der Entwicklung des Begriffs angebracht.
1.1 Der älteste noch erkennbare Sprachgebrauch
1.1.1 Evangelium als Heilspredigt von Gottes Handeln in Jesus Christus
Evangelium bei Paulus
Der markinische Gebrauch des Wortes Evangelium ist keineswegs der älteste und sicher auch nicht der ursprüngliche. Denn diesen finden wir bei Paulus. In seinen Briefen findet sich bei 46 Belegen v. a. ein vierfacher Gebrauch: In mehr als der Hälfte der Vorkommen wird der Begriff absolut, also ohne nähere Erklärung, gebraucht (Röm 1,16; 10,16; 11,28 u. ö.). Dies ist ein deutlicher Hinweis, dass Paulus hier einen ihm und seinen Lesern vertrauten Begriff benutzt, den er auch selbst schon übernommen hat. An den übrigen Stellen spricht Paulus vom „Evangelium Gottes“ (z. B. Röm 1,1; 15,16), vom „Evangelium Christi“ (Röm 15,19; 1 Kor 9,12) und von „meinem Evangelium“ (z. B. Röm 2,16; 16,25) und meint damit die Verkündigung des Christusereignisses, also die mündliche Predigt von Gottes Heilshandeln in Jesus Christus. Diese Verkündigung ist nicht Menschen-, sondern Gotteswort (vgl. 1 Thess 2,13; 2 Kor 2,17; 4,2; 1 Kor 14,36) und ergeht in der Urchristenheit in unterschiedlichen Formen und Gestalten, z. B. als Missionspredigt vor „Ungläubigen“ oder als Verkündigung vor bereits an Christus Glaubenden.
Evangelium als Verkündigung
Evangelium als Glaubensformel
Die Vielgestaltigkeit des Evangeliums bezeugt Paulus in seinen Schriften. In 1 Kor 15,1 bezeichnet er die von ihm selbst schon (in Antiochien?) übernommene und von ihm den Korinthern übergebene zusammenfassende Glaubensformel von Jesu Tod und Auferweckung (1 Kor 15,3–5) als Evangelium. In Röm 1,3 f. nennt er eine andere Formel, die er im Folgenden zitiert und die nicht wie 1 Kor 15,3–5 das Lebensende und die Auferweckung, sondern den Lebensanfang und die Auferweckung Jesu in den Blick nimmt, Evangelium Gottes: „das Evangelium von seinem Sohn, der dem Fleisch nach geboren ist als Nachkomme Davids, der dem Geist der Heiligkeit nach eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht seit der Auferstehung von den Toten“. An dieser Stelle wird der christologische Inhalt des Evangeliums Gottes ganz deutlich.
Zielt die Bezeichnung Evangelium an den genannten Stellen eindeutig auf den Inhalt der Verkündigung, so kann Paulus sie an anderen Stellen auch auf die Tätigkeit der Verkündiger beziehen. Beide Verständnismöglichkeiten des Begriffs Evangelium begegnen in 1 Kor 9,14 direkt nebeneinander: „So hat auch der Herr denen, die das Evangelium (= Inhalt) verkündigen, geboten, vom Evangelium (= von dessen Verkündigung) zu leben.“
1.1.2 Die Integration der Jesuserzählungen ins Evangelium durch Markus
Das Neue des mk Sprachgebrauchs
Der Inhalt des Evangeliums konnte – das zeigen diese vorpaulinischen Stücke – mit Hilfe unterschiedlicher Formeln vorgetragen werden, aber er war eindeutig christologisch geprägt. Das bedeutet aber nicht, dass zum Evangelium ebenso wie die Glaubensformeln auch die Erzähltraditionen und die Worte Jesu, die wir in den Evangelien finden, gehört hätten. Das ist zwar immer wieder nicht nur unter Verweis auf Apg 10,36 ff. behauptet worden, weil man dort ein altes Predigtschema zu finden meinte. Aber die Annahme, dass Lukas hier auf ein Predigtschema der Urkirche zurückgreift, hat sich nicht bewährt. Wenn Markus den Terminus Evangelium für eine Schilderung des irdischen Lebens Jesu benutzt, so gebraucht er diesen Terminus atypisch und schafft etwas Neues, weil wir kein Zeugnis aus der dem Markusevangelium vorangehenden christlichen Literatur (d. h. konkret: bei Paulus; in Q [s. dazu unten § 4] begegnet der Begriff nicht, wohl aber das dazu gehörige Verb; selbst im Evangelium des Markus können alle Belege für „Evangelium“ vom Evangelisten selbst stammen) haben, in dem der Begriff für episodische Erzählungen aus dem Leben Jesu gebraucht wird.
Evangelium und Erzähltradition
Die Frage, ob Markus damit eine Gattungsbezeichnung schaffen wollte, ist m. E. weniger wichtig. Entscheidend ist, dass nach dem bei ihm vorliegenden Sprachgebrauch die Erzähltraditionen über Jesus und die Worte Jesu zum Evangelium gehören. Das war noch bei Paulus ganz anders. Bei ihm finden sich zwar die meisten Belege für „Evangelium“, aber im Zusammenhang mit diesem Terminus spielen Erzählungen über Jesus oder Worte Jesu keine Rolle, wie Paulus in seinen Briefen ja überhaupt nur ganz selten Bezug auf ein Wort oder eine Tat des irdischen Jesus nimmt, wenn man vom Kreuz einmal absieht. Deswegen ist es keineswegs ausgeschlossen, dass von Anfang an in der Verkündigung der Urchristenheit solche Erzählungen, wie sie in den Evangelien erhalten sind, erzählt und überliefert wurden. Dies ist im Gegenteil sogar sehr wahrscheinlich, weil man sich sonst fragen muss, woher viele Geschichten, die den Eindruck früher Entstehung erwecken, denn überhaupt stammen sollen. Aber als Evangelium wurden diese Geschichten nach allem, was wir noch erkennen können, nicht bezeichnet. Dies ist erst durch Markus geschehen.
Eine andere Frage ist, ob nicht diese Tendenz zur Integration der Jesusworte und -erzählungen ins Evangelium letztlich von den kerygmatischen Formeln selbst gefördert wurde, insofern die in diesen genannten Stationen des Lebens Jesu zu einer Erweiterung durch weitere Einzelheiten aus dem Leben Jesu geradezu aufforderten. Dieser Annahme wird man durchaus positiv gegenüberstehen können, allerdings darf man dabei nicht so weit gehen, dass die Evangelien aus dieser latenten Tendenz der kerygmatischen Formeln zur Auffüllung quasi wie von selbst entstehen mussten. Denn bei Paulus ist eine Entwicklung zu einer größeren Bedeutsamkeit von Erzähltraditionen in keiner Weise erkennbar, und die Logienquelle (s. dazu unten § 4) zeigt, dass die Sammlung der Jesustradition keineswegs notwendig in den Erzählzusammenhang eines Evangeliums münden musste. Von daher scheint mir die Annahme immer noch am besten begründet zu sein, dass die Christenheit Markus zwei Dinge verdankt: Zum einen die Schaffung eines Erzählzusammenhangs über das Leben Jesu und zum anderen die Integration dieses Zusammenhangs in die Heilspredigt von Jesus Christus, das Evangelium. Markus ist der Schöpfer der Gattung Evangelium. Er legte auf die Erhaltung und Sicherung des in sein Werk integrierten Materials großen Wert und schätzte dieses Material so hoch, dass er es für einen wesentlichen Bestandteil des Evangeliums hielt. Deswegen wandte er erstmalig den Begriff des Evangeliums auch auf die Taten und Worte Jesu an. Nach dem markinischen Verständnis erschöpft sich die Heilspredigt also nicht in der Predigt von Jesus Christus und seinen heilsentscheidenden Taten, sondern die Weiterverkündigung von Jesu übrigen Taten und Worten gehört ebenso dazu, auch diese ist „Evangelium“.
Mk als Schöpfer der Gattung Evangelium
1.1.3 Jesus-Erzählungen und Heilspredigt bei den übrigen Evangelisten
Evangelium ohne „Evangelium“
Die anderen Evangelisten sind ihm in diesem Verständnis der Erzählungen von und über Jesus als Evangelium und genuiner Bestandteil der Heilspredigt gefolgt, auch wenn Lukas und Johannes den Begriff „Evangelium“ nicht einmal in ihr Werk aufgenommen haben (Lukas benutzt das Wort allerdings zweimal in der Apostelgeschichte). Schon die Angabe des Zieles im Lukas- und Johannesevangelium, das deren Autoren mit ihren Werken verfolgen (Lk 1,1–4; Joh 20,30 f.), weist eindeutig in diese Richtung. Ihre beiden Erzählungen in der Form eines Lebens Jesu zielen wie das paulinische Evangelium auf das Heil, sind diese Erzählungen doch Aufforderung zum Glauben oder der Versuch von dessen Sicherung. Obwohl sie also den Begriff nicht verwenden, sind sie im Ziel mit Markus und Paulus einig und insofern verdient ihr Werk durchaus die Bezeichnung Evangelium. Im Matthäusevangelium weist die Bezeichnung „dieses Evangelium“ (24,14; 26,13) auf das Verständnis des eigenen Werkes als Heilspredigt hin.
Es entbehrt im übrigen nicht einer gewissen Ironie, dass im weiteren Verlauf der Geschichte des Christentums der von Markus ja doch erst ziemlich spät inaugurierte Gebrauch des Wortes Evangelium dessen ursprüngliche Verwendung so schnell verdrängt hat, dass Origenes sich schon zu dem Hinweis veranlasst sah, das Evangelium sei auch in den Briefen zu finden (Johannes-Kommentar 1,3).
1.2 Die Wurzeln des neutestamentlichen Begriffes „Evangelium“
Woher der Begriff Evangelium im Neuen Testament überhaupt kommt, ist bis heute nicht endgültig geklärt. Es werden zwei „Ableitungen“ vertreten. Die eine knüpft vor allem an den Sprachgebrauch des Alten Testaments an, der allerdings sehr differenziert ist, die andere basiert auf dem Sprachgebrauch im ► Kaiserkult.
1.2.1