Hans-Ulrich Weidemann

Einleitung in das Neue Testament


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verwenden. Die neutestamentliche Verwendung des Begriffs lässt sich einlinig weder aus dem Alten Testament noch aus dem heidnischen ► Kaiserkult ableiten, beide könnten jedoch durchaus die Christen bei der Anwendung dieses Begriffes beeinflusst haben.

      Die Frage nach der Pilotfunktion des Markus stellt sich aber auch noch in anderer Richtung. Hat er nicht nur als erster das Leben Jesu in das Evangelium und damit in das ► Kerygma integriert, sondern daneben auch noch eine ganz neue literarische Gattung, eben die des Evangeliums, geschaffen, oder kann er sich bei seinem Werk an andere Werke der Antike anlehnen und deren literarische Gattung übernehmen?

      2.1 Übereinstimmungen und Differenzen zwischen den vier Evangelien und die Gattung „Evangelium“

      Einheitliche Literaturgattung?

      Die Evangelien weisen untereinander zweifellos neben den noch zu nennenden Übereinstimmungen auch eine Reihe von Unterschieden auf. So überliefern Matthäus und Lukas eine sog. Kindheitsgeschichte, Markus und Johannes dagegen nicht. Lukas beginnt mit einem für damalige Verfasser typischen Vorwort mit deutlichen literarischen Ambitionen, das wiederum die anderen Evangelisten so nicht kennen, während Johannes sein Werk mit dem Prolog beginnt, zu dem es in den synoptischen Evangelien keine Parallel-Überlieferung gibt. Angesichts dieser Differenzen im Stoff ist die Frage berechtigt, ob es überhaupt sinnvoll ist, von einer einheitlichen Literaturgattung zu sprechen und ihr alle vier Evangelien zuzuweisen.

      Freilich gehört zu einer Nennung der Unterschiede auch die Anführung der Übereinstimmungen: Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu mit der Taufe durch Johannes den Täufer, öffentliche Wirksamkeit in Galiläa (allerdings im vierten Evangelium immer wieder auch in Jerusalem), Wundererzählungen und Streitgespräche, Ende in Jerusalem und Auferstehung. Diese geben den Evangelien abgesehen von der einheitlichen Hauptperson ein so übereinstimmendes Gepräge, dass man diese doch wohl zu Recht einer einheitlichen Größe zuweisen kann, zumal sich diese Gemeinsamkeiten keineswegs nur auf das gemeinsame Thema / die gemeinsame Hauptperson und den gemeinsamen Rahmen (der im Johannesevangelium wenigstens dem der Synoptiker sehr ähnlich ist) beschränken.

      Verwandtschaft im Formalen

      Die Ähnlichkeit der Evangelien besteht keineswegs nur im Inhalt, sondern auch in den für die Gattungsbestimmung wichtigeren formalen Fragen: Alle vier Evangelien bestehen aus noch deutlich erkennbaren, ursprünglichen Einzelüberlieferungen – das gilt auch für das Johannesevangelium, wenn für dieses auch eindeutig nicht in gleichem Maße wie für die Synoptiker, da das Johannesevangelium im Gegensatz zu den letztgenannten auch größere Reden enthält, die nicht einfach aus hintereinander gestellten Einzelstücken bestehen (vgl. Joh 5,19–47; 14–17 z. B. mit Mt 5–7). D. h. alle vier Evangelien tragen wenigstens z. T. Perikopencharakter oder sind, wie man das in letzter Zeit genannt hat, episodische Erzählung. Als weiteres verbindendes Merkmal kann das Fehlen (fast) jeden literarischen Ehrgeizes genannt werden und das damit zusammenhängende, praktisch völlige Zurücktreten der Verfasser hinter ihrem Stoff. Darauf weisen ja schon die Probleme hin, die man bei der Identifizierung der Autoren der Evangelien hat und die wir noch kennenlernen werden. Angesichts dieser Übereinstimmungen scheint es trotz der nicht zu leugnenden Unterschiede sinnvoll, die Evangelien als zu einer literarischen Gattung zugehörig anzusehen und sie nicht verschiedenen literarischen Gattungen zuzuweisen. Das gilt nach meinem Urteil auch für das Lukasevangelium, das sich zwar nach Ausweis seines Vorwortes als einziges Evangelium wie ein historisches Werk gibt (vgl. nur das sehr ähnliche Vorwort des Josephus in BJ I 1), dessen Autor aber von den gleichen Intentionen getragen ist wie die übrigen Evangelisten (vgl. Lk 1,4) und sich auch gegenüber seinen Quellen trotz dieses Vorwortes nicht anders verhält als die übrigen Evangelisten.

      2.2 Die Evangelien und die Gattungen der antiken Literaturgeschichte

      Wandel im Verständnis der Evangelien

      In der deutschen Literatur vor allem war es lange Zeit üblich, die Evangelien als eine eigene Gattung ohne Parallelen in der Antike zu betrachten, obwohl immer wieder auch auf die Übereinstimmung mit anderen Gattungen hingewiesen wurde. Gerade die heute erneut favorisierte Parallelität zur antiken Biographie wurde seit Herder immer wieder zumindest erwogen, wenn auch in der Regel abgelehnt. Dafür gab es unterschiedliche Gründe: Hingewiesen wurde u. a. auf das Fehlen einer Entwicklung des Charakters der Hauptperson, auf das Fehlen eines schriftstellerischen Individuums und den anonymen Wachstumsprozess der Tradition, aus dem die Evangelien quasi als autorloses Produkt wie von selbst hervorgegangen sein sollten. Dieses Verständnis der Evangelien hat sich aber durch die die Formgeschichte ablösende Redaktionskritik erheblich verändert, und der schriftstellerische Wille des Evangelien-Autors steht der heutigen Forschung nicht nur als Erkenntnisziel lebendig vor Augen. Sie begreift die Evangelisten nicht mehr bloß als Sammler, Redaktoren oder Tradenten, wie dies die frühe Formgeschichte tat. Da sich also das Bild der Evangelisten gewandelt hat, ist auch die Frage nach der Gattung neu zu stellen. Man hat deswegen sowohl aus der griechisch- als auch aus der semitisch-sprachigen Literatur alle möglichen Literaturgattungen als Vorbild für die Evangelien vorgeschlagen: Memoirenliteratur, Biographie, Roman, Tragödie, Tragikomödie, Aretalogie, Biographie eines Gerechten, Propheten-Biographie, ► Midrasch (weitere Ableitungsversuche bei Dormeyer, Evangelium und Vorster, Ort). Auf diese muss hier kurz eingegangen werden.

      2.3 Ableitungen der Gattung „Evangelium“ aus alttestamentlich-jüdischer und paganer Literatur

      2.3.1 Die Evangelien als Midraschim

      Die Einordnung der Evangelien als Midraschim kommt m. E. nicht in Frage, da dieser (nicht besonders klare) Begriff in der Regel durch das Charakteristikum der Schriftauslegung gekennzeichnet ist. In den Evangelien begegnet zwar Schriftauslegung, aber diese vermag doch nicht die Evangelien insgesamt zu charakterisieren. Darüber hinaus ist das Verhältnis zur Heiligen Schrift des Alten Bundes z. B. bei Markus und Matthäus durchaus unterschiedlich, so dass sich diese Bezeichnung als Gattungsbegriff für beide Werke kaum eignet.

      2.3.2 Die Evangelien als Ideal-Biographie

      Die These und die Einwände dagegen

      Die von K. Baltzer behauptete Übertragung der alttestamentlichen Ideal-Biographie auf Jesus durch Markus wird damit begründet, dass die für diese Gattung im Alten Testament konstitutiven Züge auch im Markusevangelium zu finden sind. Wenn die zu dieser Gattung gehörenden alttestamentlichen Stücke aufgrund ihrer heutigen Eingliederung in größere Kontexte auch nur mit Schwierigkeiten zu erheben sind, so lassen sich doch noch deren Gattungscharakteristika erkennen. Dazu gehören der Einsetzungsbericht, durch den der Prophet / König in seinem Amt legitimiert wird, und die mit diesem Amt verbundenen Funktionen, z. B. Sicherung des Friedens, Herstellung der sozialen Gerechtigkeit und Einsatz für einen reinen Kult. Diese Charakteristika sind variabel und müssen nicht in allen Exemplaren der Gattung realisiert sein. Baltzer findet sie auch im Markusevangelium, wobei der Einsatz mit der Taufe und nicht mit der Geburt für ihn ein besonders deutliches Zeichen ist, das in Richtung Propheten-Biographie weist. Aber auch der Einsatz für einen reinen Tempelkult, die Kritik an den Interpretationen der Gesetze, die Verkündigung von Gottesherrschaft und Gericht sowie das Leiden weisen in die gleiche Richtung. – Gegen diese Annäherung von Markusevangelium und Propheten-Biographie sind eine ganze Reihe von Einwänden vorgebracht worden, z. B. dass die für das Markusevangelium besonders charakteristischen, weil häufig mit Hilfe der durchbrochenen Schweigegebote betonten Wunder in der Propheten-Biographie nur im Elia-Elischa-Zyklus vorkommen (vgl. 1 Kön 17,17–23; 19,1–13; 2 Kön 2–8), dass die markinischen Berichte vom Leiden Jesu sich wesentlich stärker an das Schema vom leidenden Gerechten anlehnen und dass Tod und Begräbnis ebenso nur schwach in der Propheten-Biographie verankert sind. Mag man über diese Differenzen noch hinwegkommen, müsste doch, wenn die Idealbiographie eines Propheten die Darstellung Jesu im Markusevangelium wirklich prägen würde, der Propheten-Titel wenigstens leicht hervorgehoben werden. Gerade das aber ist nicht der Fall. Die Übertragung des Propheten-Titels auf Jesus wird in Mk 6,15 f. und 8,27–30 gerade abgelehnt. Kommt von daher die Propheten-Biographie als Vorbild-Gattung für das Markusevangelium nicht in Frage, so ist die Übertragung der Motivreihe vom leidenden Gerechten auf das markinische Werk zu prüfen.

      2.3.3