Hans-Ulrich Weidemann

Einleitung in das Neue Testament


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(s. dazu unten § 3), der wird die matthäischen Veränderungen der Markus-Vorlage aufsuchen und unter besonderer Berücksichtigung dieser Veränderungen den Text zu interpretieren versuchen. Dass dieses letztere Verfahren in der Lage ist, den Exegeten vor manchem Irrweg zu bewahren, dürfte deutlich sein, und insofern ist der Vorteil dieses Verfahrens unmittelbar einleuchtend.

      Die Bedeutung der W-Fragen für die Interpretation

      Beide Beispiele dürften zeigen, dass eine Interpretation der biblischen Texte, die deren Ursprungssituation in Rechnung stellt, den Texten gerechter wird als der unmittelbare Zugriff. Das ist im übrigen natürlich auch in der Literaturwissenschaft bekannt und anerkannt, man spricht dort in diesem Zusammenhang vom situativen Kontext. Man denke nur an die berühmten Beispielsätze: „Der Hund ist bissig“, oder: „Es zieht“, die je nach Situation ganz Unterschiedliches zum Ausdruck bringen können und sollen. Man kann mit einer solchen Bemerkung vor einem Hund warnen, in bestimmten Situationen kann dieser Hinweis aber auch eine Empfehlung sein, gerade diesen Hund auszuwählen. „Es zieht“ kann eine Aufforderung sein, die Tür doch bitte schnell zu schließen oder einfach auf eine gewisse Ungemütlichkeit im Raum hinweisen.

      An einem anderen Beispiel verdeutlicht einleuchtend R. L. Rohrbaugh die Bedeutung der Fragestellung nach dem Entstehungsort eines Evangeliums. Er verweist auf die prozentual viel geringere Bildung auf dem Land – er rechnet mit 2–4 % der Bevölkerung auf dem Lande, die lesen und/ oder schreiben konnte (vgl. dazu unten § 12 Exkurs 1) – und demonstriert daran die Bedeutung der Frage, ob das Markusevangelium in Rom oder eher im syrisch-galiläischen Raum verfasst worden ist. Je nachdem musste der Verfasser des Evangeliums von ganz unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen und auch ganz andere literarische Mittel zum Verständnis des Textes einsetzen. Im ländlichen Raum musste das Evangelium ganz überwiegend vorgelesen werden, und diese Tatsache erfordert eine andere Vorgehensweise von seiten des Autors als eine Lektüre, die für das private Studium geschaffen wird.

      Literaturwissenschaft und synoptischer Vergleich

      Auch die Notwendigkeit und Angemessenheit des synoptischen Vergleichs (s. dazu unten § 3) lassen sich mit Hilfe der Literaturwissenschaft aufzeigen:

      H. R. Jauss hat im Zusammenhang mit der Entstehung eines Werkes vom „Erwartungshorizont“ gesprochen, der sowohl den Autor als auch den Hörer / Leser tangiert. Man kann das schön, um wiederum bei einem Beispiel aus der Antike zu bleiben, am Elektra-Stoff verdeutlichen, der im fünften Jahrhundert v. Chr. gleich dreimal bearbeitet worden ist, nämlich durch Aischylos, Sophokles und Euripides. Eine Interpretation z. B. des Dramas des Euripides als des wahrscheinlich letzten dieser drei Verfasser (vgl. dazu Latacz) ohne Berücksichtigung der Dramen der Vorgänger würde völlig übersehen, dass sowohl der Autor als auch der Zuschauer des Dramas unter dem Einfluss der Bearbeitungen des Stoffes durch die Vorgänger an das letzte Werk herangingen, dass also ihr Erwartungshorizont stark von dem der Vorgängerdramen beeinflusst war und dass die Kritik des Euripides an Aischylos eben nur auf der Basis des Dramas des letzteren verstanden werden kann. Das gleiche dürfte zumindest teilweise auch für die Evangelien gelten.

      Als Ergebnis unserer Überlegungen können wir festhalten: Obwohl die Verfasser der neutestamentlichen Schriften sicher nicht in erster Linie für Bibelwissenschaftler ihre Werke verfasst haben, sind das Wissen um die Entstehungsverhältnisse einer Schrift und die Kenntnis ihrer Quellen für deren Verständnis von großer Bedeutung. Insofern dürften auch die im Folgenden zu behandelnden Probleme hinsichtlich der Entstehungsverhältnisse der neutestamentlichen Schriften für deren besseres Verständnis von Nutzen sein.

      Allerdings stoßen wir bei der Beantwortung dieser Fragen bezogen auf die neutestamentlichen Dokumente auf Schwierigkeiten, die man sich kaum vorstellen kann, wenn man von heutigen Texten herkommt. Wir werden sehen, dass es zwar durchaus sinnvoll ist, die erwähnten Fragen zu stellen, dass aber die Antworten häufig weit hinter den Erwartungen zurückbleiben. Das ist im übrigen nicht nur bei den Texten des Neuen Testaments, sondern auch bei vielen anderen Texten aus der Antike der Fall und hängt mit vielen Ursachen zusammen, von denen hier nur zwei genannt werden sollen. Zum einen sind die Umstände der Abfassung der Schriften häufig kaum oder gar nicht überliefert, und es gibt oft auch keine unabhängigen Nachrichten über die Verfasser bestimmter Schriften aus der Antike. Wenn man sich klar macht, dass uns von vielen Schriften zwar Verfasser und Titel bekannt sind, die Werke aber verlorengegangen sind, so kann man diese Schwierigkeit sicher gut ermessen. Zum anderen ist unser Begriff von Literatur mit dem damaligen kaum vergleichbar.

      Man kann sich diesen Unterschied sehr schön an dem Beispiel eines berühmten Arztes aus der Antike verdeutlichen, der durch ein Riesenwerk bekannt geworden ist und der einst ein fremdes Buch unter seinem Namen „veröffentlicht“ fand (Galen, 2. Jh. n. Chr., vgl. Scripta minora Vol. II, ed. I. Müller, S. 98) – eine heute im Zeichen des Copyright und des Urheberrechtsschutzes völlig unmögliche Sache, an der man erkennen kann, durch welchen Abstand die literarischen Produktionsbedingungen der Antike von denen der Gegenwart unterschieden sind.

      Literatur

      JAUSS, H. R., Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: ders., Literaturgeschichte als Provokation (stb 418) Frankfurt 1973; LATACZ, J., Einführung in die griechische Tragödie, Göttingen 1993; ROHRBAUGH, R. L. s. Lit. zu § 5; SCHMITZ, T. A., Moderne Literaturtheorie und antike Texte, Darmstadt 2002; STAIGER, E., Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte (dtv WR 4078) München 1974.

      I Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte

§ 2Evangelium als Literaturgattung

      Das eine Evangelium

      Wir reden heute wie selbstverständlich von den Evangelien und meinen damit in der Regel die vier Werke des Neuen Testaments, die in der Form einer Erzählung des Lebens Jesu erscheinen. Diese Redeweise kennt das Neue Testament selbst nicht, der Begriff Evangelium begegnet in ihm ausschließlich im Singular, den Plural findet man zum ersten Mal in der Apologie des Märtyrers Justin († 165: „Denn die Apostel haben in den von ihnen stammenden Denkwürdigkeiten, welche Evangelien heißen, überliefert …“ [Apol I 66,3] – der Verdacht, bei der identifizierenden Formel „welche Evangelien heißen“ handele es sich um eine ► Glosse, hat sich nicht bestätigt). Doch auch bei der Verwendung des Plurals steht im zweiten Jahrhundert die in den neutestamentlichen Schriften betonte Einheit der Frohbotschaft noch ganz im Vordergrund, weswegen man in dieser Zeit vom „Evangelium nach …“ (vgl. die in dieser Zeit entstandenen Evangelienüberschriften) oder vom „dritten Buch des Evangeliums nach Lukas“ (► Canon Muratori) spricht. Die Einheit des Evangeliums betont auch der Ausdruck des Irenäus von Lyon († Ende des zweiten Jahrhunderts) von dem einen Evangelium in vier Gestalten. Nachdem die Sammelbezeichnung Evangelien gefunden war, war die Übertragung des bereits im Neuen Testament begegnenden, aber dort nicht auf die Autoren der vier Schriften angewandten Begriffs „Evangelist“ (Apg 21,8; Eph 4,11; 2 Tim 4,5 – an letzterer Stelle übersetzt die EÜ nicht wörtlich, zutreffender: „verrichte das Werk eines Evangelisten“) auf die Autoren dieser Werke nicht mehr fern. Sie begegnet erstmals zu Beginn des dritten Jahrhunderts bei Hippolyt von Rom (etwa 160–235), Origenes (185–254) und Tertullian (160–220).

      Der Sprachgebrauch der 4 Evangelien und die Alte Kirche

      Sehen wir einmal davon ab, dass mit Evangelien auch später entstandene Werke bezeichnet werden, die von der Kirche nicht in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen wurden (sog. ► apokryphe Evangelien), so scheint die Anwendung dieses Begriffs auf die von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes geschaffenen Werke schon deswegen völlig berechtigt zu sein, weil Markus sein Werk über das Leben Jesu mit den Worten „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus“ beginnt (- die Frage, ob neben diesem Verständnis des Genitivs „Jesus Christus“ als genitivus objectivus auch und möglicherweise zugleich ein Verständnis als genitivus subiectivus möglich ist, braucht in unserem Zusammenhang nicht entschieden zu werden). Da keiner der übrigen Evangelisten dem Sprachgebrauch des Markus gefolgt ist und sein Werk in ähnlicher Weise gleich in der ersten Zeile als Evangelium bezeichnet hat und da Lukas sowie Johannes