellion des (theologischen) Logos vor dem „Status quo“ in Welt und Kirche historisch zu rekonstruieren. Die Besinnung auf die Geschichte der Frage „was fehlt?“ würde so verdeutlichen, wie diese Frage zum Ringen der Theologie um ihr eigenes Selbstverständnis gehört, vor allem jedoch hätte sie für heutige Theologie die Konsequenz, dass beim Wiederholen der Frage diese mit dem tradierten Anliegen der Revolte konfrontiert wäre.
3.2 Besinnung auf die Kontextualität der Frage
Wer um die Geschichtlichkeit menschlicher Fragen weiß, der hat auch ein Bewusstsein davon, dass die jeweilig eigene Lebensgegenwart der Menschen die Kontextualität ihres Lebens und der Fragen, denen sie sich zu stellen haben, nicht erschöpft. Kontextualität – weil sie, wie bereits angemerkt, auch mit memoria zu tun hat – ist je mehr als nur faktische Gegenwart. Das gilt insbesondere für die Kontextualität philosophischer und theologischer Fragen, wie eben diese nach dem, was fehlt. Besinnung auf die Kontextualität der Frage soll also hier verhindern, dass man als Konsequenz der allgemeinen Auswirkungen der „Fortschrittsideologie“ allzu schnell die Tragweite der Frage „was fehlt?“ allein vom Kontext der eigenen Gegenwart her bestimmt, indem man eben lernt, ihren Sinn im Zusammenspiel von Tradition und Gegenwart herauszulesen.
3.3 Besinnung auf die Qualität der Frage
Gerade im faktischen Kontext einer Gegenwart, die sozialpolitisch durch die kapitalistische „Warenstruktur“11 der Gesellschaft und die daraus folgende Verdinglichung aller Verhältnisse menschlichen Lebens, die nur das Fehlen von „Dingen“ bzw. Waren kennt, und wissenschaftlich durch Erkenntnisinteressen und Methoden geprägt wird, die das Empirische,