Karin Seethaler

Zum Einklang finden mit sich und den anderen


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Dasein ist von positiven Beziehungserfahrungen getragen, denn kein Säugling würde ohne positive Zuwendung überleben. Doch jeder weiß auch von schmerzhaften Erfahrungen zu berichten, von fehlender oder nicht genügender Liebe oder von einer Liebe, die an Bedingungen geknüpft war. Man erhielt zum Beispiel Zuwendung nicht immer dann, wenn man sie gebraucht hätte, oder bekam sie vielleicht erst dann, wenn man die Erwartungen anderer erfüllte oder gute Leistungen vorweisen konnte. So legen das Leben und auch wir selbst die unterschiedlichsten Schleier auf unseren innersten Schatz, wodurch der unmittelbare und direkte Zugang zu ihm erschwert wird. Doch was Gott in uns begonnen hat, das wird er auch vollenden (Phil 1,6; Phil 2,13); denn „unser einmaliger, unantastbarer Wesenskern ist frei und unablässig in uns am Werk“8. Unsere Aufgabe ist es, im Laufe unseres Lebens allem, was sich auf diesen Wesenskern gelegt hat, im Namen Jesu zu begegnen. Nach und nach werden so all die Schleier entfernt, die ihn verdecken. Dies ist ernüchternd und zugleich zutiefst befreiend und lässt uns immer tiefer erfahren: Wir sind Kinder Gottes und genau so, wie wir sind, bereits jetzt, zutiefst von Gott geliebt (Kol 3,12).

      Im Nachfolgenden geht es um die Beziehung zu uns selbst. Sie ist die Grundlage, auf der unsere Beziehung zu Gott und zu den Mitmenschen aufbaut.

       1. Meinem Körper Achtsamkeit schenken

       Wir dürfen nicht vergessen, dass wir keine Engel sind, sondern einen Körper haben. Engel sein zu wollen, solange wir auf dieser Erde weilen – und so fest auf der Erde stehen wie ich – ist Unsinn. (Teresa von Ávila)

       Die Meditation beginnt mit der bewussten Wahrnehmung meines Körpers, der von Anfang an Aufmerksamkeit einfordert. Wenn ich zum Beispiel einen Sitz einnehme, der nicht meiner körperlichen Konstitution entspricht, reagiert er mit Schmerz. Deshalb wähle ich den Sitz, der es mir ermöglicht, still und bewegungslos, mit einem entspannt aufrechten Oberkörper zu meditieren. Manchmal wird davon ausgegangen, dass für die Meditation ein Sitz auf einem Hocker, auf Decken oder auf einem Kissen besser wäre, als erhöht auf einem Stuhl zu sitzen – oder dass der Lotussitz die optimale Sitzposition sei und ein Erkennungsmerkmal für sogenannte spirituell Fortgeschrittene. Dies muss jedoch in keiner Weise der Fall sein. Denn nicht die äußere, sondern die innere Haltung ist wesentlich beim Meditieren. Die äußere Haltung ist insofern bedeutsam, als ich mit einem Oberkörper, der sich selbst aufrecht hält, die innere Aufmerksamkeit und eine wache Präsenz unterstütze. Mit einem aufgerichteten Oberkörper kann ich sowohl auf einem Hocker, einem Kissen, auf zusammengefalteten Decken oder einem Stuhl meditieren. Wenn ich auf einem Stuhl sitze, achte ich darauf, dass die Unter- und Oberschenkel in etwa einen rechten Winkel bilden. Vielleicht ist es hierfür notwendig, eine Decke unter die Füße zu legen. Die Augen sind geschlossen. Wenn es für mich stimmiger ist, sie geöffnet zu halten, ruht mein Blick auf einem Punkt am Boden ungefähr zwanzig Zentimeter vor mir.

       Wenn ich stabil und aufrecht sitze, nehme ich zunächst den Kontakt zum Boden wahr, der mich trägt und hält. Nacheinander achte ich dann auf die einzelnen Körperteile, angefangen von den Fußsohlen bis hin zum Scheitel. Diese Körperwahrnehmungen führen mich bereits zur Wahrnehmung des Gegenwärtigen. Ich achte einige Augenblicke darauf, wie mein Atem kommt und geht. Dabei ist es unwichtig, ob ich regelmäßig oder unregelmäßig atme, ob mein Atem tief oder flach ist, denn so wie ich atme, darf ich atmen. Es wird nicht vorgegeben, wie ich etwas spüren oder wahrnehmen soll, was zum Beispiel beim autogenen Training der Fall ist. In der Meditation verzichte ich darauf, etwas zu suggerieren, und öffne mich stattdessen meiner Einzigartigkeit. Ich nehme wahr, was ich im Augenblick tatsächlich empfinde – und nicht, wie ich meine, dass ich empfinden sollte. Mit der konkreten Körperwahrnehmung komme ich in Kontakt und in Beziehung zu mir selbst. Diese spürbare Verbindung zu mir sind die Grundlage und der Beginn für meine Hinwendung zu Gott.

      Es mag seltsam klingen, dass es heute eine der wichtigsten Aufgaben im Alltag ist, „mit sich selbst in Kontakt zu bleiben“. Man geht selbstverständlich davon aus, stets in Kontakt zu sich selbst zu sein. Schließlich ist man ja immer mit sich selbst und nimmt seinen Körper überallhin mit. Folgende Begegnung macht deutlich, dass dies nicht unbedingt der Fall sein muss.

      Die Teilnehmenden von Straßenexerzitien bekamen die Aufgabe, sich auf eine besondere Erfahrung einzulassen. Sie sollten ohne Geld einen Tag lang in einer Großstadt verbringen. Ein Teilnehmer traf auf einen Drogenabhängigen, der ihn unvermittelt fragte: „Hast du mal ’n Euro?“ Er antwortete: „Nein, ich habe nichts, außer mich selbst!“ Darauf erwiderte der Drogenabhängige: „Dann hast du mehr als ich!“ Es leuchtet jedem ein, dass das zerstörerische Potenzial einer Droge einen Selbstverlust noch verstärkt. Jedoch – und dies wird unterschätzt – belasten auch ein permanenter Leistungsdruck und ein damit einhergehender Zeitdruck sowie eine Reizüberflutung, bei der man beständig mehr aufnimmt, als man verarbeiten kann, nicht nur zwischenmenschliche Beziehungen, sondern sie trennen den Menschen auch schleichend von einem spürbaren Kontakt zu sich selbst und von seiner Leiblichkeit. Dies äußert sich zum Beispiel in einer Vernachlässigung der körperlichen Bewegung, in ungesunder Ernährung, weil man sich weder die Zeit zum Kochen nimmt noch dafür, in Ruhe die Mahlzeit einzunehmen. Man vergisst, ausreichend zu trinken, und schläft zu wenig. Die verlorengegangene Sensibilität für den Körper begünstigt den Raubbau an der eigenen Gesundheit, was wiederum Rückwirkungen auf das seelische Befinden hat: Man vernachlässigt es ebenso. Die Aufmerksamkeit kann so sehr nach außen verlagert sein, dass man gar nicht mehr auf sein inneres Befinden achtet. Die fehlende Körperwahrnehmung führt, wenn sie lange andauert, schließlich zu einer Selbstentfremdung. Jesus konfrontierte die Jünger mit der Frage: „Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt“ (Mk 8, 36)? Der hl. Augustinus fragte zu Recht: „Wenn du selber von dir fern bist, wie kannst du dann Gott nahen?“ Diese Fragen sollten wachrütteln und bewirken, einen Stopp einzulegen und das beständige Machen und Tun zu unterbrechen.

      Ich finde es sehr erstaunlich, dass die erste Frage, die Gott in der Bibel an einen Menschen stellte, lautet: „Wo bist du?“ (Gen 3,9). Für mich wäre es naheliegender, wenn Gott gefragt hätte: „Wo bin ich?“ Denn schließlich wusste Gott sehr wohl, wo sich Adam versteckt hatte, und es ist Aufgabe des Menschen, Gott in seinem Leben zu suchen. Doch Gott kann nicht gefunden werden, wenn der Mensch sich selbst verloren hat, da sich das Reich Gottes im Menschen selbst befindet (Lk 17,21). Wir sind von Gott bewohnt und sein Geist macht unseren Körper zum Tempel Gottes (1 Kor 3,16). Für diesen tragen wir Verantwortung. In den Medien und in der Literatur findet man heute zahlreiche Ratschläge dazu, wie wir gut für unseren Körper sorgen können und der Verantwortung für ihn gerecht werden. Ich möchte mich hier nur auf einige Fragen beschränken, die dazu anregen sollen, den Umgang mit den körperlichen Bedürfnissen zu reflektieren und achtsam für die Signale seines Körpers zu sein.

       Eine Empfehlung von Teresa von Ávila aus dem 15. Jahrhundert ist so aktuell wie eh und je. Sie lautet: „Tue deinem Leib etwas Gutes, damit deine Seele gerne darin wohnt.“ Was bedeutet diese Aussage für mich? Mit welchen konkreten Schritten trage ich bereits dazu bei bzw. kann ich dazu beitragen, dass meine Seele gerne in meinem Körper lebt? Wie oder wann setze ich diese Schritte in die Tat um?

       Schlafe ich ausreichend? Sorge ich für Bedingungen, die mir zu einem ruhigen Schlaf verhelfen? Dies bedeutet z. B., Medikamente nicht leichtfertig einzunehmen, bei Schlafstörungen zu versuchen, die Ursachen zu beheben; weder bis in die Nacht hinein zu arbeiten noch den Schlafrhythmus vom Fernseher bestimmen zu lassen; mir die Schlafdauer zuzugestehen, die mein Körper braucht.

       Nehme ich die Nahrung zu mir, die mir guttut? Nehme ich mir Zeit, in Ruhe zu essen? Achte ich darauf, dass ich genügend trinke?

       Sorge ich für ausreichende Bewegung?

       Lege ich Pausen im Alltag ein?

       Beachte ich die Signale meines Körpers oder übergehe ich sie?

       Nehme ich meine Gesundheitsvorsorge ernst?

       „Wo bin ich?“ Im Vielerlei des Alltags lasse ich immer wieder diese Frage in mir zu. Sie bewirkt ein kurzes Innehalten, das mir dazu verhilft, mein augenblickliches Befinden bewusst wahrzunehmen und mich zu Gott zu wenden.