Gerechten prägt nicht das ganze Evangelium
Nach dieser von D. Lührmann erarbeiteten These hat Markus das Motiv des leidenden Gerechten aus Weish 2,12–20; 5,1 ff. entnommen und nicht nur auf die Passionsgeschichte, sondern auf das ganze Werk übertragen. Deswegen hat Lührmann das Werk des Markus „Biographie des Gerechten als Evangelium“ genannt. Der Leser finde im Markusevangelium die typische Geschichte des Gerechten und erhalte damit die Möglichkeit, sich selbst im Schicksal Jesu wiederzufinden. – Der Einfluss des Motivs vom leidenden Gerechten auf die Passionsgeschichte ist unbestritten, dass dieses Motiv eine spezielle Gattung konstituiert, ist dagegen kaum wahrscheinlich zu machen. Darüber hinaus ist es als Motiv keineswegs für das ganze Evangelium leitend, wie man u. a. daran sehen kann, dass die markinische Christologie nicht ausschließlich durch Niedrigkeitsmotive, sondern auch durch Hoheitstitel gekennzeichnet ist.
2.3.4 Ableitungen der Gattung Evangelium aus griechisch-hellenistischer Literatur
2.3.4.1 Die Evangelien als Aretalogien
Keine Gattung „Aretalogie“ in der Antike
Mit diesem Terminus werden seit dem vierten Jahrhundert n. Chr. biographische Berichte mit moralischer Abzweckung bezeichnet, die mit zahlreichen Wundern des jeweiligen göttlichen Menschen oder des jeweiligen Gottes ausgeschmückt sind (von griechisch aretai; dieses Wort hat aber viele Bedeutungen, es kann neben den Wundern nicht nur die Tugend / Tüchtigkeit, sondern auch die Offenbarung / Erscheinung eines Gottes bezeichnen). Als charakteristisches Beispiel wird meist auf die von ► Philostrat im dritten Jahrhundert n. Chr. verfasste Vita des ► Apollonius von Tyana hingewiesen, die sich aber in dem Charakter einer Aretalogie nicht erschöpft, sondern auch biographische Züge aufweist. Dass es in der Antike die Bezeichnung „Aretaloge“ u. a. für die Deuter von Träumen und Visionen gegeben hat, ist unbestritten, jedoch ist im Altertum der Terminus Aretalogie im hier gebrauchten Sinn nicht bekannt. Die Arete (Tugend) konstituiert auch nicht eine eigene Gattung, sondern kann in vielen Gattungen gepriesen werden (z. B in Hymnen und im Roman). Die Idee, das Markusevangelium so zu klassifizieren, hängt u. a. mit der Annahme zusammen, dass eine der johanneischen Zeichenquelle (s. dazu unten § 9 Nr. 3.2) ähnliche Sammlung von Wundergeschichten dem Markusevangelisten als Quelle vorlag, deren Verbindung mit der Passionsgeschichte dann zur Form des Evangeliums führte. Da es bei den Griechen eine solche Gattung nicht gegeben hat, kann sie auch nicht als Vorbild für Markus angesehen werden. Darüber hinaus sind die Übergänge zwischen Aretalogie und Biographie fließend, da das Werk des ► Philostrat auch zu den Biographien gerechnet worden ist.
2.3.4.2 Die antike Tragödie und Tragikomödie und die Evangelien
Aufgrund des tragischen Ausgangs Jesu in den Evangelien hat man diese auch mit der antiken Tragödie verglichen bzw., weil das tragische Ende bei Jesus nicht das letzte Wort ist, mit der Tragikomödie. Im Grunde wird nach dieser letzteren Ansicht das Schicksal Jesu im Markusevangelium sowohl aus der Perspektive der Tragödie als auch aus der der Komödie betrachtet. Gegen diese Einordnung des Markusevangeliums ist geltend gemacht worden, dass nach der aristotelischen Poetik nicht die Tragödie mit ihrer schauspielerischen Darstellung, sondern allenfalls das Epos mit der Ausdrucksform der Erzählung als Parallele in Frage kommt. Für beide aber verlangt Aristoteles die Versform (vgl. Poetik 1 f.). Außerdem widerspricht der episodale Charakter des Evangeliums dieser Zuordnung.
2.3.4.3 Der antike Roman und die Evangelien
Der antike Roman als Gattung
Der Roman ist in der griechischen und römischen Literatur eine relativ spät auftauchende Gattung, die sich ab dem dritten Jahrhundert v. Chr. zunächst in der Gestalt des utopischen Reiseromans und später vor allem als Abenteuer- und Liebesroman ausbildete. Eine literarische Theorie für den Roman hat die Antike noch nicht entwickelt, allerdings gibt es Ansätze dazu bei Macrobius (um 400 n. Chr.) und Julian Apostata (Kaiser von 361–363 n. Chr.). Ersterer sieht Roman und Komödie zusammen und bezeichnet sie als Erdichtungen (fabulae), die dem Vergnügen und dem Genuss dienen sollen, weswegen er diese Gattung aus seiner Sicht als Neuplatoniker auch ablehnt. Julian sieht den Roman ebenfalls durch den fiktiven Charakter gekennzeichnet, und auch er lehnt ihn ab, weil diese Liebeserzählungen nach seiner Ansicht nur Begierden erwecken. Mit der Erkenntnis des fiktiven Charakters haben diese antiken Autoren bereits ein wichtiges Strukturelement des Romans erkannt. In neuerer Zeit wurden an Elementen, die die Gattung Roman in der Antike konstituieren, vorgeschlagen: der fiktionale Charakter der Erzählung vorwiegend in Prosa; die Bestimmung zum (Vor-)Lesen, also nicht zum Deklamieren; die leserfreundliche Form mit kunstvollen Strukturen; ein Sujet fast immer von nichtmythischem Charakter; nur lockere Bindung an die objektive Realität; teilweise fingierte Realität, oft mit illusionistischem Charakter, als Gegenbild zur Realität (Kuch 22 f.).
Bieten sich die zahlreichen Liebesromane der Antike trotz einer Reihe von Motivparallelen (u. a. Wunder, Leichenraub, Traumweisung, Gebären in hohem Alter, Erscheinungen, Vorhersage, Gestirnzeichen) schon vom Inhalt her kaum als Vorbild für die Gattung Evangelium an, so ist der ► Alexanderroman, dessen Stoff wie kein anderes Werk des Altertums in der Weltliteratur der späteren Zeit weitergelebt hat, als die engste Analogie zu den Evangelien bezeichnet worden. Dies kommt nicht von ungefähr, denn dieses Werk kommt mit den Evangelien in der episodischen Reihung der Erzählungen überein, die einzelnen Szenen werden auch hier mit Hilfe des Reisemotivs miteinander verbunden, und die Angaben zu Personen etc. sind ebenfalls vage; es gibt Wiederholungen und ► Dubletten, und auch Sprache und Stil zeigen eine Reihe von Ähnlichkeiten. Freilich gibt es auch Unterschiede im Formalen und Inhaltlichen: So finden sich in den Evangelien im Unterschied zum Alexanderroman keine Briefe; legenden- und märchenhafte Züge sind im Alexanderroman wesentlich mehr vertreten als in den Evangelien, dafür erscheint der Held im Alexanderroman nicht als Wundertäter. Schließlich spielen Beziehungen des Helden zu seinen Eltern und Lehrern eine wesentlich größere Rolle als in den Evangelien.
Sind so eine ganze Reihe von Ähnlichkeiten zwischen dem Alexanderroman und den Evangelien nicht zu leugnen, bestehen aber auch Differenzen, so sind die Evangelien sicher nicht durch einfache Übertragung der Roman-Gattung entstanden. Darauf weisen Übereinstimmungen der Evangelien mit einer weiteren Gattung hin, mit der der Biographie. Da sich biographische Züge auch im Alexanderroman finden, bestehen auch Überschneidungen zwischen ihm und der Biographie, weswegen man diesen auch einen biographischen Roman genannt hat.
Der Alexanderroman
2.3.4.4 Die antiken Biographien und die Evangelien
Die zahlreichen Ausprägungen der Biographie
Biographie vs Geschichtsschreibung
Moralische Abzweckung bei Plutarch
Hat man schon den antiken Roman als eine offene Literaturform bezeichnet, die sich nicht durch verpflichtende formale und stilistische Regeln definieren lasse, so gilt dies mindestens in gleichem Maße auch für die Biographie in der Antike. Für sie ist die Ausprägung in vielerlei Gestalten charakteristisch, wodurch eine nähere Beschreibung dieser Gattung nicht unerheblich erschwert wird, zumal ein großer Teil der zu dieser Gattung gehörenden Schriften nicht erhalten geblieben ist. Die Biographie hat sich bei den Griechen vielleicht schon seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. herausgebildet und ist von der Geschichtsschreibung zu unterscheiden. Versucht die Geschichtsschreibung, die Persönlichkeit des Heros in ihrer Zeit und damit die Zeit selbst besser zu verstehen und stellt zu diesem Zweck vornehmlich das politisch-militärische Geschehen dar, so ist die Biographie bei dem Hauptvertreter der Gattung, Plutarch (ca. 45 – nach 120 n. Chr.), allein am Charakter und der Moral des Helden interessiert. Es geht Plutarch bei seiner Darstellung um positive und nachahmenswerte oder um abschreckende Persönlichkeiten, wobei er dadurch eine totale Schwarz-weiß-Malerei vermeidet, dass er bei den positiv dargestellten Persönlichkeiten auch Fehler und bei den negativ dargestellten auch positive Züge einräumt. Seine Ziele unterscheiden sich von denen der Geschichtsschreiber, wie er selbst schreibt:
„Wenn ich in diesem Buche das Leben des Königs Alexander und das des Caesar, von dem Pompejus bezwungen wurde, darzustellen unternehme, so will ich wegen der Fülle des vorliegenden Tatsachenmaterials vorweg nichts anderes bemerken, als die Leser bitten, wenn ich nicht alles und jede der vielgerühmten Taten in aller Ausführlichkeit erzähle, sondern das