Hans-Ulrich Weidemann

Einleitung in das Neue Testament


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seiner beiden Gewährsleute im Königstitel hier von diesen abgewichen sein soll.

      6.4 Die Mark-Without-Q-Hypothese

      Wenigstens kurz erwähnt werden muss hier noch die neuerdings wieder vorgetragene sog. Mark-Without-Q-Hypothese, die wie die Zwei-Quellen-Theorie davon ausgeht, dass das Markusevangelium das älteste Evangelium ist und Matthäus sowie Lukas dieses bei der Abfassung ihrer Werke kannten. Im Gegensatz zur Zwei-Quellen-Theorie leugnet diese Hypothese aber die Existenz von Q und nimmt stattdessen an, dass Lukas das Matthäusevangelium gekannt und Teile daraus übernommen hat. Hiergegen richtet sich freilich zu Recht die Frage, wieso der Evangelist Lukas die schönen matthäischen Reden zerschlagen haben soll? Die Übereinstimmungen zwischen Matthäus und Lukas lassen am ehesten auf eine gemeinsame Quelle schließen.

      6.5 Die Zweiquellentheorie als plausibelste Lösung

      Größte Plausibilität

      Die bei weitem größte Plausibilität spricht nach Meinung der überwiegenden Mehrheit der Exegeten für das Markusevangelium und die Logienquelle als Arbeitsgrundlage für Matthäus und Lukas, also für die Zweiquellentheorie. Ob diese das Markusevangelium in der uns heute vorliegenden oder in einer schon etwas weiter entwickelten Form vor sich liegen hatten und ob die Gestalt der Logienquelle Q auf dem Schreibtisch der beiden ► Seitenreferenten total identisch oder eher unterschiedlich (QMt und QLk) war, beschäftigt die Forschung weiterhin – ob sich die Frage eindeutig entscheiden lässt, wird die Zukunft zeigen müssen. Besonders plausibel ist diese Annahme hinsichtlich des Markusevangeliums wie dargelegt wohl nicht (zur Logienquelle vgl. unten § 4).

      Die Diskussion ist seit der dritten Auflage dieses Buches lebhaft weitergegangen und man kann fast den Eindruck gewinnen, hier könne mit Gründen eigentlich alles vertreten werden. Aber weder die Hinweise auf die Notwendigkeit einer stärkeren Berücksichtigung der mündlichen Tradition noch die Behauptung einer allen drei Synoptikern vorausliegenden gemeinsamen Tradition, z. T. verbunden mit einer Spätdatierung des Lukasevangeliums, vermögen die Probleme besser, das heißt mit weniger Unbekannten, zu lösen als die Zweiquellentheorie. Ob mathematisierte, „objektive“ Modelle wirklich Objektivität wiedergeben oder nur eine aus den zugrundeliegenden Prämissen resultierende Scheinobjektivität, ist angesichts des bekannt einseitigen Gebrauchs und der Scheinobjektivität von Statistiken weiter zu überprüfen. Auch die neuerdings (wieder) vorgetragene Hypothese, das Evangelium des Markion sei die älteste Evangelienschrift und habe allen anderen kanonischen Evangelien als Vorlage gedient, wird kaum schnell auf größere Anerkennung stoßen, weil hier schon aufgrund des Verlustes des ursprünglichen Textes und der daraus entspringenden Notwendigkeit der Rekonstruktion der Textgrundlage aus patristischen (z. T. lateinischen!) und anderen Schriften zahlreiche Textunwägbarkeiten entstehen. Allerdings wird man auch sagen müssen, dass solche steilen, dem mainstream total widersprechenden Hypothesen häufig, allerdings keineswegs immer, anregend sind und zu einem besseren Blick auf den Text verhelfen. – Eine grundlegende Voraussetzung für eine Annäherung der verschiedenen Standpunkte in der synoptischen Frage dürfte in der eindeutigen Festlegung von Kriterien für die minor agreements und deren Bewertung bestehen. Solange deren Anzahl um mehr als 2000 schwanken kann, kann man auch keine Annäherung der Standpunkte erwarten. Man darf die minor agreements weder überbewerten noch kleinreden.

      So wird auch das Fazit, mit dem A. Lindemann den neuesten Literaturbericht zum Thema beendet, mit Sicherheit weiter diskutiert werden. „Die mit der »klassischen« Hypothese (Mk-Priorität und Q) verbundenen »einfachen« Antworten auf die Synoptische Frage werden immer wieder problematisiert; aber eine plausiblere Hypothese, die tatsächlich allen Teilfragen gerecht wurde, wird offenbar nicht gefunden. Weder die Griesbach-Hypothese (Mt ► Lk ► Mk) noch die Farrer-Goulder-Hypothese (Mk ► Mt ► Lk) noch die Annahme, Mt sei literarisch von Lk abhängig noch die unterschiedlichen Annahmen eines »Deutero-Markus« gewinnen Zustimmung über das bisherige Umfeld hinaus. Erklärungsversuche, die mit einem stärkeren Gewicht der mündlichen Überlieferung rechnen, können die damit verknüpften oft sehr spekulativen Erwägungen naturgemäß nicht belegen, weil wir es zum einen ja eben nur mit schriftlichen Texten zu tun haben und weil zum andern diese Texte keinerlei Belege dafür bieten, dass es im Jüngerkreis Jesu und/oder im nachösterlichen Urchristentum ein Interesse am festen Wortlaut von Überlieferungen gegeben hat. Es gibt im Gegenteil Untersuchungen, durch welche die Hypothese der Mk-Priorität weitere Plausibilität erhält. Insofern wird man vielleicht doch von einem »Fortschritt« auf dem Weg zu einer Antwort auf die ‘Synoptische Frage’ sprechen dürfen. Ob eine Einbeziehung Marcions zu völlig neuen Einsichten führt, bleibt abzuwarten“ (S. 250).

      Die zwischen den Evangelien von Markus, Matthäus und Lukas einerseits und den Evangelien von Matthäus und Lukas andererseits bestehenden zahlreichen wörtlichen Übereinstimmungen haben zu unterschiedlichen Quellen-Hypothesen geführt, die alle den Tatbestand nicht ohne Probleme erklären können. Die wenigsten Aporien bestehen eindeutig bei der so genannten Zwei-Quellen-Theorie, die freilich zugegebenermaßen mit einer uns aus der Überlieferung nicht bekannten und nur zu rekonstruierenden Quelle rechnen muss. Nachdem aber in Nag Hammadi das ► Thomasevangelium eine der Rekonstruktion der Logienquelle sehr ähnliche Gestalt aufweist, ist die Hypothese der Existenz von Q glänzend gerechtfertigt. Allerdings verlangt das Vorliegen der circa 50 wichtigen kleineren Übereinstimmungen zwischen Matthäus und Lukas gegen Markus eine weitere Erforschung der Frage, ob diese nicht z. B. im Verlaufe der handschriftlichen Überlieferung entstanden sind.

       Literatur

      1. Synopsen

      1.1 In griechischer Sprache

      Synopsis Quattuor Evangeliorum, hg. v. K. ALAND, Stuttgart 151996; Synopse der drei ersten Evangelien mit Beigabe der johanneischen Parallelstellen, hg. v. HUCK, A. / GREEVEN, H., Tübingen 1981; Synoptic concordance. A greek concordance to the first three gospels in synoptic arrangement, statistically evaluated, including occurences in Acts 1–5, hg. v. HOFFMANN, P. u. a., Berlin 1999 ff.

      1.2 In deutscher Übersetzung

      Synopse zum Münchener Neuen Testament, hg. v. J. HAINZ, Düssseldorf 42010; Synoptisches Arbeitsbuch zu den Evangelien. Die vollständigen Synopsen nach Markus, nach Matthäus und Lukas. Bearbeitet und konkordant übersetzt von R. PESCH in Zusammenarbeit mit U. Wilckens und R. Kratz, Zürich u. a. 1980/1981; Vollständige Synopse der Evangelien. Nach dem Text der Einheitsübersetzung hg. v. O. KNOCH, Stuttgart 1988.

      2. Monographien und Aufsätze

      BLACK, D. A. / BECK, D. R. (Hg.), Rethinking the Synoptic Problem, Grand Rapids 2001; BELLINZONI, A. J. (Hg.), The Two-source Hypothesis, o. O. 1985; DOWNING, F. G., Disagreements of Each Evangelist With the Minor Close Agreements of the Other Two, in: EthL 80 (2004) 445–469; DUNGAN, D. L. (Hg.), The Interrelations of the Gospels (BEThL 95) Leuven 1990; ENNULAT, A., Die ‚Minor Agreements‘. Untersuchungen zu einer offenen Frage des synoptischen Problems (WUNT II 62) Tübingen 1994; FARMER, W. R. The Synoptic Problem, Dillsboro 1974; FENDLER, F., Studien zum Markusevangelium (GTA 49) Göttingen 1991; FLEDDERMAN, H. T., Mark and Q. With an Assessment by F. Neirynck (BEThL 122) Leuven 1995; FUCHS, A., Sprachliche Untersuchungen zu Matthäus und Lukas (AnBib 49) Rom 1971; ders., Spuren von Deuteromarkus Bd. I–IV, Münster 2004; ders., Zum Stand der Synoptischen Frage, in: SNTU 29 (2004) 193–245; GOODACRE, M., The Case against Q. Harrisburg 2002; KAHL, W., Erhebliche matthäisch-lukanische Übereinstimmungen gegen das Markusevangelium in der Triple-Tradition, in: ZNW 103 (2012) 20–46; KLINGHARDT, M., Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien. Bd. 1 Untersuchung. Bd. 2 Rekonstruktion, Übersetzung, Varianten (TANZ 60) Tübingen 2015; HENGEL, M., Überlegungen zur Logienquelle, zum Lukas- und zum Matthäusevangelium, in: Ders., Die vier Evangelien und das eine Evangelium von Jesus Christus. Studien zu ihrer Sammlung und Entstehung (WUNT 224), Tübingen 2008, 274–353; LAUFEN, R., Die Doppelüberlieferungen der Logienquelle und des Markusevangeliums (BBB 54) Königstein / Bonn 1980; LINDEMANN, A. (Hg.), The Sayings Source. Q and the Historical Jesus (BEThL 158) Leuven 2001; ders., Literatur zu den Synoptischen Evangelien 1992–2000 (I), in: ThR 69 (2004) 182–227; ders., Neuere Literatur zum „Synoptischen Problem“, in: ThR 80 (2015) 214–250; McIVER, R. K. / CARROLL, M., Experiments to Develop Criteria for Determining