Bruno Meier

Von Morgarten bis Marignano


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Reinschrift des Chronicon Helveticum mündeten, das aber erst im 18. Jahrhundert publiziert und einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde. Und sein Wissen floss in die 1548 gedruckte Chronik seines Zeitgenossen Johannes Stumpf ein. Tschudis Geschichtsbild bereitete der Schaffhauser Geschichtsschreiber Johannes von Müller (1752–1809) Ende des 18. Jahrhunderts für eine breite Leserschaft auf. Es wurde vom Dichter Friedrich Schiller (1759–1805) im Jahr 1804 dramatisiert und vom Komponisten Gioachino Rossini (1792–1868) im Jahr 1829 vertont und popularisiert. Die neu entstehende wissenschaftliche Geschichtsforschung des 19. Jahrhunderts, die die urkundliche Überlieferung in den Vordergrund stellte, hat das Bild von der Befreiungsgeschichte mit Tell, Rütlischwur und Burgenbruch in Frage gestellt. Der Historiker Wilhelm Oechsli (1851–1919) formulierte auf dieser Grundlage im Jahr 1891 in offiziellem Auftrag des Bundes die Entstehungsgeschichte der Eidgenossenschaft neu und legte damit die Basis zum heutigen Bundesfeiertag. Sein Fachkollege Karl Meyer (1885–1950) fügte dieses Bild schliesslich vor dem Hintergrund der äusseren Bedrohungen im 20. Jahrhunderts wieder mit der traditionellen Befreiungsgeschichte zusammen.1

      Die Geschichtsforschung der letzten Jahrzehnte hat zu Recht betont, dass die heutige Schweiz auf der Basis des Bundesstaats von 1848 steht und dieser in den Jahrzehnten zuvor und nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Ideen der Aufklärung und der französischen Revolution entstanden ist. Dies ist zweifellos richtig. Und dennoch gibt es die ältere eidgenössische Geschichte, die sowohl für die Revolutionäre der Helvetik 1798, die Bundesstaatsgründer von 1848 wie auch für ihre Nachfolger als identitätsstiftende Vergangenheit von grosser Bedeutung war. Und ältere eidgenössische Geschichte bleibt trotz allem ein Abarbeiten am Kern, an der Entstehungsgeschichte der Waldstätte, ein wichtiger, wenn auch nicht der einzige Ursprung der späteren Eidgenossenschaft. Dabei darf nicht eine Geschichtsbetrachtung Pate stehen, die aus den Anfängen eine Vorherbestimmung der künftigen Entwicklung macht. Der «Erfolg» der Eidgenossenschaft stand immer wieder, bis ins 18. Jahrhundert, auf der Kippe. Die Geschichte der Entstehung der Eidgenossenschaft ist auch keine Geschichte der Schweiz in ihrem heutigen Raum, sondern eine Geschichte der von kommunalen Eliten und Körperschaften – Ländern und Städten – getragenen Bündnissysteme, die sich im Lauf des 15. Jahrhunderts zu einer auch von aussen wahrgenommenen Eidgenossenschaft verdichteten.

      Das Buch orientiert sich, chronologisch aufgebaut, an den traditionellen Daten und Ereignissen, die einer breiten Leserschaft bekannt sind, quasi dem eidgenössischen Festkalender. Chronologie ist nach wie vor ein roter Faden, der Orientierung stiftet und hilft, eine Entwicklung in ihren Zusammenhängen sichtbar zu machen. Einige wenige thematische Abschnitte ergänzen die Chronologie. Die Darstellung hat nicht den Anspruch, eine neue Erzählung zu formulieren, sondern lediglich den heutigen Stand des Wissens zu reflektieren.

      Als Kronzeuge und Stichwortgeber dient dabei die Schweizer Chronik von Aegidius Tschudi. Tschudi hat die Erzählung über die Entstehungsgeschichte der Eidgenossenschaft über Jahrhunderte geprägt und seine Geschichtskonzeption ist bis heute in breiten Bevölkerungsteilen verankert. Deshalb wird den einzelnen Kapiteln ein kurzes Originalzitat aus dem Chronicon Helveticum vorangestellt, anschliessend kommentiert und in den Zusammenhang des heutigen Wissens gestellt. Tschudis Chronik endet 1470. Für die Zeit danach dient das Werk des Zürcher Geschichtsschreibers Johannes Stumpf, Informant und Nutzniesser von Tschudis Arbeiten, als roter Faden. Stumpfs Chronik hatte in der gedruckten Form eine weitere Verbreitung als diejenige von Tschudi und eine grosse Bedeutung für die Verankerung dieser Erzählung.2

      Das Buch ist den Forschungen der letzten 50 Jahre verpflichtet, insbesondere den Arbeiten von Marcel Beck, Hans Conrad Peyer, Peter Blickle und Guy Marchal und deren Schülerinnen und Schülern. Eine eigentliche, weit unterschätzte Schweizer Geschichte des Mittelalters hat Bernhard Stettler in seinen Einleitungen zur Tschudi-Edition und in seinem Buch zur Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert vorgelegt. Seine Basis und die neuesten Forschungen von Roger Sablonier und seinem Umfeld insbesondere zur Überlieferungsgeschichte ermöglichen es, einen aktuellen, kurz gefassten Abriss der Entstehungsgeschichte der Eidgenossenschaft neu zu schreiben. Und als Echoraum dient das Historische Lexikon der Schweiz, das als Nachschlagewerk unentbehrlich ist.

      Die Geschichte beginnt nicht mit dem Bundesbrief von 1291, sondern in der Mitte des 15. Jahrhunderts. Wieso dies so ist, wird bei näherer Auseinandersetzung mit eidgenössischer Geschichtsschreibung schnell klar: Es ist die Zeit, in der sich die eidgenössischen Bündnisse verfestigten und sich die Eidgenossenschaft eine eigene Vergangenheit zurechtlegte.

      Lucern und Zug tatend den österrichischen vorbhalt uss den pünden und satztend das römisch rich an die statt.

      […] Also wurdent die selben püntzbrief [Bündnisbriefe] förderlich als umb so vil alle geendert, dann die selben ort durch redilich ursachen und kriegsrecht ze friden und richtungen etwa menig mal kommen, das si der herrschafft Österrich nichtz mer pflichtig noch angehörig sind. Man sol ouch nit meinen, das die selben ort muotwillig vorziten sich von ir herrschafft abgeworffen habind, dann si ire pündt anfangs allein gemacht vor gwalt und unbill sich ze retten, und ir herrschafft darinn heiter vorbehalten der selben alle pflicht und dienst ze leisten und ze tuonde. Wie aber nachmals die herrschafft und dero amptlüt durch übermütige zwäng nüwrungen und ufsätze an lib und guot si witer wellen beschwären und bekümmern dann von recht sin sölte und si ze tun schuldig werind, ist der span ze langwirigen kriegen geraten und darus ervolget wie obstat. Deshalb ein eidtgnosschafft mit guten eren entsprungen […]. (Aegidius Tschudi, Chronicon Helveticum, nach Stettler 13, 2000, 49)

      Prolog:

      Eine neue Verbindlichkeit – die Beschwörung der Bündnisse nach dem Alten Zürichkrieg

      Man könnte in guten Treuen die Jahre nach 1450 als Gründungszeit der Eidgenossenschaft bezeichnen. «Also wurdent die selben püntzbrief förderlich als umb so vil alle geendert, dann die selben ort […] der herrschafft Österrich nichtz mer pflichtig noch angehörig sind.» Aegidius Tschudi beschreibt den Vorgang von Anfang Januar 1454, als die Gesandten der Städte Luzern und Zug auf einem «Tag» zu Sarnen – erst später bürgerte sich der Begriff Tagsatzung für solche Treffen ein – beantragten, dass der Vorbehalt habsburgischer Ansprüche in ihren Bündnissen aus dem 14. Jahrhundert gestrichen und an deren Stelle das Heilige Römische Reich gesetzt werden sollte. Als Folge davon wurden der Luzerner Bund von 1332, der Zürcher Bund von 1351 und der Zuger Bund von 1352 neu ausgefertigt. Die darin enthaltenen Verpflichtungen gegenüber der Herrschaft – Luzern und Zug waren Mitte des 14. Jahrhunderts habsburgische Orte gewesen – wurden getilgt, die alten Briefe vernichtet. Für Glarus erfolgte die Neuausfertigung dann 1474. Nur gegenüber dem Heiligen Römischen Reich sollten die Orte inskünftig Rechenschaft schuldig sein. Die Orte hätten aber die österreichische Herrschaft nicht mutwillig und unrechtmässig abgeworfen, argumentiert Tschudi. Die Herrschaft selbst habe sie durch Zwänge und Neuerungen dazu gezwungen. Daraus seien langwierige Kriege entstanden. Deshalb sei die Eidgenossenschaft «mit guten eren entsprungen» und damit auch rechtmässig.3 Diese Urkunden von 1454 nehmen heute einen prominenten Platz im Bundesbriefmuseum in Schwyz ein.

      Am 24. August 1450 waren in Einsiedeln nach dem Friedensschluss im Alten Zürichkrieg die alten Bünde neu beschworen worden, nicht einfach als Bestätigung des Bisherigen, sondern als neuer Bündnisverbund. Der Schiedsspruch des Berner Schultheissen Heinrich von Bubenberg zugunsten der eidgenössischen Seite und gegen Zürich, das sein Bündnis mit Habsburg-Österreich aufgeben musste, hatte den Boden dazu geebnet. Damit bekam das eidgenössische Bündnissystem, das bisher nicht festgefügt war, aus oft unterschiedlichen Vertragsparteien bestand und grundsätzlich offen für Bündnisse gegen aussen war, eine Ausschliesslichkeit, die neu war. Zürich hatte sein Zusammengehen mit Habsburg-Österreich im Jahr 1442 noch damit begründet, dass es als Reichsstadt frei sei, mit dem König, der seit 1438 wieder ein Habsburger war, ein Bündnis einzugehen, ohne den Bund von 1351 mit den innerschweizerischen Orten zu entwerten. Das Land Schwyz hatte konträr argumentiert und auf der Ausschliesslichkeit der Bünde beharrt. Insbesondere hatte die Ansicht, dass Habsburg-Österreich seit alters der Feind der Eidgenossen sei, zumindest in der Innerschweiz bereits eine starke Tradition. Die Orte hätten sich in der Zeit nach 1300 gegen Habsburg-Österreich gewandt. Diese Lesart der Entstehung der Eidgenossenschaft war Mitte