Hans-Ulrich Weidemann

Einleitung in das Neue Testament


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Benutzungshypothesen

      Wir haben schon gesehen, dass Augustinus bereits eine Benutzungshypothese vorgetragen hat. Diese Hypothese wirkt teilweise bis in die Gegenwart nach.

      Mt – Lk – Mk

      a) Grieshach-Hypothese: Die Evangelien sind in der Reihenfolge Matthäus-, Lukas- und Markusevangelium abgefasst und der jeweils spätere Autor kannte die Werke der Vorgänger, d. h. das Matthäusevangelium ist das älteste, Lukas kannte dieses und Markus kannte beide Evangelien.

      Mk und eine weitere Quelle für Mt und Lk

      b) Die Zweiquellentheone: Hier wird eine Kenntnis des Markusevangeliums durch Matthäus und Lukas angenommen. Markus schrieb also als erster und Matthäus und Lukas benutzten sein Evangelium für ihre Werke. Daneben benutzten Matthäus und Lukas noch eine weitere gemeinsame Quelle.

      Benutzungs-hypothesen

      Die heute vor allem im europäischen Raum fast einhellig oder zumindest Bern ganz überwiegend akzeptierte Benutzungshypothese in Form der Zweiquellentheorie wurde erstmals 1838 gleichzeitig, jedoch unabhängig voneinander, von dem Leipziger Philosophen Ch. H. Weisse und von dem Schriftsteller und neutestamentlichen Exegeten Ch. G. Wilke vorgetragen und hat sich im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts vor allem unter dem Einfluss der 1863 erschienenen Arbeit „Die synoptischen Evangelien“ von H. J. Holtzmann durchgesetzt. Katholische Exegeten durften allerdings aufgrund zweier Dekrete der Päpstlichen Bibelkommission von 1911 und 1912 diese Hypothese nicht vertreten, und der Straßburger Exeget F. W. Maier musste, weil er in einem Kommentar die Zwei-Quellen-Theorie vertreten hatte, 1912 seine Stelle in Straßburg räumen. Die Benutzung einer schriftlichen Quelle wird heute aber durchweg angenommen, und es wird des weiteren in der Regel davon ausgegangen, dass diese eines oder mehrere der uns vorliegenden Evangelien war / waren. Im wesentlichen werden deswegen heute vor allem die zwei Theorien vertreten, die beide die Benutzung von einem oder zwei der uns überlieferten Evangelien annehmen, weswegen sie beide als Benutzungshypothesen zu bezeichnen sind, die Griesbach-Hypothese (oben 5.2 a) und die Zweiquellentheorie (oben 5.2 b).

      Die heute allgemein vertretene Theorie

      Allerdings darf man diese beiden Lösungen nicht einfach gleichberechtigt nebeneinander stellen, weil die übergroße Mehrheit der Exegeten, vor allem, wenn man auf den deutschsprachigen und europäischen Raum blickt, die Benutzungshypothese in Form der Zweiquellentheorie für allein angemessen hält. Über die oben bereits getroffene Charakterisierung dieser Theorie hinaus beschreibt die Zweiquellentheorie die zweite, von Matthäus und Lukas neben dem Markusevangelium benutzte Quelle noch etwas genauer und bezeichnet sie, weil sie bis auf die Wunderheilung am Knecht des Hauptmanns von Kafarnaum und die Versuchungsgeschichte ausschließlich Worte (gr.=Logien) Jesu enthält, als Logienquelle (Sigel: Q, von Quelle). Das ausschließlich bei Matthäus oder Lukas begegnende Erzählgut hat nach dieser Theorie beiden dann als sog. Sondergut vorgelegen, d. h. die Tatsache, dass dieses nur bei einem der beiden ► Seitenreferenten vorliegt, wird als Hinweis darauf verstanden, dass es in der gemeinsamen Quelle Q nicht enthalten war und den Evangelisten auf andere Art zugekommen ist. Die Benutzungshypothese in Form der Zweiquellentheorie lässt sich durch folgendes Schaubild verdeutlichen:

      Die Nennung von Mt und Lk mit Fragezeichen unter dem Sigel Q weist daraufhin, dass eine Reihe von Autoren annehmen, dass Mt und Lk die Logienquelle nicht in total identischer Fassung vorlag, sodass mit einer mt und einer lk Q-Fassung als Vorlage zu rechnen ist.

      Neo-Griesbach-Hypothese

      Nachdem man einige Zeit nach dem zweiten Weltkrieg offensichtlich geglaubt hatte, die synoptische Frage sei definitiv im Sinne der dargestellten Zweiquellentheorie entschieden, hat in den letzten Jahrzehnten eine kleinere, allerdings sehr rührige Gruppe vor allem in den USA der Zweiquellentheorie widersprochen. Diese Gruppe vertritt die seinerzeit von dem Jenaer Exegeten Johann Jakob Griesbach (1745–1812) vorgetragene und auch nach ihm benannte Hypothese (s. oben 5.2 a); dass es auch noch andere Theorien gibt, die gegenwärtig diskutiert werden, z. B. die Benutzung des Matthäusevangeliums nur als Nebenquelle, übergehe ich hier und verweise dazu auf den Beitrag von F. Neirynck in dem von Strecker herausgegebenen Sammelband). Nach der sog. Neo-Griesbach-Hypothese hat also Matthäus als erster sein Evangelium verfasst, Lukas schrieb nach ihm und in Kenntnis des Matthäusevangeliums. Markus schrieb als letzter in Kenntnis beider Vorgängerwerke. Im Schaubild:

      Dass beide Theorien auf den ersten Blick durchaus eine gewisse Plausibilität haben, kann man sich schön an Mk 1,32 verdeutlichen: Während die Griesbach-Hypothese in der markinischen Zeitangabe eine Kompilation aus den Angaben bei Matthäus und Lukas sieht, nimmt die Zweiquellentheorie an, Matthäus und Lukas hätten wegen – der übrigens typisch markinischen – Doppelung der Zeitangaben je eine herausgegriffen und als Einleitung für den folgenden Sammelbericht verwandt. Allerdings gilt für alle diese Theorien: Sie müssen nicht nur an einem Beispiel überzeugen, sondern alle Tatbestände plausibel erklären.

      6.1 Gründe für die Zweiquellentheorie

      Die Reihenfolge der Perikopen

      Man hat die Reihenfolge der Perikopen immer wieder als das entscheidende Argument für die Lösung des synoptischen Problems im Sinne der Zweiquellenhypothese beansprucht (vgl. nur W. G. Kümmel, Einleitung 30 ff.). Aber auch W. R. Farmer als Protagonist der (Neo-) Griesbach-Hypothese und andere Verfechter dieser Hypothese haben sich ebenso auf dieses Argument gestützt, so dass auf den ersten Blick dieses Argument offensichtlich nicht sticht. Morgenthaler hat aber darauf hingewiesen, dass eine sachliche und nicht nur ausschließlich statistische Würdigung der Reihenfolge eindeutig für die Zweiquellentheorie spricht. Denn während sich die Umstellungen des Matthäus auf der Basis des Markusevangeliums als Vorlage hervorragend begründen lassen (vgl. dazu, dass Matthäus die Zusammenstellung der Wundertaten in Kap. 8 und 9 eindeutig zur Vorbereitung der Aussendungsrede in Kap. 10 und zugleich zur exakten Übereinstimmung mit der Antwort auf die Täuferanfrage in 11,4 ff. gebildet hat, Morgenthaler 284), gilt dies für den umgekehrten Vorgang gerade nicht: Es „sind keine Gründe von entsprechendem Gewicht für eine Umstellung dieser Perikopen durch Markus bei einer Mt-Priorität geltend zu machen“. Zu derselben Würdigung führen bei Morgenthaler auch die Umstellungen in der Satzfolge bei Matthäus und Lukas gegenüber Markus: „Die Satzumstellungen des Mt und Lk sind mit einer Mk-Priorität eindeutig erklärbar. Umgekehrt ergeben sich bei andern Prioritäten die größten Schwierigkeiten“ (284).

      Das bessere Griechisch

      Auffällige Mängel im Zusammenhang bei Mt

      Zugunsten der Zweiquellentheorie lassen sich des weiteren folgende Gründe anführen:

      a) Das Griechisch des Markus ist wesentlich schlechter als das des Matthäus und Lukas. Insofern lässt sich das an einigen Stellen rein sprachlich und nicht sachlich bedingte bessere Griechisch bei den ► Seitenreferenten eher als matthäische und lukanische Verbesserung denn als markinische Verschlechterung verstehen.

      b) Bei Matthäus und Lukas finden sich an einigen Stellen Zusammenhänge, die besser bei einer Abhängigkeit der Seitenreferenten von Markus als bei einer Abhängigkeit des Markus von Matthäus und Lukas verstehbar sind. So sagt Matthäus in 9,2: „Als Jesus ihren Glauben sah“ – diese Bemerkung gibt im Kontext des Matthäusevangeliums zwar durchaus noch einen gewissen Sinn, kann sie doch auf das Herbeibringen des Gelähmten auf einer Bahre bezogen werden. Wenn solche schlichte Bemühung um ein Wunder aber bereits als deutlich sichtbares und besonderes Zeichen des Glaubens anerkannt wird, erübrigen sich einige Diskussionen über den Glauben bei den Synoptikern, denn z. B. in Mk 9,14 ff. hat der Vater seinen epileptischen Sohn auch zu Jesus gebracht, ist freilich nur auf dessen Jünger gestoßen. Dennoch scheint der Glaube des Vaters für ein Wunder nicht ohne weiteres zu genügen. Viel verständlicher wird diese Bemerkung des Matthäus (und des Markus) auf dem Hintergrund des Markusevangeliums, weil dort die Träger des Gelähmten erst das Dach abdecken und ein Loch graben