Hans-Ulrich Weidemann

Einleitung in das Neue Testament


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auch sinnvoll sein. Matthäus, der großes Interesse am Thema des Glaubens hat (vgl. nur die Hinweise auf mangelnden Glauben der Jünger in Mt 6,30;8,26;14,31;16,8), lässt deswegen diese Bemerkung stehen, ohne zu merken, dass sie angesichts des Wegfalls des seiner häufig zu beobachtenden Kürzungstendenz zum Opfer gefallenen Aufgrabens des Daches (vgl. Mt 8,2 parMk 2,3–5) nun in der Luft hängt. Aber natürlich kann man – auf der Basis der Griesbach-Hy-pothese – nicht völlig ausschließen, dass Markus sich durch die etwas in der Luft hängende Bemerkung des Matthäus veranlasst sah, diese zu präzisieren. Aber insgesamt erscheint die Entwicklung von Markus zu Matthäus doch wahrscheinlicher.

      c) Noch deutlicher, aber gleichwohl ebenfalls nicht zwingend ist auch ein Beispiel aus dem Lukasevangelium: Lk 23,18 – diese Bemerkung des Lukas hängt völlig in der Luft, weil von dem Brauch, zu ► Passa einen Gefangenen freizulassen, bei Lukas weder vorher noch nachher die Rede ist, wohl aber in Mk 15,6 und Mt 27,15. Wie unverständlich der Zusammenhang ist, kann man schon daran erkennen, dass spätere Abschreiber sich genötigt sahen, eine entsprechende Erklärung in den Lukastext einzuschieben. Man kann sich von diesem Problem übrigens nicht durch den Hinweis befreien, der in Frage stehende Brauch sei damals allgemein bekannt gewesen und habe daher von Lukas an dieser Stelle nicht eigens erwähnt werden müssen. Denn es gibt keinen einzigen außerneutestamentlichen Hinweis dafür, dass es diesen Brauch überhaupt gegeben hat. Nach der Neo-Griesbach-Hypothese müsste Lukas die Bemerkung des Matthäus: „Jeweils zum Fest pflegte der Statthalter einen Gefangenen freizulassen“ ausgelassen, Markus sie aber wieder übernommen haben. Erklärt hier nicht der Markustext als Mitte zwischen den Evangelien des Matthäus und Lukas den Tatbestand besser? Der eine übernahm die Bemerkung des Markus, der andere ließ sie weg!

      d) Dass die erwähnten Perikopen des Markusevangeliums (Mk 7,31–37; 8,22–26) sowohl von Matthäus als auch von Lukas ausgelassen werden, lässt sich zumindest bei den zwei Wundergeschichten gut verstehen, da diese mit ihren Manipulationen einen eher anstößigen Eindruck erwecken, das Auslassen des Gleichnisses von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26–29) durch beide ► Seitenreferenten erschließt sich dagegen nicht so leicht dem Verstehen.

      e) Diese Schwierigkeiten sind aber – und das zu betonen ist sehr wichtig – auf dem Hintergrund der Griesbach-Hypothese wesentlich größer, weil dann plausibel erklärt werden muss, warum Markus auf so viel Material, wie er es bei Matthäus und Lukas vorfand, verzichtete, zumal die große wörtliche Übereinstimmung der beiden Evangelien in einem größeren Teil ihres Stoffes auf Markus ihren Eindruck nicht verfehlt haben wird, gerade dieser Teil (= Q) aus den Evangelien des Matthäus und Lukas bei Markus aber fehlt. Sollte Markus, von dem man ja begründet zumindest annehmen kann, dass er das Vaterunser gekannt hat, dieses in seinem Werk wirklich ausgelassen haben, wenn er es sowohl im Matthäus- als auch im Lukasevangelium las? Der Verzicht des Lukas auf Teile des Matthäusevangeliums (auf dem Hintergrund der Griesbach-Hypothese) ließe sich freilich eher nachvollziehen, da bei Lukas auch auf der Basis der Zweiquellentheorie mit größeren Auslassungen zu rechnen ist. Welche kaum vorstellbaren Verrenkungen aber diese Hypothese für die Arbeit des Markus verlangt, sei mit einem Zitat Morgenthalers veranschaulicht:

      Auffällige Mängel im Zusammenhang bei Lk

      Probleme der Neo-Griesbach-Hypothese

      „Warum sollte er (sc. Markus), falls er neben Mt noch Lk vor sich hatte, aus Harmonisierungsgründen noch so und so viele Texte ausgemerzt haben, die er bei Mt und Lk in nahezu 100 %igem Gleichlaut und im gleichen Kontext las, z. B. die Bußpredigt des Täufers (Mt 3,7–10; Lk 3,7–9)? Aber noch schlimmer: Warum sollte er Mt so radikal gekürzt haben, um gleichzeitig eine große Zahl der Perikopen, die er noch übernahm, mehr oder weniger stark zu erweitern?Die Jairusperikope hätte Mk nahezu verdreifacht, die Gerasener- und die Epileptikerperikope mehr als verdoppelt…“ (286).

      Dubletten und Doppelüberlieferungen

      f) Während auf der B asis der Zweiquellentheorie wirklich zahlreiche Arbeiten entstanden sind, die den Weg von Markus zu Matthäus bzw. Lukas plausibel beschreiben, sind entsprechende Arbeiten auf der Basis der neuen Griesbach-Hypothese bislang kaum vorgelegt worden. Soweit sie vorgelegt wurden, sind sie in der Regel, sogar auch von Verfechtern der Griesbach-Hypothese selbst, als unbefriedigend bezeichnet worden.

      g) Im Matthäus- und Lukasevangelium finden sich eine Reihe von ► Dubletten, d. h. von Texten, die der jeweilige Evangelist zweimal in sein Evangelium aufgenommen hat (vgl. dass Matthäus den Spruch vom Jonaszeichen in 12,39 in Parallelität zu Lukas und in 16,4 in einem markinischen Zusammenhang bietet; weitere Dubletten finden sich in Mt 5,32 parLk und 19,9 parMk, dem Verbot der Ehescheidung, und in 18,8 f. und 5,29 f., dem Wort vom Ärgernis, sowie in Mt 3,2/4,17; 16,19/18,18; 24,42/25,13; im Lukasevangelium bilden die Jüngeraussendungen in Kap. 9 und 10 eine Dublette) und eine Reihe von ► Doppelüberlieferungen, d. h. von Texten, die in zwei Evangelien unterschiedlich überliefert sind (vgl. z. B Mt 13,12/Mk 4,25/Lk 8,18 und Mt 25,29/Lk 19,26 „Wer hat, dem wird gegeben werden“ – vgl. dazu die Listen bei Morgenthaler 128 ff. 140 ff. 284 ff.). Angesichts der Tatsache, dass es im Markusevangelium nur eine solche Dublette gibt (Mk 9,35/10,43 f.), spricht auch das Vorliegen von mehreren Dublettenund Doppelüberlieferungen bei Matthäus und Lukas dafür, dass diese Evangelien später als das Markusevangelium entstanden sind. Nach der Neo-Griesbach-Hypothese müsste Markus als der letzte der Drei alle Dubletten beseitigt haben. Er hätte sich damit ganz anders verhalten als seine Vorgänger, die diese Scheu vor ► Dubletten / ► Doppelüberlieferungen offensichtlich nicht gehabt haben. Da bei diesen Dubletten und Doppelüberlieferungen mehrfach jeweils eine Fassung im markinischen Zusammenhang begegnet und die andere nicht, ist auch dieser Tatbestand ein Argument für die Mischung von zwei unterschiedlichen Traditionsbeständen und damit für die Zweiquellentheorie.

      h) Nach der (Neo-)Griesbach-Hypothese basiert ein Großteil der Übereinstimmungen zwischen Matthäus- und Lukasevangelium auf der Kenntnis des Matthäusevangeliums durch Lukas, und die erheblichen, teilweise über mehrere Zeilen identischen Wörter und Wortfolgen sollen zeigen, dass Lukas hier teilweise schlicht den Text des Matthäus übernommen hat. Kann diese Hypothese auf dem Hintergrund dieser Erkenntnis auch plausibel erklären, dass zwischen der Kindheitsgeschichte des Matthäus und des Lukas praktisch keine Übereinstimmungen bestehen, wenn man einmal von der Nennung Josephs und Marias als der Eltern Jesu absieht, und dass auch die matthäischen großen Reden im Lukasevangelium nicht vorkommen, sondern deren Material – wörtlich übereinstimmend – an ganz verschiedenen Stellen im dritten Evangelium auftaucht? Ob man sich für die Zwei-Quellen-Theorie entscheidet oder nicht, hängt unter anderem davon ab, ob man es für plausibler hält, dass Lukas den matthäischen Redenstoff in einzelne Teile zerschnitten und an verschiedenen Stellen seines Evangeliums untergebracht hat oder dass Matthäus und Lukas den Redenstoff in unterschiedlichen kleinen Einheiten in ihrer Quelle vorgefunden haben und dass Matthäus daraus im Gegensatz zu Lukas größere Redenkomplexe gebildet hat.

      Die Kindheitsgeschichten als Problem für die Neo-Griesbach-Hypothese

      Von daher erscheint die Zweiquellentheorie noch immer wesentlich plausibler als die (Neo-) Griesbach-Hypothese. Aber es gibt doch auch eine offene Flanke der Zweiquellentheorie, auf die hier abschließend noch eingegangen werden muss.

      6.2 Das Hauptproblem für die Zweiquellentheorie: Die kleineren Übereinstimmungen zwischen Matthäus und Lukas (sog. minor agreements)

      Übereinstimmungen zwischen Mt und Lk gegen Mk

      Neben den großen Übereinstimmungen zwischen Matthäus und Lukas, die die Zweiquellentheorie mit der Übernahme der Logienquelle Q erklärt, gibt es nämlich noch weitere sog. kleinere Übereinstimmungen zwischen den beiden Evangelien im mit Markus gemeinsamen Stoff, die es nach der Zweiquellentheorie eigentlich nicht geben dürfte, weil diese das Matthäus- und Lukasevangelium ja voneinander unabhängig entstanden sein lässt, und die insofern eindeutig ein ganz schwieriges Problem für die Zweiquellentheorie darstellen. Man wird der Bedeutung der minor agreements in keiner Weise gerecht, wenn man sie einfach als Randproblem apostrophiert und so von vornherein ihre Bedeutung mindert. Die Zahl der übereinstimmenden Fälle wird in der Literatur allerdings ganz unterschiedlich angegeben. Die Angaben schwanken zwischen 175 und 2354. Diese unterschiedlichen Zahlen hängen mit der Definition