Hans-Ulrich Weidemann

Einleitung in das Neue Testament


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      Der Begriff Evangelium begegnet in der LXX dreimal, aber nie im Singular (zusätzlich einmal in der weiblichen Form), und trägt dort keine theologische Bedeutung. Auch das hebräische Äquivalent (besorah) hat keine theologische Prägung. Da die Rabbinen das Wort sowohl für eine gute als auch für eine schlechte Nachricht benutzen können, gibt es auch bei ihnen vom Substantiv keine Brücke zum neutestamentlichen, eindeutig positiven und theologisch gefüllten Gebrauch des Wortes Evangelium. Das ist allerdings beim Verb anders. Dieses begegnet im Alten Testament nicht nur häufiger, sondern wird dort, wenn auch bei weitem nicht in allen Belegen, mitunter in einem theologisch gefüllten Sinn verwendet. Vor allem in Jes 52,7;60,6;61,1 liegt ein solcher Gebrauch für die Ankündigung eschatologischen Heils vor. Das Neue Testament zitiert Jes 52,7 (und 61,1) häufiger und verweist schon dadurch evtl. auf das Verb als Brücke. In die gleiche Richtung weist auch 1 QH 23(18),14.

      1.2.2 Die Ableitung des Begriffes „Evangelium“ aus dem Kaiserkult

      Der gemischte pagane Befund

      In der griechischen Literatur ist das Wort bereits seit Homer bekannt und meint dort sowohl die (gute) Nachricht, z. B. die Siegesnachricht, als auch den Lohn für den Überbringer dieser Nachricht. Es kann daneben auch die Opfer, die man zum Dank für eine solche gute Nachricht darbringt, bezeichnen („euangelia“ opfern). Aber eine theologische Bedeutung kommt dem Begriff in dieser Literatur ebenso wenig zu wie in der LXX. Das ist anders in späteren Texten, die in den Bereich des Kaiserkultes gehören und in denen das Wort Evangelium im Plural für die Nachricht z. B. von der Geburt des Kaisers, vom Ende des Krieges oder vom Anbruch einer neuen Zeit begegnet. Am bekanntesten ist das Zitat aus der Kalenderinschrift von Priene aus der Zeit um 9 v. Chr.: „Der Geburtstag des Gottes hat für die Welt die an ihn sich knüpfenden Freudenbotschaften heraufgeführt“ (eine andere Übersetzung lautet: „die durch ihn der Welt gebrachten frohen Botschaften“). Hier und z. B. später auch bei Josephus bezeichnet unser Wort ein für die Bevölkerung des Reiches heilbringendes Ereignis bzw. die Ankündigung einer neuen Heilszeit auf Erden.

      Kalenderinschrift von Priene

      1.2.3 Der Begriff „Evangelium“ und seine mehrfachen Wurzeln

      Diskussion

      Gegen die Verwandtschaft des neutestamentlichen Evangeliumsbegriffes mit beiden Verwendungen sind Einwände vorgetragen worden. Hat die alttestamentliche jüdische „Ableitung“ schon wegen des Fehlens eines theologischen Gehalts bei den wenigen Belegen für das Substantiv deutliche Probleme, so wird der Ableitung aus dem Kaiserkult entgegengehalten, dass an den betreffenden Belegstellen (jedenfalls im ersten Jahrhundert) gerade nicht der Singular wie im Neuen Testament, sondern nur der Plural begegne, dort eindeutig nur irdisches Heil gemeint sei und religiöse Rhetorik vorliege. Darüber hinaus müsse sich im Urchristentum eine Auseinandersetzung mit dem heidnischen Evangeliumsbegriff niedergeschlagen haben, wenn dieser von dort entlehnt worden wäre.

      In neuerer Zeit hat man sogar den Verdacht geäußert, die Entscheidung für die eine oder die andere Ableitung hänge weniger mit den vorliegenden Texten als von der leitenden Perspektive des jeweiligen Betrachters ab. Die neueste Lösung sieht vor, dass „Evangelium“ begriffsgeschichtlich aus dem angeführten Sprachgebrauch des ► Kaiserkultes in das Christentum Eingang gefunden, die speziell theologische Prägung aber über das Verb aus der Ersten Bibel und aus dem an die Person Jesu Christi gebundenen Begriffsinhalt in der Jesusbewegung erhalten habe (LThK3 3,1058). Ob die Übertragung des Begriffs auf die neutestamentliche Heilspredigt von Jesus Christus erklärt werden kann, indem auch auf den neutestamentlichen (und vorneutestamentlichen) Sprachgebrauch der Jesusbewegung rekurriert wird, wird weiter zu diskutieren sein.

      Kompromiss

      Vorbereitung durch den Kaiserkult?

      Im Mittelpunkt der Frage muss m. E. stehen, was die Verbindung dieses „christlichen“ Inhalts mit dem bereits außerchristlich vorgeprägten Begriff „Evangelium“ möglich gemacht hat. Angesichts der Tatsache, dass der Begriff im Kaiserkult geprägt vorliegt und er uns bereits in den ältesten Dokumenten des Neuen Testaments als feste Bezeichnung begegnet, im Alten Testament aber eine solche Prägung nicht erkennbar ist, ist eine Beeinflussung dieses Sprachgebrauches durch den Kaiserkult sehr gut möglich, wenn auch die Differenz zwischen Singular und Plural nicht übersehen werden darf. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Josephus, der freilich etwas später als die Synoptiker schreibt, den Singular in der Bedeutung „frohe Botschaft“ (BJ IV 10,6 § 618) kennt. Allerdings ist bei ihm „Evangelium“ keineswegs schon ein (religiöser) Terminus technicus, da er z. B. auch die Bitte um die Niederschlagung eines Aufstandes als „Evangelium“ bezeichnen kann (BJ II 17,4 § 420). Auch das Verb findet sich bei Josephus nur gelegentlich in theologisch gefülltem Gebrauch (Ant V. 8,2 § 277.282). Wieweit die Beeinflussung der neutestamentlichen Verwendung des Begriffes Evangelium durch dessen Gebrauch im Kaiserkult genau geht, ist allerdings noch keineswegs entschieden, sie könnte auch im Sinne einer Vorbereitung zu verstehen sein, indem die Menschen durch den Gebrauch im Kaiserkult mit dem Begriff vertraut wurden und dies die Übernahme des Begriffs erleichtert hat. Dabei könnte dann das im Alten Testament gebrauchte Verb durchaus auch eine Rolle gespielt haben.

      Die Bedeutung des irdischen Jesus für das Evangelium

      1.2.4 Die Bedeutung der Verbindung des Begriffes „Evangelium“ mit der Jesustradition

      Man muss Markus bei der Übertragung des Begriffs Evangelium auf die Worte und Taten Jesu nicht gleich eine historisierende Absicht unterstellen, aber die Tatsache, dass er diese als erster ausdrücklich zum Evangelium, also zur Predigt vom Heilsereignis in Jesus Christus, zählt, ist doch lebendiger Ausdruck für das Bewusstsein, dass sich Tat und Bedeutung Jesu nicht auf seinen Tod am Kreuz und vielleicht auf seine Menschwerdung reduzieren lassen. Auch Jesu Verkündigung ist und bleibt Evangelium, und die offensichtlich nicht wiederholbaren, weil in einer auch für Markus längst vergangenen historischen Situation lokalisierten Auseinandersetzungen mit Jesu Umgebung gehören zum Evangelium, um von den Wundern Jesu gar nicht eigens zu reden. Man hat für dieses Verhalten des ersten Evangelisten in der Vergangenheit unterschiedliche Titulaturen gefunden und z. B. in der Tatsache der Evangelienschreibung einen wichtigen Hinweis dafür gesehen, dass die Bedeutung Jesu Christi für den christlichen Glauben sich nicht auf das „Dass“ seines Gekommenseins reduzieren lässt, wie man die Glaubensformeln verstehen könnte. Besonders eindrucksvolle Formulierungen hat in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts Ernst Käsemann hierzu gefunden, von denen wenigstens zwei angeführt werden sollen:

      „Einig war man sich in dem Urteil, dass die Historie Jesu für den Glauben konstitutiv sei, weil der irdische und der erhöhte Herr identisch sind. Der Osterglaube hat das christlicheKerygma begründet, aber er hat ihm seinen Inhalt nicht erst und ausschließlich gegeben“ (203).

      „Denn wenn die Urchristenheit den erniedrigten mit dem erhöhten Herrn identifiziert, so bekundet sie damit zwar, dass sie nicht fähig ist, bei der Darstellung seiner Geschichte von ihrem Glauben zu abstrahieren. Gleichzeitig bekundet sie jedoch damit, dass sie nicht willens ist, einenMythos an die Stelle der Geschichte, ein Himmelswesen an die Stelle des Nazareners treten zu lassenOffensichtlich ist sie der Meinung, dass man den irdischen Jesus nicht anders als von Ostern her und also in seiner Würde als Herr der Gemeinde verstehen kann und dass man umgekehrt Ostern nicht adäquat zu begreifen vermag, wenn man vom irdischen Jesus absieht“ (196).

      Hier wird die theologiegeschichtliche Bedeutung der markinischen Idee genügend deutlich. Denn ob wir ohne ihn Evangelien im Sinne der Werke der vier Evangelisten hätten, ist keineswegs ausgemacht. Lukas nennt nicht zu Unrecht die Vorgängerwerke in seinem Vorwort. Die Bedeutung der Tatsache, dass und wie Markus als erster den Weg der Integration der Jesusworte und -erzählungen in das Evangelium gegangen ist und damit zum Wegbereiter für seine Nachfolger wurde, ist nicht leicht zu überschätzen.

      Die Bezeichnung der vier Evangelien als solche ist nicht der älteste Sprachgebrauch, vielmehr bezeichnet das Wort Evangelium bei Paulus die Heilspredigt vom Christusereignis und zusammenfassende Formeln der wichtigsten Heilsereignisse (1 Kor 15,3–7; Röm 1,1–4). Markus hat als erster, indem er diesen Begriff auf sein Werk angewendet hat, das Leben Jesu