Hans-Ulrich Weidemann

Einleitung in das Neue Testament


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Erfahrungen und andererseits einen bestimmten Interpretationshorizont dieser Erlebnisse voraussetzen, mit deren Hilfe diese verstanden und gedeutet werden. Diese Erfahrungen sind wichtiger als die Interpretationsmuster, obwohl erstere auf letztere angewiesen sind, weil sie sich sonst dem Verstehen des Menschen entziehen und derjenige, der die Erfahrungen macht, ohne solche vorgegebenen Interpretationsmöglichkeiten nicht einmal versteht, was ihm geschieht.

      Erfahrungen und deren Interpretationsmuster

      Augenzeugen

      Um welche Erfahrungen mag es dabei gehen? Um diese näher beschreiben zu können, ist es wichtig zu wissen, ob der Evangelist Augenzeuge Jesu gewesen ist oder ob er sich wenigstens auf Augenzeugen stützen kann, wobei natürlich nicht an Augenzeugen für das diesen nun einmal nicht zugängliche Phänomen der Jungfrauengeburt gedacht ist, sondern an Augenzeugen Jesu, also an Menschen, die auf eine umfassende Erfahrung mit dem irdischen Jesus zurückgreifen können. Wäre das der Fall, würde also die Aussage von der Jungfrauengeburt in einer Erfahrung mit der Person des irdischen Jesus gründen, so könnte sie sowohl in seinem Handeln, also in seinem Umgang mit den Menschen, in seinen Wundern oder in seiner Art zu sterben ihren Grund haben als auch in seiner Wort-Verkündigung, also im Inhalt seiner Botschaft. Dann wäre freilich zu fragen, wie die Hörer und Leser des Matthäusevangeliums nach Ostern zu dieser Erfahrung, die ja unwiederholbar und vergangen ist, einen Zugang finden und sie übernehmen konnten / können. – Das wäre ganz anders, wenn Matthäus kein Augenzeuge Jesu gewesen wäre und sich auch nicht auf einen solchen für seine Geschichte hätte stützen können, denn dann würden hinter Mt 1 und 2 ausschließlich Erfahrungen mit der Botschaft Jesu oder mit dem Glauben an Jesus stehen, zu denen sowohl die damaligen wie die heutigen Leser des Matthäusevangeliums, die keine Augenzeugen des historischen Jesus gewesen sind, wesentlich leichter Zugang finden würden als zu Erfahrungen, die auf dem lebendigen Umgang mit der Person Jesu basieren und auf diesen angewiesen sind.

      Vorkenntnisse

      Diese Überlegungen zeigen, dass zu einem adäquaten Verständnis biblischer Texte eine ganze Reihe von Vorkenntnissen nötig sind, z. B. die Klärung der Frage, ob hinter den Perikopen in den Evangelien Augenzeugen Jesu oder Menschen mit Glaubenserfahrungen stehen, oder gar Menschen, die über beides verfügten.

      Das Problem der Vorkenntnisse betrifft aber nicht nur die Überlieferungen, auf die die Evangelisten zurückgegriffen haben, sondern auch die Evangelisten und ihren Anspruch selbst. Was meint etwa Lukas, wenn er im Vorwort zu seinem Evangelium schreibt, dass er sich entschlossen habe, allem von Grund auf sorgfältig nachzugehen, um es der Reihe nach aufzuschreiben? Ist damit bewiesen, dass Lukas sich in unserem Sinne wie ein Historiker verstand, oder einfacher, dass er jedenfalls mit dem Anspruch auftrat, alles in seinem Werk Geschilderte solle für historisch gehalten werden? Und sind wir verpflichtet, diese Ansicht des Lukas zu übernehmen, oder darf man diese Ausführungen im Vorwort des Lukas-Evangeliums im Sinne einer deklaratorischen Formel verstehen, wie sie antike und auch moderne Schriftsteller nicht nur im Vorwort gebrauchen, um Aufmerksamkeit für ihr Werk zu gewinnen, ohne dass man die Formulierungen auf die Goldwaage legen darf? Besagt die von Lukas gewählte Formulierung mehr, als dass er die von ihm gewählte Art des Evangeliums für geeignet hielt, sich „von der Zuverlässigkeit der (christlichen) Lehre (zu) überzeugen“ (Lk 1,4)?

      Mit diesen Überlegungen sind wir unversehens von der Frage nach der Bedeutsamkeit der Bibel für den heutigen Menschen zum Problem des Verstehens der Bibel überhaupt hinübergewechselt, was sicher nicht von ungefähr kommt, denn die Frage nach der Bedeutsamkeit der Bibel für den heutigen Menschen kann ja nicht unabhängig von der Frage des Verstehens entschieden werden. Texte, die man nicht versteht, können, zumindest in der Regel, nicht bedeutsam werden, und das Bemühen um das Verständnis eines schwer verständlichen Textes setzt die Vermutung der Bedeutsamkeit dieses Textes voraus. Diese Bedeutungsvermutung sollte für eine Theologie, die sich christlich nennt, hinsichtlich der Bibel gegeben sein, insofern könnte die gestellte Frage nach der Bedeutsamkeit der Bibel auch auf sich beruhen bleiben. Versucht man gleichwohl eine Antwort, die nicht einfach und ausschließlich auf die Behauptung, die Bibel sei Offenbarungsurkunde, abhebt, so wird man u. a. darauf abstellen können, dass der Mensch die Wahrheit nicht selbst produzieren kann, sondern sie sich schenken lassen muss, dass er sich sagen lassen muss, wie Leben gelingen kann und wie es misslingt.

      Vermutung der Bedeutsamkeit

      Insofern viele und ernsthafte Menschen die Antwort auf diese Fragen in der Bibel gefunden haben, lohnt es sich vielleicht doch, einmal genauer hinzuschauen, was die Bibel sagt und was sie will. Die hinter der Jungfrauengeburt stehende und in ihr sich artikulierende Erfahrung von Menschen, wahrscheinlich sogar des Evangelisten Matthäus selbst, dass in Jesus und seiner Botschaft Gott zu den Menschen spricht, dass hinter dem Jesusgeschehen in einer Weise Gott steht, wie es sonst nur selten oder nie der Fall sein mag, z. B. hat Menschen vieler Generationen überzeugt und ihnen geholfen, mit Hilfe der Botschaft Jesu das Leben zu bestehen. Oder die in dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16) artikulierte Erfahrung, dass Gott einer ist, der dem Menschen zugetan, der um ihn unabhängig von dem, was er „bringt“, bemüht ist, hat ebenfalls viele Menschen überzeugt und ihnen das Leben zu meistern geholfen, die das Lied „Was Gott tut, das ist wohlgetan“ aus Zweifel lieber nicht mitsingen.

      Um die Klärung solcher Vorfragen, die für das adäquate Verständnis der Bibel, hier speziell des Neuen Testaments, von Bedeutung sind, soll es im Folgenden gehen.

§ 1Die Fragen der „Einleitung in das Neue Testament“

      Die fünf W-Fragen

      Diese Fragen zu stellen, obliegt im Kanon der Wissenschaften der sog. „Einleitung ins Neue Testament“, weswegen man auch von Einleitungsfragen spricht. Darunter versteht man traditionellerweise die Fragen nach dem Verfasser, nach der Entstehungs- und Adressatengemeinde, nach der Abfassungszeit und nach dem Abfassungsgrund einer neutestamentlichen Schrift, die man auch als die fünf W-Fragen bezeichnen kann: Wer schreibt wann, wo, wem und warum, wobei in die Antwort auf das Warum in der Regel noch eine Zusammenfassung der Theologie des jeweiligen Schreibens integriert ist. Aber heutige Einleitungswissenschaft wird sich nicht notwendig auf diesen Fragekanon beschränken können, sondern den Versuch wagen müssen, nach Möglichkeit alles für die Einzelinterpretation Notwendige bereitzustellen.

      Viele unterschiedliche Ansichten – nicht nur in der Exegese

      Bevor damit begonnen wird, muss freilich auf einige Einwände gegen die vorgetragenen Ansichten eingegangen werden, damit wir uns wenigstens am Ausgangspunkt auf einigermaßen sicherem Boden befinden. Der Grund wird bei der Behandlung der Probleme im einzelnen noch, wie häufig bei antiken Texten, schwankend genug werden, wie es überhaupt ein Problem der exegetischen Wissenschaft ist, dass es zu praktisch allen Meinungen immer auch mindestens eine Gegenmeinung gibt. Allerdings sollte man sich hüten, dies für ein Spezifikum der Bibelwissenschaft zu halten. Es handelt sich dabei offensichtlich um ein Kennzeichen modernen Wissens. Ich vermute, dass man das, wenn nicht an allen Wissenschaften, so doch an vielen Wissenschaften zeigen könnte, und nenne hier nur zwei Beispiele dafür aus der Ökonomie der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts:

      Während in der schwierigen wirtschaftlichen Lage der Bundesrepublik in den 90er Jahren viele Sachverständige vom englischen Wunder und vom amerikanischen Weg sprachen und damit in England das vorbildhafte Herunterfahren der Lohnkosten sowie in Amerika das ebenso vorbildliche Schaffen von zahlreichen neuen „Jobs“ in der Dienstleistungs-„Industrie“ meinten, konnte man gleichzeitig die Meinung vertreten finden, die Produktivität pro Lohnstunde sei in Deutschland höher als in England. Nach dieser Ansicht waren damals die Lohnstückkosten in Deutschland viel niedriger als in England, und was die Dienstleistungen angeht, so konnte man die Ansicht vertreten finden, man habe in Deutschland nur eine falsche Statistik. In Wahrheit wäre der Dienstleistungssektor in Deutschland in den letzten zehn Jahren viel stärker gestiegen als in Amerika, und der Unterschied bei den in Dienstleistungsunternehmen Beschäftigten habe damals zwischen beiden Ländern nur bei