Hans-Ulrich Weidemann

Einleitung in das Neue Testament


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schriftstellerische Beziehungen zwischen den Evangelien machte. Nach seiner Meinung sind die Evangelien in der Reihenfolge abgefasst, wie sie heute im Neuen Testament stehen, und die jeweils späteren Evangelien sind in Kenntnis der früheren abgefasst worden. Das schließt eine eigenständige Gestaltung des jeweiligen Werkes durch den betreffenden Evangelisten allerdings nach Ansicht des Bischofs von Hippo nicht aus. Das Matthäusevangelium wäre danach also das älteste Evangelium. Die Tatsache, dass das Werk des Markus trotz seiner Benutzung des ersten Evangeliums als Vorlage wesentlich kürzer als dieses ist, wird von Augustinus auch bereits reflektiert und damit erklärt, dass Markus ein Exzerpt seiner Vorlage angefertigt hat. Allerdings könnten diese Ansichten Augustins leicht missverstanden werden. Er hält die Evangelisten trotz dieser Äußerungen sicher nicht für selbständige Schriftsteller, denn er schreibt:

       „quidquid enim ille [sc. Christus] de suis factis et dictis nos legere voluit, hoc scribendum illis [sc. evangelistis] tamquam suis manibus imperavit.“ „Denn was auch immer jener [sc. Christus] über seine Taten und Werke uns lesen lassen wollte, das ließ er von ihnen [sc. den Evangelisten] gleichsam wie von seinen eigenen Händen niederschreiben.“ (De cons. ev. I 35,54)

      Die modernen Hypothesen über die Entstehung und die Abhängigkeitsverhältnisse der Evangelien sind aber nicht einfach als eine Fortsetzung der augustinischen Überlegungen anzusehen.

      Übereinstimmungen zwischen Mt und Lk

      Allerdings ist mit den oben erwähnten Übereinstimmungen zwischen allen drei Synoptikern der Tatbestand der vorhandenen Ähnlichkeiten noch nicht genügend beschrieben, denn neben diesen Übereinstimmungen zwischen allen drei Synoptikern gibt es auch noch ganz starke, wörtliche Übereinstimmungen über längere Passagen ausschließlich zwischen den Werken des Matthäus und Lukas – zu diesen Abschnitten findet sich also bei Markus keine Parallele. Man kann sich einen Überblick über diese Ähnlichkeiten verschaffen, indem man Mt 3,7–10; 7,7–11; 11,4–11; 24,45–51 mit der jeweiligen Lukasparallele in einer Synopse vergleicht.

      Der doppelte Tatbestand

      Der Tatbestand, dessen Entstehung jede Erklärung der sog. synoptischen Frage zum Verständnis bringen muss, ist also ein doppelter: einmal die Ähnlichkeit zwischen allen drei Synoptikern, zum anderen die engen Übereinstimmungen zwischen dem Matthäus- und dem Lukasevangelium.

      Betrachtet man die Übereinstimmungen aller drei Synoptiker etwas näher, so fällt auf, dass das Markusevangelium immer in der Mitte zwischen dem Matthäus- und dem Lukasevangelium steht, das bedeutet: fast der gesamte Bestand des Markusevangeliums findet sich entweder im Matthäus- und im Lukasevangelium oder in einem von beiden: Das Matthäusevangelium bietet 90 % und das des Lukas 55 % des Markusstoffes.

      Markinisches „Sondergut“

      Statistische Betrachtung

      Reihenfolge der Perikopen

      Nur drei Perikopen (Mk 4,26–29 Das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat; 7,31–37 Die Heilung eines Taubstummen; 8,22–26 Die Heilung des Blinden von Bethsaida) und drei kurze Texte (Mk 3,20 f. Jesu Verwandte halten ihn für verrückt; 9,49 Das Salzen mit Feuer; 14,51 f. Das Fliehen des Jünglings) finden sich in keinem von beiden.

      Nach Versen gezählt bedeutet das: Von den 609 Versen des Markusevangeliums haben nur ca. 30 kein Äquivalent bei den beiden ► Seitenreferenten. Oder bezogen auf die Wörter: Von den 11 078 Wörtern des Markus begegnen bei Matthäus 8555, bei Lukas 6737. Nach einer etwas anderen Zählung der gemeinsamen Abschnitte benutzt Matthäus 7678 und Lukas 7040 Wörter von den 10 650 des Markusevangeliums, oder bezogen auf die Reihenfolge der Perikopen: Die Evangelien des Matthäus und Lukas stimmen in der Reihenfolge immer dann überein, wenn sie mit Markus übereinstimmen. Wenn sie von Markus in der Reihenfolge abweichen, stimmen sie auch untereinander nicht überein. Die Abweichungen beziehen sich im übrigen nur auf die erste Hälfte des Markusevangeliums, denn ab Mk 6,7 gibt es zwischen dem Evangelium des Matthäus, dem des Markus und dem des Lukas in der Reihenfolge praktisch keine Abweichungen. Zwar gibt es vor allem im Werk des Lukas erhebliche Auslassungen von Markus-Stoff (Mk 6,45–8,26 = sog. große Lücke) und auch große Einschübe (Lk 9,51–18,14 = sog. große Einschaltung, ohne Parallelen bei Markus oder Matthäus), aber diese Einschübe oder Auslassungen haben keine Umstellungen von Markus-Stoff zur Folge, wie man sich an den Perikopen-Übersichten in den Synopsen leicht verdeutlichen kann (vgl. z. B. Vollständige Synopse der Evangelien, 303 ff.). Insgesamt weicht das Matthäusevangelium überhaupt nur in 12 Fällen von der Reihenfolge des Markus ab, und auch bei Lukas liegen nur ganz wenige Abweichungen von der Markus-Reihenfolge vor: Die Reihenfolge von Mk 3,7–12 und 3,13–19 ist bei Lukas vertauscht, die Berufung der Zwölf, die bei Markus auf den Sammelbericht von den Heilungen folgt, geht diesem bei Lukas voraus. Ebenso verfährt Lukas mit der Geschichte von Jesu Verwandten (Mk 3,31–34). Diese geht bei Lukas nicht wie bei Markus dem Gleichniskapitel (Mk 4,1–25) voran, sondern folgt diesem. In 4,41 hat Lukas Mk 1,34 und 3,11 f. miteinander verbunden. Bei den Perikopen Mk 1,16–20 (vgl. Lk 5,1–11) und 6,1–6 (vgl. Lk 4,16–30) dürfte es sich dagegen nicht um eine Änderung der Reihenfolge handeln, da Lukas hier einer anderen Tradition folgt.

      Zwischen den drei synoptischen Evangelien gibt es zahlreiche Übereinstimmungen im Rahmen und in der Reihenfolge der Perikopen, in zahlreichen Perikopen finden sich auch wörtliche Übereinstimmungen von unterschiedlichem Umfang. Daneben gibt es auch eine ganze Reihe von Perikopen bei Matthäus und Lukas, in denen diese weitgehend wörtlich übereinstimmen, ohne dass zu diesen Perikopen eine Parallele bei Markus vorhanden wäre. Diesen doppelten Tatbestand gilt es zu erklären, wobei angesichts der großen Menge von wörtlichen Übereinstimmungen von vornherein mit schriftlichen Vorlagen zu rechnen ist. Allein mündliche Berichte können die zahlreichen wörtlichen Übereinstimmungen nicht erklären.

      Die Frage des Verhältnisses der Evangelien untereinander wurde mit dem Erwachen der kritischen Bibelwissenschaft seit der Mitte des 18. Jahrhunderts intensiv diskutiert, und an dieser Diskussion nahmen keineswegs nur neutestamentliche Exegeten teil, wie man beispielhaft an Lessings „Neue Hypothese über die Evangelisten als bloß menschliche Schriftsteller betrachtet“ von 1778 sehen kann. Dementsprechend wurde seit dieser Zeit auch eine Vielzahl von Hypothesen entwickelt. Von diesen seien einige kurz erläutert. Gemäß den oben bereits genannten zwei Möglichkeiten führt eine Reihe von Hypothesen die Ähnlichkeiten auf gemeinsame Vorlagen aller drei Evangelien zurück, hat dann natürlich gewisse Schwierigkeiten mit den Übereinstimmungen im Matthäus- und Lukasevangelium ohne Parallelen im Markusevangelium. Eine andere Hypothesenreihe rechnet nicht mit einer gemeinsamen Vorlage, sondern führt die Ähnlichkeiten auf direkte Kenntnis eines oder mehrerer Evangelien zurück.

      5.1 Hypothesen, die die Ähnlichkeiten zwischen den synoptischen Evangelien auf eine gemeinsame Quelle zurückführen

      Mündliches aramäisches Evangelium als Quelle

      a) Die Traditionshypothese: Hiernach hat sich schon bald bei den Aposteln in Jerusalem ein mündliches Evangelium in aramäischer Sprache herausgebildet und dieses hat die Synoptiker beeinflusst. Der dahinter stehende Gedanke der mündlichen Tradition ist zweifelsohne berechtigt. J. G. Herder hat erstmals darauf hingewiesen.

      Schriftliche Sammlungen als Quellen

      b) Die Fragmentenhypothese: Hier werden (z. B. von F. Schleiermacher) statt der nur mündlich überlieferten Vorlagen in der Traditionshypothese bereits schriftlich formulierte Quellen als Vorlagen für die Synoptiker angenommen, die aber nicht schon den Charakter von Evangelien trugen, sondern Sammlungen von bestimmten Gattungen waren, z. B. eine Sammlung von Wundergeschichten, von Reden, sowie der Passions- und Auferstehungsberichte.

      Übersetzungen einer Apostelschrift?

      c) Die Urevangeliumshypothese: Hier werden die synoptischen Evangelien als verschiedene Übersetzungen einer sehr alten Apostelschrift angesehen. Die Urevangeliumshypothese unterscheidet sich von der unter a) erwähnten Traditionshypothese durch die Schriftlichkeit der Vorlage, sie wurde z. B. von Lessing und J. G. Eichhorn vertreten.

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